73. Rauchpause

 

Sie sind verloren in ihrem Spiel, die Schwester sagt etwas zum Bruder. Die Eltern sitzen auf der Wippe. Eines der Kinder ruft: Wir sind gleich da. Die Mutter ist weit über ihnen. Der Mann auf der schweren Seite zündet sich eine Zigarette an. Spielt nur, sagt er zu den Kindern.

Die Frau, der Mann und die Kinder bilden die Eckpunkte eines in den Raum gestellten Dreiecks,

Der Vater arbeitet als Gerüstbauer. Jeden Tag montiert er Dreiecke an die Fassaden alter Häuser. An Geometrie denkt er dabei nicht. Er führt die Handgriffe aus, die man ihm gezeigt hat. Als er seine Frau kennenlernte, musste ihm niemand etwas zeigen. Sie bekamen die Kinder. Er lebt mit drei Menschen zusammen, die ihm viel bedeuten.

Feiner Rauch steigt entlang der Wippe nach oben. Der Mann schaut hinterher. Ihm fällt ein, dass der Junge Höhenangst hat. Seine Frau oben schaut in die Ferne.

Der Mann raucht langsam, löscht die Zigarette im Sand und verstaut die Kippe in der Jackentasche. Mit einem leichten Druck der Füße bringt er seine Frau auf den Boden zurück. Sie gehen mit den Kindern nach Hause, an irgendeinem Verbotsschild vorbei. 

 

 

 

74. Das kluge Kind

 

1

 

Beginnen wir die Geschichte in der Mitte. Es ist Nacht, ein ruheloser Mann sitzt am Tisch und schreibt. Aus alter Gewohnheit schreibt er zunächst mit der Hand. Er mag Papier und Stift, in gewisser Hinsicht passt das altmodische Procedere zu dem Thema, das er sich gerade gewählt hat. Der Mann heißt Cantian, in wenigen Jahren wird man ihm das Recht auf Altersrente zugestehen. Er schreibt in dieser Nacht über Legenden und kommt schnell von allgemeinen Betrachtungen zu einem ausgewählten Beispiel. Geplant war diese Arbeit keineswegs. Es hätte näher gelegen, wenn sich Cantian mit einem politischen Kommentar befasst hätte. Darauf kommen wir später zurück.

Am Abend jedenfalls hatte ihn eine junge Frau besucht. Einige Worte, die sie ihm beinahe beiläufig zur Verabschiedung sagte, hatten Cantian aufgewühlt. Letzten Endes konnte er sich nicht dagegen wehren, die Beziehung zu seiner Besucherin zu überdenken. Besser gesagt: Sie weiter zu denken. In eine Richtung, die ihm bis dato als sehr unangemessen und realitätsfern erschienen war. Er dachte und schrieb bis zum Morgen das Folgende:

 

2

 

Legenden sind einfach. Ein verwittertes Haus zum Beispiel oder eine herumstreunende Katze.. Zu dem Haus kann man viel erzählen, aber es reicht doch: Ein verwittertes Haus. Kann sein, dass die Katze dort schläft. Das wäre Zufall. In dem Haus, das Legende ist, befinden sich viele Dinge, denen wir keine Namen geben. Sie würden verschwinden.

Ein neunmalkluges Kind ist nichts Besonderes. Man kann es begründen wie den Anstrich eines Gebäudes. Das kluge Kind lässt sich nicht begründen. Es ist ja auch eine Legende. Wir glauben trotzdem, dass es von Menschen gezeugt und zur Welt gebracht wurde. Letzter Umstand erscheint wichtig in der passiven Formulierung. Das Kind kam nicht zur Welt. Es wurde gebracht. Dennoch hat es Eltern aus Fleisch und Blut. Blutjung ist die Mutter, bedeutend älter der Vater. Da mag manch einer die Stirn runzeln, heute eher als seinerzeit. 

Allerdings: In der Legende ist das Kind mehr als ein Kind, der Vater mehr als nur der Vater. Das Wort „Erzeuger“ mag in einem weiten Sinn treffender sein. Die Mutter ist das unbefangen in der Welt erwachende Wesen. Erblühte Natur, zu schade, um zerstörerischen Belastungen ausgesetzt zu sein. So denkt man von außen. Die Natur denkt aber anders. An wen soll die Schönheit sich nun wenden, wenn sie sich bestätigen will? Sie mag ahnen, dass dem Spiegel nicht zu trauen ist.

Die Älteren unterteilen sich in zwei Gruppen. Die einen verachten oder fürchten die Jugend, die anderen können jemandem sagen: Du bist schön und du wirst lernen und  das ist eine Linie, die zum Rand des Universums zeigt. Sie geht weiter, so wie sich das Licht ausbreitet. Jedes Ende verschwindet, wenn es vom Licht erreicht wurde. Auch das ist Natur.

So erkennen sich Vater und Mutter. Sie sehen sich im anderen. Dort sind die Konturen ihrer Zukunft und Vergangenheit. Oder hier? Hier und dort überdeckt sich. Eines zu werden ist Freude und ein Moment, der für sich selbst existiert.

Das kluge Kind weiß, dass seine Eltern glücklich sind. Sie sind nicht glücklich, weil das Kind so klug ist. Es ist genau umgekehrt.

 

3

 

Cantian ist ein Autor, der in jungen Jahren Propagandist war. Das wird er auf Nachfrage nicht bestreiten, allerdings dieses oder jenes hinzufügen. Je nach Stimmung. Vor einiger Zeit hatte er Besuch bekommen. Junge Menschen waren das, voller Unbehagen gegenüber vielem, was sich abspielte. In der Nähe und in der Ferne. Es ging ihnen nicht um das Wetter. Sie wollten kämpfen und wussten nicht, womit. Sie wussten nicht einmal genau, wogegen. Worte und Sätze suchten sie und fragten Cantian, ob er mitarbeiten könnte.

Der erste Artikel handelte von Lenins kleiner Wohnung im Kreml. Zu den weiteren Terminen kam nur noch ein Mädchen, für das sich Cantian den Kampfnamen „Genossin Anna“ ausgedacht hatte. Sie schien die Anrede zu mögen, stand lange vor Bücherregalen und amüsierte sich über die Krümel im altmodisch aufgebrühten Kaffee.

Unbescheiden ist, wer etwas verändern will. Das reichte. Jedenfalls, um Wohnungen zu erklären.

Da sie allein kam, begrüßten sich Anna und Cantian nunmehr mit der üblichen Umarmung. Mode, dachte Cantian, wenn er sie im Flur im Arm hielt. Schade, dass es nicht mehr ist. Anna bewegte sich vorsichtig. Sie versuchte, nirgendwo mit dem Rucksack anzustoßen, bis sie auf dem Tisch im Zimmer ihren Arbeitsplatz einrichtete.

