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 Geschichten I

 1. Abflug

 2. Das Kind und der Teppich

 3. Habe Mitleid

 4. Die Schatzkammergeige

 5. Die Männer des Krieges

 6. Clementi: Der verkaufte Sohn

 7. Glückliche Kinder

 8. Schmerzen

 9. Aurora oder Das Niemandsland

10. Die längste Rutsche der Welt

11. Das große Werk

12. Briefmarken

13. Die Siegerin

14. Clementi: Die Hände der Comtessa

15. Schach und andere jugendgefährdende Spiele

16. Stummfilm

17. Nagaland

18. Die Mädchen

19. Fliegende Fische

20. Kellerkinder

21. Der Platz vor dem Kino

22. Trash

23. Clementi: Westminster Abbey

24. Die Stoppuhr

25. Eine Frage der Stimmung

26. mandragora hospitalis

27. Beate & Houdini

28. Das Poltern des Steines auf dem Sarg meines Großvaters

29. Professor Löschenburg

30. Ohne Vollmacht

31. Opossum

32. Glühende Kohlen

33. Eden. Die offene Rechnung

34. Der Astronom und der Berg

35. Dort, wo ein Land beginnt

36. Aurora oder Der Löffel und die Freiheit

37. Steinschlag
38. Der Tag, an dem Frithjof seine Stiefmutter umbringen ließ

39. Die Gruppe

40. Der andere Trotzki

41. Jazz

42. Der Tag der Befreiung

43. Helsinki

44. Salto mortale

45. Auf dem Weg

46. Der Bunker

47. Fehlfarben

48. Duhnerts Reich

49. Es ist alles relativ

50. Eine Kirche, ein Bus & ein Lied

51. Der Satz

52. Ein Meister seines Fachs

53. Die Hochzeit

54. Auf der Ladefläche

55. Cori

56. Aurora oder Die Beute

57. Der Apfel und die Sünde

58. Einer von beiden

59. Bluhme & Damerow

60. Himbeereis zum Frühstück

61. Symposion

62. Aurora oder Die Nachtwache

63. Besuch

64. Servietten

65. Der Gegner

66. Orthmosers Glück

67. Die Regentschaft

68. Aurora oder Die Flucht

69. Das Herzkissen

70. Ein Oberschüler

71. Endspiel

72. Umzug

Geschichten II >

73. Rauchpause

74. Das kluge Kind

75. Anämie

76. 'Round midnight

77. Die Mörderin

78. Der Brief

79. Resumee


1. Abflug

 

Durch die Glasscheiben der Flughafenhalle sah ich auf das Rollfeld. Ich wartete auf eine landende Maschine. Gleichzeitig behielt ich das Gate im Auge, an dem ich mich einchecken sollte, für einen Flug nach London, der noch nicht aufgerufen war. Ich hatte mich von einem Freund verabschiedet, der mich mit meinem Gepäck hierher gebracht hatte. Es war ein wenig feierlich. Ich wusste nicht, wann ich wieder zurück kommen würde. Ich wusste nicht einmal, wo ich wirklich hin wollte. Ich schaute auf das Rollfeld.

Die Maschinen bewegten sich zwischen zusammengeschobenen Haufen aus dreckigem Schnee. In Moskau war es noch kälter. Die Flugzeuge starten nicht immer zur geplanten Zeit. Außerdem sollte es mir egal sein. Sie kommt heute zurück, genauso gut hätte es morgen oder nächste Woche sein können. Vorgestern, am Telefon, war es eine beiläufige Bemerkung von ihr.

„Du fliegst am Dienstag? Da lande ich.“

Keineswegs klang das traurig. Es war ein bedeutungsloser Zufall. Für sie jedenfalls.

 Warum hatte ich eigentlich mit ihr telefoniert? Ja, natürlich. Um zu berichten, dass nun alles gebucht ist für die Reise ohne Wiederkehr. London, Washington, Miami. Ich hatte einen Untermieter für die Wohnung gefunden. Und so weiter.

Diese Mitteilungen waren von der traurigen Erwartung begleitet, dass sie mich keineswegs zu einer Änderung meiner Pläne auffordern würde. Sie tat es auch nicht.