Cantian hatte sie anfangs für jünger gehalten. Erstsemestergesicht. Tatsächlich war Anna mit ihrer Masterarbeit beschäftigt. Als er das erfahren hatte, dachte Cantian noch einmal nach. Als ob fünf Jahre etwas ausmachen würden. Es dauerte zwei, drei Minuten, bis ihr Notebook hochgefahren war. Anna schaute auf den Schirm. Cantian betrachtete ihr Profil, die Haarsträhne über dem Ohr, das matte Glänzen auf dem Brillenbügel. Es waren die Momente, in denen er sie für sich hatte. Kurz darauf setzte er sich gegenüber an den Tisch und griff nach Notizen oder ausgedruckten Seiten. Sie waren bei der Arbeit, die anderen Tage und gestern.

Rosa Luxemburg, sagte Anna zum Schluss. Sei mal spontan, Genosse!  Was fällt dir dazu ein?

Die Einsamkeit, sagte Cantian. Der Abstand. Die Fremdheit unter denen, die man aufrütteln will.

Anna hatte automatisch mitgeschrieben, sie waren ja eigentlich schon fertig. Jetzt dachte sie kurz nach.

Ja, sagte sie. Das nehme ich mal so mit.

Cantian sah den feuchten Schimmer hinter den Brillengläsern. Einmal schon hatte er sie so gesehen, als sie über eine verschwiegene Ex-Terroristin gesprochen hatten. Er brachte sie zur Tür, nach der Umarmung war Anna schon an der Treppe, als sie sich noch einmal umdrehte.

Ich hab dich lieb, Genosse.

So sprach sie und war verschwunden.

 

Gestern. Cantian konnte nicht schlafen. Der Satz hielt ihn wach. Er schrieb einen Text, der von einem klugen Kind handelte und in dem  Rosa Luxemburg nicht vorkam.

 

 

75. Anämie

 

Es war schwierig, Blut zu finden. Die Schwester wählte schließlich eine deutlich geäderte Stelle am Handgelenk. Lorentzen beobachtete aufmerksam ihre Handgriffe. Als Blut in ein Glasröhrchen floss, suchte er nach einem Namen für die Farbe. Er fand „blassrot“, ein Wort, das es (wie er später feststellte) nicht einmal im philatelistischen Farbenführer gab. Trotzdem schien ihm, als ob sich das Wort auf die Klinik bezog. Blassrot wie Zahnputzwasser. Die Menschen liefen auseinander und trafen sich eher zufällig wieder.

Jeder bewegte sich nach einem individuellen Therapieplan. Alle laborierten an den Folgen einer orthopädischen Operation. Knie, Hüfte und Schulter. So konnte man sie unterteilen.

Vier Personen hielten sich am Vormittag im Schwimmbad auf. Lorentzen kam aus der Dusche und stand am Rand des Beckens.

„Du darfst erst rein, wenn jemand da ist“, sagte eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um.

„Die kommen aber immer ein bisschen zu spät. Zwei oder drei Minuten. Deswegen gehe ich schon vorher rein. Kann ja nichts dafür, wenn die trödeln.“

Lorentzen setzte sich neben ihn auf die Stufe der gefliesten Ablage, zwischen Bojen, Bällen und Luftkissen.

Sein neuer Bekannter war deutlich übergewichtig. Er klatschte mit den Händen auf die nackten Hüften.

„Beide Seiten“, sagte er.

 

„Was war los?“, fragte Lorentzen.

„Hüftnekrose. Das Knochengewebe war abgestorben.“

Lorentzen musterte ihn beklommen. War an dem Mann noch irgendetwas am Absterben? Kein schöner Gedanke.

Der Nachbar schaute auf die Hallenuhr und erhob sich.

„Ich jedenfalls geh jetzt rein.“

Er planschte ausgesprochen vergnügt.

Ein Physiotherapeut erschien in Shorts und dem T-Shirt der Klinik. Auf der gegenüber liegenden Seite des Beckens erhoben sich zwei Patienten. Der Therapeut widmete dem planschenden Mann einen mild ermahnenden Blick. Lorentzen begab sich mit den anderen ins Wasser.

Der Bademeister sprach mit slawischem Akzent. Er begann, sich im Storchengang zu bewegen. Die Männer versuchten im Wasser dasselbe.

„Sind sie aus Polen?“  fragte jemand.

„Aus Belorussland.“.

„Ich bin nämlich in Breslau geboren“, erklärte der Patient.

„Ja“, sagte der Bademeister und warf Gummischlangen ins Wasser

 

In Lorentzens Therapieplan gab es jeden Tag zwei Blöcke von 30 bis 45 Minuten für das Training an verschiedenen Maschinen. Ein großer Raum war damit vollgestellt. Eine Physiotherapeutin erklärte die Handhabung der Geräte. Sie sollten Muskeln, Gefäße und Sehnen wieder in Ordnung bringen. Alles, was Schaden genommen hatte. Das lässt sich nicht vermeiden bei der Implantation eines Gelenkes.

Lorentzen stand auf dem Rüttelbrett, einer Vorrichtung zum Training des Gleichgewichts. Die Koordination befand sich in Wechselwirkung mit der Tiefenmuskulatur. Das Brett rüttelte und Lorentzen hielt die Füße eng beieinander. In dieser Stellung bewegte er sie parallel nach der einen und der anderen Seite. Ihm schien, als ob er durch den Rhythmus in leichte Trance geriet. Sein blassrotes Blut füllte einen kleinen Teich. Man konnte bis auf den Grund sehen. Am Rand des Teiches standen Menschen, die aussahen wie Röntgenbilder. Die künstlichen Gelenke spendeten ein fabelhaftes Licht. Lorentzen war so beeindruckt, dass er erst nach einer Weile die Schwester von der Blutabnahme bemerkte.

„Können Sie mich verstehen? Sie bekommen eine Eiseninfusion.“

 

Der Arzt fand es passend, dass sein blutarmer Patient zu einem Seminar für  Lebensmittelchemie musste. Dort saß Lorentzen und notierte einige Stichpunkte:

Mineralwassertabellen

 

Sekundenschlaf

Vitamin D & Vitamin K

Sonne, Mond

Brüche der Ahnung

Ahnung der Brüche

Metabolische Vermeidung.

 

Im Halbschlaf hörte er, dass sich luzide Träume trainieren lassen. Das war aber keine Frage der Chemie. Hier endete das Seminar und Lorentzen ging zurück in den Trainingsraum. 

 

Auf dem Rüttelbrett stand eine korpulente Frau in engen Leggins. Sie übte, was auf diesem Gerät geübt werden sollte. Seelenruhig zog sie das linke Bein hoch und verlagerte ihr zitterndes Gewicht auf die rechte Seite. Die Leggins hielten. Die Frau kontrollierte ihr Standbild im Spiegel.

Lorentzen war beeindruckt und spürte deutlich, dass die Infusion noch nicht wirkte. Allerdings hatte ihm der Arzt als Pluspunkt verbucht, dass er kein Besitzer eines modernen Smartphone war. Der Doktor berichtete, dass der häufige Gebrauch smarter Telefone zu  Knochenveränderungen am Schädel führen würde. Das war wohl etwas überspannt. Lorentzen  hörte es trotzdem gern. Lange war er nicht gelobt worden.

 Die Mittagsmahlzeiten kamen von einem Lieferanten. An der Wand des Speiseraums hing  eine Urkunde, auf der die Qualität des Essens bestätigt wurde. Es erfüllte verschiedene Normen und Vorgaben. Das galt für alle Angebote im Haus, vom Schwimmring bis zur Chefärztin. Sie war nicht promoviert. Das konnte auch vermitteln, dass sie sich mehr für die Patienten als für ihre Karriere interessierte.

Lorentzen ging nach dem Essen zur Reizstrombehandlung und anschließend in die kleine Lehrküche der Klinik. Auf dem Plan stand ein Kochkurs, für den er beim Aufnahmegespräch Interesse geäußert hatte. Der Kurs wurde von einer Diätköchin geleitet. Außer Lorentzen nahm nur noch die Frau vom Rüttelbrett teil. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. Sie stellten einen Brotteig her. Lorentzen putzte Gemüse. Dieses Gemüse sollte in Mineralwasser gebraten werden. Die Köchin wünschte sich das Gemüse sehr klein geschnitten. Zwiebeln, Tomaten, Knoblauch, Paprika, Champignons und Artischocken. Fenchel auch noch. Das geputzte Zeug kam in einen Topf. Es war ein schöner Haufen. Gelegentlich kontrollierte die Köchin und nahm ein Stück wieder raus, das ihr nicht klein genug war. Lorentzen hatte zwei ausgesprochen scharfe Messer. Ohne Schmerz zu empfinden wusste er plötzlich, dass er sich geschnitten hatte.

Einige Zwiebelstücke bekamen eine rötliche Färbung. Er suchte nach einem Taschentuch. Die Diätköchin wühlte im geputzten Gemüse. Ihr Blick wurde hektisch.

„Haben Sie sich geschnitten?“, fragte die Köchin sehr deutlich.

„Es kann nichts Schlimmes sein“, sagte Lorentzen..

Das Taschentuch auf seiner Hand verrutschte. Aus einem unsichtbaren Schnitt quoll ein Tropfen dunklen Blutes. Die beiden Frauen starrten entsetzt.

„Das muss versorgt werden“, erklärte die Köchin. „Ich bringe sie zum Schwesternzimmer.“

„Den Weg finde ich allein.“

Die Köchin schüttelte den Kopf.

„Vorschrift. Kommen Sie.“

Die andere Kursteilnehmerin nickte erleichtert.

„Ich kümmere mich um das Brot.“

 

Im Treppenhaus durchtränkte der rote Tropfen das Taschentuch. Unten traf Lorentzen auf die Schwester, die ihm bereits am Morgen Blut abgenommen und sich später um die Infusion gekümmert hatte. Sie entfernte das Taschentuch und säuberte die Finger. Neues Blut erschien auf der Haut, durchaus nicht mehr die blassrote Flüssigkeit der morgendlichen Entnahme.

„Wo das bloß herkommt“, sagte die Schwester.

Sie drückte eine Kompresse auf den Tropfen und legte einen Verband an.

„Fertig. Das Eisen wirkt üblicherweise erst nach der vierten Infusion. Gleich links ist der Fahrstuhl.“

Lorentzen verzichtete auf den Fahrstuhl. Langsam und ohne Nachziehen der operierten Hüfte ging er nach oben. Dunkles und zähes Leben war in ihn

geraten. Wo mochte das hergekommen sein?

Es fiel ihm schwer, an die Wirkung von Maschinen und Vorträgen zu glauben. Gestern hatte ihn sein Laufzettel zu einer Lymphdrainage geschickt. Der Flüssigkeitstransport auf der linken Seite seines Körpers sollte durch manuelle Massage verbessert werden. Die Therapeutin begann mit ihren Griffen unter dem Hals und wanderte dann abwärts. Lorentzen hätte gern ein Gespräch mit ihr geführt, aber sie sprach kein Deutsch. Die Bewegungen ihrer Hände waren ein geradezu zärtlicher Vorgang, verträumt und voller bewusstloser Routine.

Das Treppensteigen fiel Lorentzen leichter. Seit gestern verspürte er kein taubes Gefühl mehr im linken Fuß.

Oben hatten die Frauen einen kleinen Tisch gedeckt.

 

„Da sind Sie ja wieder.“

Die Freude der Köchin hielt sich in Grenzen.

„Sie können noch Frischkäse unter das Gemüse rühren.“

In der Pfanne lag das Gemüse in einer blubbernden Flüssigkeit. Tomaten, Paprika und Gewürze gaben dem Mineralwasser eine karminrote Färbung. 

Neben der Pfanne stand ein Becher mit fettfreiem Frischkäse.

Lorentzen hielt den offenen Becher schräg über die Pfanne und rührte mit einem flachen Holzlöffel. Die Flüssigkeit wurde heller. Er hörte auf, als er das blasse Rot des Morgens vor sich sah.

„Wir können verkosten“, sagte die Köchin.

 

 

76. ‘Round midnight oder Die Sprache des Kampfes

 

 

 

Abgenagt bis auf die Knochen. Die Überreste des halben Hähnchens lagen auf einem Pappteller, den niemand abräumte. Das sollte der Gast wohl selber erledigen. Oder einfach gehen. Ich wollte noch bleiben. Durch die halboffene Tür fiel gelegentlich das Licht eines Autoscheinwerfers auf den gefliesten Boden. Ich sah für Sekunden Bruchstücke eines Ornaments, das die Fliesen bedeckte. Es musste ein großes Ornament sein, ich bekam es nie vollständig zu Gesicht. Vermutlich interessierte sich tagsüber niemand für diesen Fußboden. Erst nachts spiegelten die Fliesen eine schwer zu lesende Botschaft. Ein Motiv oder einen Grund dafür, diesen Fußboden anzustarren.

Einige Takte Saxophon und Klavier. Irgendwo im Raum gab es jemanden, der die Arbeit machte und hin und wieder Musik auflegte. Diese Menschen waren immer für eine Überraschung gut. Weltenbummler, die Geld für ein Flugticket brauchten. Ewige Studenten mysteriöser Kulturwissenschaften. Sie hörten Musik, die man nicht erwartete. Diesmal war es Thelonius  Monk.

Monk, der Pianist, hatte ein Motiv. Ich erkannte es im Dunkel. Die Musiker begannen zu improvisieren. Das Stück hieß „‘Round midnight“. Es war eingängig und schräg, ein Haufen Hühnerknochen, eine Romanze. Ziemlich alt, aus den 1940-ern, aber Jazzmusiker, die auf sich hielten, hatten die  Nummer noch immer im Kopf. 