 Vielleicht hatte man ihre Maschine jetzt, gerade jetzt, auf einer Bahn landen lassen, die nicht sichtbar für mich war. Dann gäbe es die theoretische Möglichkeit, dass sie gleich durch die wartenden Menschen gestürzt kommt, um meinen Abflug zu verhindern. Was brachte mich auf diese aberwitzige Idee: Ich ging zu irgendeinem Schalter und erkundigte mich nach der Ankunft einer Maschine aus Moskau. Eine Frau zeigte auf ein großes Display in meinem Rücken. Ich drehte mich herum und ging durch die Halle. Vor der Anzeigetafel blieb ich stehen. Links standen die Flugnummern und rechts die Zeiten oder Verspätungen oder Ausfälle. Dazwischen verschwammen Städtenamen. Meine Augen stellten sich nicht auf die Entfernung ein. Sie wollten mich beschützen. Das taten sie, als ich begriff, dass ich immer nur das Verlorene lieben werde. Ich würde versuchen, es wiederzufinden, in schäbigen oder pompösen Häusern. Es war verloren. Meine Augen wussten das schon. An der Wand trieb Schnee.

Der Schnee trieb mich ins Flugzeug, unschlüssig stand ich mit der Bordkarte im Gang. Eine der Flugbegleiterinnen zeigte mir meinen Platz. Ich schien der letzte Passagier gewesen zu sein, das Flugzeug setzte sich augenblicklich in Bewegung. Wir rollten langsam zur Startbahn. Das Verlorene verändert sich nicht mehr, es hat sich von der Befürchtung befreit, etwas anderes als es selbst zu sein. Es ist jetzt genau so, wie es niemals war, als man es noch hatte. Niemandem ist das Verlorene fremder als dem, der es einmal im Arm hielt. 

Die Flugbegleiterin war noch in meiner Nähe. Sie unterhielt sich mit einer Kollegin. Dabei sahen sie durch ein rundes Fenster.

„Da kommt dein Schatz“, sagte die eine.

Unwillkürlich folgte ich ihrer Kopfbewegung.

Weit draußen berührte ein schwebendes Flugzeug den Erdboden.

„Fliegt der nicht Moskau zurzeit?“

„Neuerdings als Chef“, sagte die andere.

„Heute Abend ist er zu Hause. Da mach ich ihn fertig.“

Die beiden berührten sich mit den Ellenbogen.

So schienen sich auch die Maschinen kurz zu berühren, als sie aneinander vorbei rollten. Die Flugbegleiterin begann mit der stummen Choreografie der Sicherheitsinstruktionen. Ihr Körper sagte: Heute Abend. Sie nahm mich mit bis nach London. Ich stieg um und flog über den Atlantik. Die Sonne blieb bei mir, aber um diesem Abend zu entkommen, hätte ich ewig in der Luft bleiben müssen. 

Illustration: Der Traum, © 2020 Reiner Lietz

2. Das Kind und der Teppich

 

Das Gegenteil vom Tod ist eine verrostete Sense. Das Gegenteil vom Gegenteil ist fadenscheinig, weil es sich aufgerieben hat zwischen den Fronten.

Das Kind sagt: Ich habe meine Gründe, keinen mitspielen zu lassen.

Das ist ein Satz von einigem Gewicht. Vielleicht kann das Kind ihn nicht tragen. Das muss es aber auch nicht. Der Satz trägt das Kind wie ein fliegender Teppich. Sie fliegen nach New York oder über die Anden. Der Teppich wickelt sich um das Kind. Er flüstert ihm alle Sprachen der Welt ins Ohr. Natürlich auch die der fliegenden Teppiche. Jetzt haben beide jemanden zum Reden.

So sind manche Menschen, sagt das Kind. Groß und artig, großartig eben. Sie kommen schon so auf die Welt, sind schon großartig, wenn sie noch ganz klein sind. Wenn schon nicht Menschen, dann sind manche Giraffen großartig.

Das ist bestimmt richtig, sagt der Teppich. Großartige Menschen und auch Giraffen haben einen offenen Blick, der von einem schlanken Hals getragen wird. Sie sehen weiter ins Land oder über das Meer als andere.

3. Habe Mitleid

 

Emma Theodora vergräbt Scheiße im Garten, damit die Bäume einmal goldene Früchte tragen. Ich werfe mit einem alten Küchenmesser auf die Schuppentür und bin zufrieden, wenn es stecken bleibt. Es ist ein Sommertag voller Insekten und Gerüche. Die Hühner scharren hinter der Hütte und das Beil steckt im Hackklotz. Die Hühner sind dumm und verbinden mit dem Beil und dem Hackklotz keine negativen Gedanken. Heute haben sie auch nichts zu befürchten. Ich war am Vormittag einkaufen. Die Versorgung für alle ist gesichert und wir müssen uns nicht gegenseitig aufessen. Frau Scharnack, die Verkäuferin, hat mir sogar eine Schachtel Zigaretten mitgegeben, obwohl sie weiß, dass Emma Theodora nicht raucht. Die Flasche Weinbrand-Verschnitt hatte sie eingetippt, ohne eine Miene zu verziehen, bei den Zigaretten schaute sie mich sorgenvoll an.