Ich will nicht behaupten, dass ich Monk erst jetzt verstand. Bei Monk gab es nur zwei Möglichkeiten. Man verstand ihn von Anfang an, oder man verstand ihn überhaupt nicht. “Von Anfang an“ bedeutete aber nicht, dass man sich darüber im Klaren war. Der Anfang kam vor der Musik.

Auf der Straße versuchte ein Auto einzuparken. Unruhiges Licht flackerte über die eine oder andere Fliese. Monks Motiv war die zerfranste Mitte eines abgeschabten Teppichs. Für den, der einmal damit geflogen war, reichte das aus. Er spürte ein geisterhaftes Schweben. Der Teppich über dem Nebel einer Mülldeponie.

Schließlich entdeckte ich den Abfalleimer. Ich schmiss die Hühnerknochen hinein und ließ mir einen Becher Kaffee geben.

Bei seinen Auftritten trug Monk schwere Ringe an den Fingern. So sehr hatte ihn der Müll geprägt. Ringe, Heroin und korrekte Anzüge. Er stellte hohe Gagenforderungen. Er war unzuverlässig.

Es ist lange her, dass ich mit dem Teppich geflogen bin. Als Kind funktionierte das manchmal. Ich wühlte im Keller oder auf dem Dachboden herum. Später ging ich zu Fuß. Das machte ich jetzt auch.

Es war egal, welche Richtung ich einschlug.

Ich würde ein steingemustertes Karree abschreiten und wieder hier ankommen. An der Strecke lagen zwei Spätverkaufsläden, ein Internetcafé, ein Bordell, zwei Bushaltestellen und ein Buchladen, der sich „sozial“ nannte. Vor dem Buchladen stand manchmal ein Karton mit Büchern, die jemand loswerden wollte. Der Gedanke daran erzeugte in mir eine gewisse Spannung. Die Nacht verbarg ihre Schätze, aber die Trinker vor dem ersten Spätverkauf hatten aufgehört, zu suchen. Sie hatten sogar den Wunsch verloren, gefunden zu werden. Eines der Gesichter war vollständig tätowiert. In dem kargen Licht vor dem Laden sah es aus wie ein schwarzer Fleck. Ein schwarzer Fleck mit hellen Augen, der sprechen konnte.

„Guten Abend“.

Ich nickte ihm zu und wusste nicht, was ich wollte. Hinter dem Verkaufstresen stand niemand. Als ich mich auf der rechten Seite umsehen wollte, stolperte ich beinahe über ausgestreckte Beine. Der Mann dort lag auf dem Rücken, neben den Konservendosen. Unter dem Rücken befand sich eine Rolle, auf der er sich hin und her schob.

„Die Schmerzen ziehen in den Unterbauch“, erklärte der Mann.

„Woher sie kommen, weiß man nicht. Sie schnüren mich ein. Manchmal wandern sie in die Füße. Dann sind meine Zehen taub. Es kommt auch vor, dass sie nach oben strahlen. Ein Stechen bis in die Schulter.“

„Verkaufen Sie hier?“, fragte ich.

„Ungern. Wollen sie ein Paket abholen?“

„Nein. Ich wollte ein,. . . ein Päckchen Kaffee.“

„Im Regal hinter ihnen. Unten rechts.“.

Ich fand ein Päckchen und ging zum Tresen.

„Legen Sie neun Euro auf den Tisch. Ich bin noch nicht fertig mit meinen Übungen.“

Das Geld hatte ich passend.

„Danke“, sagte er. „Diese Rolle soll helfen. Allerdings nimmt der Schmerz dann eine andere Richtung. Es fühlt sich an wie eine Gallenkolik. Obwohl ich keine Galle mehr habe. Trotzdem können sich Steine bilden. Diese Steine wiederum. . .“

Ich ging schnell an den Trinkern vorbei.

„Bleib gesund“, sagte der schwarze Fleck. 

 Für das Kaffeepäckchen hatte ich keine Tasche. Unter der nächsten Laterne warf ich es in die Höhe. Beim Fangen war ich unsicher. Ich übte einige Male. Kinder warfen Bälle gegen Hauswände, um das Fangen des zurückprallenden Balls zu üben. Sie machten das spontan, ohne irgendeinen Plan. Schließlich fiel das Päckchen in den Dreck. Ich hob es auf, wischte es mit einem Taschentuch ab und ging vor die Tür des Bordells. Dort stellte ich den Kaffee ab und drückte auf den Klingelknopf. Die Hände waren wieder frei. Ich ging weiter.

Kein Ziel, keine Erschöpfung. Ein Karree ist ein Kreis mit Ecken. Das klingt blödsinnig. Ich könnte es einer vermummten Gestalt erklären, falls sie plötzlich vor mir auftauchen und meine Brieftasche verlangen würde.

Ich kam von der Stelle, die ein Punkt war auf dem Rand eines eckigen Kreises.

Mit einer bestimmten Geschwindigkeit ließ sich die Erdanziehung überwinden. Ich kannte aber keinen genauen Wert, diesem Karree zu entkommen. Die Fahrer der Nachtbusse schafften es auch nur bis zum Betriebshof. Die Straßen, auf denen sie fuhren, wurden gelegentlich aufgerissen. Ich stolperte über ein liegengebliebenes Umleitungsschild.

Es blieb rätselhaft, worauf sich dieses Schild einmal bezogen hatte. Ich umging es, um zu dem Bücherkarton zu gelangen. Im Halbdunkel waren grellbunte Prospekte und bunte Buchumschläge gut zu erkennen. Ich wurde mutlos. Trotzdem wühlte ich mit einer Hand zwischen den Papieren im Karton. Ich zog eine Broschüre heraus, die wenigstens nicht bunt war, sondern nur weiß.

Auf dem Titelblatt stand mit schwarzen Buchstaben ein fremdsprachiger Titel. Ich ging zur Bushaltestelle. Ins Licht.

KARATE-SZÓTÁR.

Im hinteren Teil der Schrift gab es Zeichnungen, die einen Mann im Kimono in verschiedenen Positionen zeigten. Das Buch übersetzte die Fachbegriffe eines Kampfsports aus dem Japanischen ins Ungarische. Ich las einige Worte in zufälliger Reihenfolge.

Chikara halalos kurabe talalat.

Ich las noch etwas mehr.

Empi uchi oldalra ushiro befelé.

Existierte ein Text für „‘Round midnight“? Ich versuchte, mich an das Thema zu erinnern. Der Nachtbus hielt. Die Türen öffneten sich. Der Fahrer schaute zu mir und schüttelte mit dem Kopf.

Guruma a hatul gohon mesterkata.

Der Bus fuhr wieder ab. Ein Mann war ausgestiegen. Ich bemerkte ihn erst, als er mir etwas mitteilte.

„1981 in Debrecen. Da wurde ich Vize-Europameister im Judo.“

„So ein Zufall aber auch“, sagte ich.

„Das war kein Zufall. Hartes Training war das.“

„Entschuldigung.“

„Schon gut. Dein Gebrabbel hat mich drauf gebracht.“

„Die Sprache des Kampfes.“

„Ja.“ Er lachte. „Kann man so sagen. Die Schulter ist kaputt seitdem. Mach nicht mehr so lange.“

„Bestimmt nicht.“

Wir wählten verschiedene Richtungen. Ich fühlte mich weniger apathisch nach dieser Begegnung. In meiner Kindheit war es wichtig gewesen, über Sport Bescheid zu wissen. Wenn man jemanden kannte, der irgendwo eine Medaille gewonnen hatte, war man fast genauso berühmt. So gesehen kam meine Bekanntschaft mit dem Judocrack reichlich spät.

Das Schicksal vertauschte manchmal die Reihenfolge. Ich gelangte zum zweiten Spätverkauf. Er war geschlossen. Ein Schild hing an der Tür, das ich in der Dunkelheit nicht lesen konnte. Ich ärgerte mich ein wenig. Worüber eigentlich? Es spielte keine Rolle, ob dieser Laden geöffnet war. Oder doch: Manchmal ließ der Inhaber sehr lange den Zeitungsständer draußen. Dann blieb ich stehen und überflog die Schlagzeilen. Diesmal hatte ich etwas zum Lesen bei mir.

„Wieder da?“ fragte der Mann mit dem tätowierten Gesicht.

„Ich hab was vergessen.“

„Soll vorkommen.“

Der Verkäufer lag immer noch auf dem Fußboden. Ich schlug das weiße Heft auf.

„Ich habe hier einige Sprüche aus einer asiatischen Schmerztherapie. Speziell für verletzte Kampfsportler.“

„Diese Schmerzen“, sagte der Verkäufer. „Ich kann mich nicht bewegen. Das ist eine traumatische Lumbalstenose. Vor Jahren hatte ich einen Unfall. Dabei hat sich. . . “

Ich begann, laut zu lesen.

„Jo magas jigoro kano sportolo. Kaiten forgas kakato sarok. Uchi sujtas basami ollozo. Behatolas kekomi ellentamadas mizu. Make szandek mikatsuki oldali. . .“

“ So ein Schwachsinn.“

Der Verkäufer stand auf. Er hielt sich nirgendwo fest.

„Möchtest du was mitnehmen?“

„Schon gut.“

Der Hühnerknochenimbiss lag auf der anderen Straßenseite. Für einige Minuten blieb ich in der Mitte der Straße stehen. Einige Autos fuhren an mir vorbei. Ich dachte über das Fußbodenornament nach. Eine Herausforderung. Vielleicht war jetzt das Licht besser. Also machte ich die paar Schritte und war wieder dort, wo ich vorhin schon gesessen hatte. Thelonius Monk spielte nicht mehr. Ich schaute genau hin; es gab keine eckigen Kreise auf dem Fußboden. Die hatte ich nur auf dem fliegenden Teppich gesehen.

 

 

77. Die Mörderin

 

Sie war klein, einige Zentimeter unter dem Durchschnitt, und sah ihn also von unten an. Eine Welt großer Menschen, Bäume, zwischen denen man sich verlief, den Kopf stets neben irgendeiner Schulter. So war es wohl für sie.

Haffroth fühlte sich nicht besonders wohl. Er hatte dieses Treffen initiiert. Der Blick von unten war erwartungsvoll. So war er auch vor zwanzig Jahren gewesen, als sie ihn umbrachte. Anscheinend wusste sie das nicht mehr.

Er hatte Konzertkarten in der Tasche. Damit war vielem abgeholfen. Ein Konzert ist, je nach Situation, ein erweiterter Handlungsspielraum oder ein eingeschränkter. Für Haffroths Vorhaben war es das Richtige.

Sie tranken Kaffee an einer Bar im Konzerthaus. Vor der Vorstellung war es ruhig. Einige Worte über die Architektur. Haffroth ging raus und kaufte zwei Programmhefte. Sie überflogen den Text. Ein Oratorium über das Leben. Der Dichter widmete sich der Geburt und dem Sterben und all den Dingen dazwischen. Deswegen war es ein recht langes Oratorium.

Haffroth dachte, dass die Musik realer sein würde als seine Anwesenheit. Natürlich war das anders gewesen, als er noch lebte. Da trafen die Töne die Haut, und die Nerven gaben sie weiter. Sie gelangten in den Kopf und trafen sich selbst.

Während der Orchestereinleitung brachte sich Haffroth Einzelheiten seiner Auslöschung in Erinnerung. Im wörtlichen Sinn. Er musste irgendwo antanzen, es ging um die Löschung seines Namens aus einer Verfügungsermächtigung. Sie war höflich gewesen und lächelte. Ihm wurde schwindlig vor Hass und Ekel. Ihn ekelte an, sie jemals begehrt zu haben. Ihn ekelte an, sie vielleicht immer noch zu begehren. Er betrank sich in einer Kneipe, in der man am späten Vormittag damit beginnen konnte. Die mürrische Wirtin hustete in ein Taschentuch und sagte gelegentlich: Ja, ja. Sie hatte keine Angst vor untoten Gespenstern. An der Wand hing eine Uhr, die rückwärtsging. Haffroth fühlte seine Auflösung.

 

Manche ziehen in den Krieg. Wortloser Schlachtenlärm. Der Rauch, das aufgerissene Fleisch. Besser, als durch ein Lachen zu sterben oder die Bewegung einer Handfläche. Unwürdig ist das. Jemand kauft diese verreckenden Seelen, damit sie gegenseitig ihre Körper zerfetzen. Verstümmelt sind sie schon bis zur Unkenntlichkeit.

 

Er schaffte es zum Bahnhof, fuhr irgendwo hin, nahm ein billiges Hotelzimmer. Dem Hotel musste es schlecht gehen, sie hätten ihn sonst weggeschickt. 24 Stunden später wachte er in einer anderen Stadt in einem anderen Hotelzimmer auf. Er führte ein Telefonat und beschrieb sich als krank. Ein Klinikaufenthalt sei notwendig.

In Wirklichkeit war er tot gewesen. .

 

Vorn sang der Chor eine erhebende Passage. Der Dirigent trug einen altmodischen Frack. Die Hände gaben exakt die Einsätze für die Stimmen. Das Orchester folgte seinen Blicken.

Wieso, fragte sich Haffroth, denke ich, dass seine Augen lebendig sind? Ich sehe sein Gesicht nicht. Ich weiß es. So wie ich weiß, dass ich seit zwanzig Jahren nicht mehr am Leben bin.

Chor und Orchester waren an jenen Punkt gelangt, an dem es für Haffroth vorbei gewesen war. In der Mitte des Daseins, wenn man so will. Eine Pause wurde angesagt. Haffroth und die Frau gingen vor das Konzerthaus. Er fragte sich, wie sie es damals hatte schaffen können. Klein und adipös stand die Mörderin vor einem Bauzaun. Alles an ihr, was Begehren hätte wecken können, war verschwunden. Damals hatte es gereicht, dachte Haffroth. Es hatte gereicht, um eine einigermaßen glaubhafte Affäre anzetteln zu können. Das große Gefühl als Tarnung. Ich liebe ihn statt Ich will dich umbringen.

Das Signal zum Pausenende. Die Mörderin suchte die richtige Tür zum Parkett. Sie fragte eine der jungen Frauen in den dunklen Kostümen des Hauses. Es gab die Möglichkeit, bessere Plätze zu wählen. Die Mörderin ging vor.

Gab es eine Fluchtmöglichkeit damals? Haffroth entschied, dass in einer Verstrickung das Wort sich selbst erklärt. Der Saal wurde abgedunkelt. Der Dirigent hob den Arm.

Haffroth wartete einige Minuten.

Die Frau verfolgte den Text im Programmheft. Sie lächelte. Es war ein naives Libretto, gnädig vertont von einem großen Meister. Die Worte und die Musik schienen aus verschiedenen Welten zu stammen. Der Komponist, so glaubte Haffroth, hatte den Text nicht gebraucht für seine Lebendigkeit.

Die Hände neben ihm legten das Programmheft in den Schoß. Sie waren jetzt frei. Es war ein guter Moment. Ohne den Blick vom Dirigenten abzuwenden, suchte Haffroths linke Hand nach der rechten Hand der Mörderin. Er zog sie ein wenig herüber. Ihre Hand in seiner Hand. Einen Widerstand gab es nicht. Die Frau schaute kurz zur Seite und lehnte sich wieder zurück.

Das war sein Plan gewesen. Bis dahin. Er hatte lange versucht, sich daran zu erinnern, wie es wohl war, die Hand einer Frau in seiner zu halten. Seit zwanzig Jahren hatte er das nicht mehr gemacht. Er hatte von irgendwoher die Erinnerung an eine trockene Wärme.

 Angenehmes Kribbeln wie Vorfreude.

Umschließen und bewahren.

Haffroth wartete. Vorn ging die Arie der Altistin über in einen großen Festgesang. Tutti. Alle zusammen. Jetzt auch noch Waldhörner.

Soviel Bewegung, dachte Haffroth. Er bewegte seine Finger. Er bewegte sie mit der Musik. Er bewegte sie so, dass sie spürbar sein mussten für die Hand, die sie umschlossen.

Diese Hand blieb unbeweglich. Ruhig wäre wohl das falsche Wort gewesen. In der Ruhe steckte Leben. Diese Hand aber war schlaff. Klein, dick und schlaff. Haffroth musste leise lachen, als ihm ein Klischee durch den Kopf ging: Die Hand der Mörderin.

Das war sie. Haffroth hatte daran keinen Zweifel. Das Oratorium war noch nicht zu Ende, als die Hand aus seinen trommelnden Fingern glitt. Sie entzog sich ihm ohne Temperatur und innere Kraft, und Haffroth begriff, dass es die Hand einer Toten war.

.   

 

 

78. Der Brief

 

Als ob ich mitten im Atlantik eine Flaschenpost ins Meer werfe.

Die Sonne fällt ins Wasser, und nachher kommt sie wieder raus. Fische plätschern. Die Haie haben noch nichts mitbekommen. Mond und Sterne gibt es am Himmel, aber keinen Satelliten, der ein Signal von mir auffangen könnte. Ohne Sender geht das schlecht. Dafür habe ich auf meiner Nussschale ein Notizbuch gefunden, mit einem daran befestigten Schreibwerkzeug. Ein schlechter Scherz. Buch und Stift sind in Folie geschweißt. Eine leere Weinflasche rollt über den Boden. Hat die jemand ausgetrunken, bevor er sich über Bord fallen ließ? Ich stelle fest, dass die Flasche zwar leer, aber ordentlich verstöpselt ist. Der Kork macht einen soliden Eindruck. Ich bringe diese Dinge miteinander in Verbindung. Das Papier, den Stift, die Flasche und den Korken. Das ergibt: Flaschenpost.

Als ob ich mitten im Atlantik. . .

Die Wahrscheinlichkeit, darauf irgendeine Antwort zu bekommen, ist gering.

Immerhin größer als Null. Das weiß man, wenn man sich mal mit Quantenphysik beschäftigt hat. Ansonsten weiß man das auch. So wird das sein mit dem Brief. Auch wenn ich ihn als Email schicken könnte oder als Nachricht über einen Message-Dienst. Einer da, der andere dort. Außer Sichtweite. Es beginnt zu regnen. 

Ich versuche, die verkrusteten Sachen zu spülen. Salz von der Haut. Trinkwasser sammelt sich in leeren Konservendosen. Solange es ab und zu regnet, bleibt man am Leben. Das Leben soll ein Geschenk sein. Na gut. Es schenkt mir gerade viel Zeit, um über den Inhalt meiner Flaschenpost nachzudenken. Was soll man schreiben, wenn man ohnehin nicht zu retten ist? Das ist natürlich nur eine Seite des Problems. Wem soll man es schreiben? Das ist die andere.

Allerdings setzt diese Betrachtung voraus, dass es nur zwei Seiten gibt. Wappen oder Zahl. So etwas nennt sich binäre Logik. Das fällt mir selbst in dieser Situation ein, weil ich mal ein guter Schüler war. Momentan gibt es aber keine Zensuren. Deswegen gelingt meinem Gehirn der große Sprung. Es gelangt zur dritten Seite des Problems. Ich weiß ziemlich genau, wem ich schreibe, wenn ich schreibe. Genauso gut weiß ich, was davon zu halten ist: Als ob ich mitten im Atlantik. . .

 

Jedenfalls kann ich das Notizbuch vollkrakeln. Ich frage mich, ob dieses Notizbuch aus demselben Zeug hergestellt ist wie Badewannenbücher für Kleinkinder. Es geht nicht unter und reinbeißen darf man auch. Spezialanfertigung für Schiffbrüchige. Es bleibt die Frage, ob sich Seiten rausreißen lassen, um sie in die Flasche zu stopfen. Fange ich an zu delirieren? Schön wäre es ja.

Mit dem Wetter hatte ich bisher Glück. Eine leichte Brise bewegt das Boot. Ich hoffe, dass es nicht im Kreis schwimmt. Den kleinen Außenbootmotor schmeiße ich nur im Notfall an. Das spart Treibstoff. Außerdem ist völlig unklar, ob sich das Boot in die richtige Richtung bewegt, wenn es sich schneller bewegt. Was ist eigentlich die richtige Richtung?

Ich eröffne einen Debattierklub und verkörpere sämtliche Teilnehmer. In der Anmoderation wird kurz erklärt, wie ich in diese Situation geraten bin. Das war so: Ich befand mich mit einigen Menschen auf einem größeren Schiff. Eine Krankheit brach aus. Als einziger blieb ich gesund. Daraufhin argwöhnten die Kranken, dass ich an ihrem Elend Schuld wäre. Sie rafften ihre Kräfte zusammen, nötigten mich auf diese Nussschale und ließen sie von Bord. Alo-Ha-He. 

Ich schaute nicht zurück. Sie werden, tot oder lebendig, irgendwo angekommen sein. Das einzig Wichtige daran ist, dass sich unter ihnen jene Person befand, an die ich mich in meiner Flaschenpost wenden werde. So sieht es aus. Sie hatte keinen Mucks gesagt, als man mich von Bord schmiss. In dem schmal gewordenen Gesicht brannten wütende Augen.

Es ging ihr besser. Ich müsste sie abgrundtief verachten. Das schaffe ich nicht und verzeihe ihr diesen jämmerlichen Opportunismus. Ich versuche, die Gründe zu verstehen. Gleichzeitig bemühe ich mich, aus einem Stück Segeltuch ein provisorisches Sonnendach zu basteln. Beide Versuche sind erfolglos.

 

Soweit die Anmoderation. Die Sonne brennt. Das ist schlecht für die Haut und gut für den Stockfisch. In meinem Kopf stellt sich die Frage, ob jemand wirklich leben will, nur weil er versucht, sich am Leben zu halten. Das Erste ist ein philosophisches Problem, das Zweite ein technisches. Ich hatte auf meiner Schaluppe Angelzeug gefunden. Eine Teleskoprute, aufgerollte Angelsehne und kleine Bleistückchen, mit denen man die Sehne beschweren konnte. Vorn musste ein stabiler Haken angebunden werden. Das Stückchen Sehne direkt am Haken war etwas schwächer als der Rest auf der Rolle. Es würde reißen, wenn ein großer Fisch anbeißt, der mich ins Wasser ziehen könnte. Schließlich will ich den Fisch essen und nicht umgekehrt.

Ich versuche jetzt, zwei gefangene Fische haltbar zu machen. Mit der scharfen Kante einer Konservenbüchse kratze ich die Schuppen ab und schneide die Fische an der Bauchseite auf. Die Innereien schmeiße ich ins Meer. Der Rest soll trocknen. Mit Angelsehne binde ich die Fische an den Köpfen zusammen. So hänge ich sie auf die quer über die Bordwände gelegte Teleskoprute. Sie sind eine schreckliche Provokation. Ich habe Hunger.

In der Diskussionsrunde erkläre ich den erstaunten Gesprächspartnern etwas sehr merkwürdiges. Ich halte den Hunger besser aus, sage ich, wenn ich mir vorstelle, dass ich aus irgendeinem verrückten Grund die Frau aus dem Wasser ziehe, die mich verraten hat. Dann muss ich ihr etwas zu essen geben. Deswegen brauche ich einen Vorrat.

Warum hat sie dich verraten? fragt jemand.

Wozu dann die Flaschenpost? fragt ein anderer.

Ich denke angestrengt nach. Gelegentlich kühle ich mit dem Meerwasser meine Stirn.

Nun, sage ich: Sie hat den anderen mehr geglaubt als mir. Es kann auch möglich sein, dass sie mich loswerden wollte. Der Kapitän hatte ein Auge auf sie geworfen. Ein Trottel übrigens, der immer sehr schmuck aussah. Das schien ihr zu gefallen. Ist das etwa kein Verrat? 

Die Runde wirkt nicht sonderlich überzeugt. Ich sollte erklären, welches Schicksal uns auf dieses große Schiff verschlagen hatte. Gut.

Wir waren zusammen engagiert. Musikalisch war die Frau meine Partnerin. Allerdings ist das Wort „musikalisch“ schon etwas übertrieben. Gebucht waren wir als Duo für die Tanzmusik am Abend. Mein Job bestand vor allem darin, mit dem Keyboard MIDI-Files anzusteuern. Sie sang dazu. De facto war das Halb-Playback. Ich hatte mich gesträubt, so zu arbeiten, aber die Agentur bezahlte nur ein Duo. Keyboarder und Sängerin. So kamen wir zusammen. Jeden Abend war ihre Stimme das einzig echte, das im ballroom des Schiffes zu hören war. Der Kapitän in seiner abendlichen Galauniform begrüßte sie mit scheinheiliger Vertraulichkeit. Die Leute tanzten und machten sich nichts daraus, dass auf der Bühne auch ein Radio hätte stehen können. Sie nahmen das Falsche für echt und drehten die Köpfe nur zur Bühne, wenn die Sängerin eine ungewöhnliche Phrasierung wagte.

So kam es, dass ich ihr glaubte. Ich glaubte ihrem Lächeln und ihren Bewegungen. Der Glaube verwandelte sich allmählich in Gefühl. Nennt das, wie ihr wollt. Eines war aber klar: Die Wirkung, die sie auf mich hatte, war ihr selbst nicht bewusst. Darin bestand der Zauber. Ich hoffe, dass ihr der Verrat genauso wenig bewusst war. Ich hebe Nahrung auf für sie. Also zwangsläufig auch für mich.

Die Gesprächsrunde ist ergriffen. Jemand erinnert zögerlich an die Flaschenpost. Ich suche das Meer ab und denke an einen der Schlager, die sie abends sang. Zuneigung ist eine schmerzhafte Angelegenheit. Das Wort klingt schon wie eine gefährliche Schräglage. Zu-Neigung. Ich ertrage die wilden Attacken in meinem Bauch. Mit trockenem Mund formuliere ich flüsternd einen Brief. Unbedingt muss ich diesen Brief schreiben. Egal was sonst. Ganz langsam wiederhole ich den Anfang:

Als ob ich mitten im Atlantik eine Flaschenpost ins Meer werfe. . .

 

 

79. Resümee

 

Der Ton von Kindern, die sich begegnen. Klang eines Pendels,

das über sich hinaus schlägt. Immer von der falschen Seite ins Nichts. Es scheint, als ob Erkenntnis und Begehren die gleiche Quelle haben.

 

Der Maler streicht das Treppengeländer. Er singt mit dem Radio, falsch und gewissenhaft. Die Farbe ist ein helles Lila. Im Briefkasten liegt die Werbung einer Entrümpelungsfirma. Sie müssen jetzt warten, ich bleibe in der Wohnung. Ich werde bleiben, bis man mich in ein Krankenhaus bringt oder Heim oder gleich in die Kühlung.

Es ist eine Menge Zeug in meinen beiden Zimmern. Das kann nicht wegfliegen wie ein Papagei. Ich bemühe mich, einiges zu verkaufen. Das Zeug kann auch nicht reden. Trotzdem höre ich Stimmen. Die Handwerker sind im Haus. Einer hat vergessen, sein Radio auszuschalten.

 

Was man so träumt:

Eifersüchtige Bettler, gepunktete Kleider. Ein Jongleur, der in der Bahn Bewegungsabläufe trainiert. Er schmeißt nichts herum, er bewegt sich wie ein Pantomime. Vielleicht ist er ein Pantomime. 

Ihre Seele unter einem mentalen Trümmerfeld. Das klingt glamourös, wie farbiger Lack auf Kunststoff. Fingernägel, Augenbrauen. Ist das jetzt wichtig? Es geht um das Bleibende. Meinetwegen. Soll sie bleiben. Namenlos.

 Die Haare vor einem Vorhang. Ich halte meine Treue. Ein stummes zähes Band. Ein Versprechen, das niemandem gilt.

 

Im Radio läuft ein Lied, das ich kenne. Ich habe es selbst geschrieben. Wenn es noch einmal läuft und dann noch einmal, weiß ich, dass ich deliriere. Alles schon gehabt. Es kommt aber eine Moderation, ein Abgesang, ein Requiem auf eine populäre Kneipe, die zumacht. Das Lied hatte ich für die Eröffnung geschrieben. Graublaue Stunden. Das ist nicht der Zeitgeist. Der Zeitgeist macht ein Selfie mit bunten Bonbons. Die Sendung heißt „Adieu, Berlin“. Vielleicht deliriere ich doch.

 

Das andere Lied handelte von einem Hijacker, der aus Versehen einen Kollegen entführte. So zogen sie also dahin oder flogen oder irrten sich.

 

In der Umkleidekabine verschwinden das Zeug von der Stange und die Sachen am Körper. Ihr Begehren, sich zu bekleiden. Das Verlangen, sich auszuziehen. Die Erkenntnis, dass beides das Gleiche meint.

Ich habe ihr einmal den Mantel abgenommen. Am liebsten hätte ich mir den warmen Stoff auf das Gesicht gelegt. So einfach kann es sein. Sage ich als ihr Lehrer. Reden wir nicht über das Fach. Latein oder Geige spielen oder Innere Einkehr. Aber wie konnte ich mich unersetzbar machen? Darum ging es. Welches Geheimnis sollte ich ihr andeuten? Bis sich Erkenntnis und Begehren ineinander verstricken wie zwei Wollknäuel. In der Umkleidekabine fällt alles zusammen. Oder auseinander. Wo man nur einen Menschen ahnt, können zwei sein, die sich im Spiegel bewegen.

 

Es rüttelt an der Haustür. Nachts um zwei. Ich stehe im Treppenflur vor dem Radio. Meine Wohnungstür ist angelehnt. Im ganzen Mietshaus wohnt kein Mensch mehr. Überall Farbeimer, Werkzeuge, irgendwelche Fetzen.

„Mach auf!“

Vor dem Haus wartet Lukas. Die Klingelanlage ist schon lange still gelegt. Lukas war auch ein Schüler von mir. Irgendwo ist er ausgerissen. Ich öffne und wir gehen in die Wohnung.

„Kann ich hier einziehen?“, fragt Lukas.

Die Wohnung ist ein chaotisches Durcheinander von abgedeckten Möbeln, Kartons und Tapetenrollen. Zwei Wände sind aufgerissen. In einer Ecke liegt meine Schlafmatratze.

„Du bist im betreuten Wohnen.“

„Da will mich einer umbringen.“

„Ach was.“

Ich schaue ihn an. Man kann sich nie sicher sein. Die Rhetorik unter Verrückten ist schwer zu deuten.

„Okay. Du hast eine bipolare Störung. Gehört da neuerdings Verfolgungswahn dazu?“

„Der will mich wirklich umbringen.“

Das klingt eine Spur zu beleidigt. Lukas ist aufgeschwemmt von den Medikamenten. Darunter groß und kräftig. Die Polizei hatte ihre liebe Mühe. Es gehört schon was dazu, ihm zu drohen.

„Hier kann man leben“, schwärmt Lukas. „Allein. Im ganzen Haus allein. Lass mich hier einziehen. Ich will wieder Klavier üben.“

Das verspricht er, wenn er sich bei mir einkratzen will. Er schafft es aber nicht. Sitzt vor dem Klavier. Die Hände zittern. Wir haben einmal seine dreckigen Klamotten durchgewaschen. Als er noch Geld bekam, hat er seine Wäsche dort gekauft, wo sich auch die namenlose Frau einkleidet.

 

Es gab nicht nur Lukas und die namenlose Frau, obwohl das schon mehr als genug ist. Ich bin einmal eine Showtreppe hinunter gegangen. Das ist das Merkwürdige an so einer Treppe: Man geht sie niemals hinauf. Sie ist keine Leiter, die man Stufe um Stufe erklimmt. Sie ist das Gegenteil. Ich erzielte Einnahmen mit einem Buch, nachdem es in Hindi in einem indischen Verlag erschienen war. Das Buch handelte von einem Schach spielenden Jungen und traf zufällig auf einen verrückten indischen Boom. Mittlerweile spielen sie dort besser Schach als irgendwo anders auf der Welt. Dafür kann ich nichts, aber es hat mich ein paar Jahre über Wasser gehalten. 

Sowas erzähle ich, um Lukas wieder aus der Wohnung raus zu bekommen. Ich erzähle und gehe. Er folgt mir. Draußen schickt jemand Rufe in die Nacht. Das passiert jede Nacht um diese Zeit. Die Stimme ist laut, die Sprache unklar. Gebetsformeln eines Mannes, der an Regeln glaubt, wenn es dunkel wird. Wir stoßen gegen einen Bauaufzug und stolpern über Zementsäcke. Auf dem Rasen steht ein Sanitärcontainer. Das Haus soll gedämmt werden mit Platten, die aussehen wie zusammengepresstes Herbstlaub. Vom Baugerüst hängen Planen herunter. Bei starkem Wind sind sie Segel, die an einem steinernen Schiff reißen.

„Allein in so einem Haus“, wiederholt Lukas. „Sag mir, wie ich das hinbekomme.“

„So etwas“, antworte ich, „kann man nicht planen. Das ist kein Ziel.“

„Für mich schon“, sagt Lukas.

 

Gab es Momente, in denen ich sterben wollte? Das Gebet hallt in einem leeren Gebäude. Als die Frauen noch Namen hatten: Da gab es so einen Moment, der lange dauerte. Seitdem darf niemand in meiner Nähe diesen Namen aussprechen. Er ist schlimmer als der Tod, weil man ihn überleben muss.

Ich ergänze das. Dieser Zwischenfall kürzlich. Ich wurde betäubt und mit einer Maschine beatmet, aber die Betäubung hatte nicht durchgehend funktioniert. Wie soll man das beschreiben? Der schlechteste LSD-Trip, der sich vorstellen lässt. Ich wäre lieber gestorben, wenn ich hätte wählen können.

Zu Lukas sage ich: “Du darfst nicht zum falschen Zeitpunkt wach werden.“

Ich sehe sein Gesicht nicht in der Dunkelheit. Hat er das verstanden? Selbst wenn. Luzide Träume sind selten. So selten, wie ein anderer Mensch im Spiegel der Umkleidekabine.