„Das ist nicht gut für dich.“

Danach half sie mir, meinen Einkauf auf einem Handwägelchen zu verstauen. Ich zog das Wägelchen durch ein kleines Dorf am Rande einer großen Stadt. Das war nichts mehr für Emma Theodora. Sie ist die Schwester meiner längst verstorbenen Großmutter mütterlicherseits und hat Rheuma in den Knien. Einige Wochen in den Sommerferien bin ich bei ihr in Kost und Logis, besorge den Einkauf und habe eine Menge Freiheiten für einen zwölfjährigen Jungen.

Der Rückweg mit dem Wägelchen war staubig heute, das letzte Stück ist störrischer Sand, an dem die Räder festzukleben scheinen. Vor der Hütte stellte ich mich vor die Pumpe,  förderte Wasser und goss es mir über den Kopf. Tropfenbehangen ging ich zum Schleifstein und begann mit den Wurfübungen.

Das Wetter heute ist so, wie es immer war, wenn in meiner Heimatstadt ein Wanderzirkus gastierte. Wüstenwetter, genau richtig für die beiden Kamele, auf denen wir sitzen durften. Am wichtigsten aber waren die Messer, die glänzend in einem gefütterten Etui lagen. Ich vermutete, dass es ganz besondere Messer sind, die auf Grund ihrer Beschaffenheit immer stecken bleiben. Der Messerwerfer sagte mir, dass das nicht stimmt. Es hängt von der Entfernung und der Wurftechnik ab, ob das Messer steckenbleibt. Eine Übungsfrage, sagte er und ging wieder.

Ich gehe also ein wenig vor oder zurück, wenn das Messer an der Schuppentür abprallt. Manchmal fliegt es sonst wohin. Gemeinsam mit den Hühnern suche ich den Boden ab. Ich habe nur dieses eine Messer und es hält mich in Bewegung. Emma Theodora ruft zum Essen.

Sie hat Wachsbohnen gebraten, mit Pilzen vom letzten Herbst. Der Küchendunst  hüllt die Pumpe ein. Die Hütte besteht aus einem kleinen Vorraum, der Küche auf der rechten Seite und der Stube geradezu. Die beiden Küchenfenster sind offen. Im Vorraum hängt ein Handtuch über einem Stuhl. Fliegen schwirren herum oder bleiben an dem klebrigen Fliegenfänger hängen. Emma Theodora trägt zwei Teller in die Stube.

Sie stellt den für mich bestimmten Teller auf den Tisch und setzt sich mit ihrer Portion in den großen Ohrensessel, der gegenüber der Eingangstür am anderen Ende der Stube steht. Sie nimmt das Essen auf die Knie und behauptet, dass der warme Teller gut gegen die Rheumaschmerzen ist. Der Teller kühlt sich ab.

„Bring mir den Herz-Joker“, sagt Emma Theodora.

„Und mein Gläschen.“

Ich trage das Mittagsgeschirr in die Küche und komme mit der Schnapsflasche zurück. Das Gläschen steht auf dem Wandregal. Die Flasche und das Glas müssen jetzt so gestellt werden, dass Emma Theodora vom Sessel aus alles erreicht. Ebenfalls auf dem Wandregal befinden sich ein Würfelbecher mit drei Würfeln und ein Schreibblock. Das ist für mich.

Der Fernseher steht neben der Tür und läuft die ganze Zeit. Jetzt beginnt eine Sendung mit Schlagersängern, über die wir schon beim Frühstück geredet haben. Es ist klar, dass die Schlagersänger in Verbindung mit dem Herz-Joker auch gut gegen Rheumaschmerzen sind. Emma Theodora kann ein paar von den Liedern mitsingen und stört sich nicht an meinem Geklapper.

„Da hat dir Richard was Feines beigebracht“, sagt sie, wenn sie anfängt, an ihren verstorbenen Mann zu denken. Nach dem dritten oder vierten Glas meistens.

Das Spiel heißt „Chikago“, und weil Richard nicht mehr lebt, spiele ich es mit mir selbst. Sorgfältig notiere ich die gewürfelten Zahlen. Nicht nur mit dem Messer, auch mit den Würfeln muss ich mich gründlich beschäftigen. Eine „Eins“ zu würfeln ist so wie ein steckengebliebenes Messer. Ganz bestimmt kommt es beim Würfeln auch auf irgendein Gefühl an, und ich bin auf der Suche danach.

Ich probiere vielerlei mit dem Würfelbecher, nehme ihn so oder so in die Hand, lasse die Würfel ausrollen oder drehe einfach nur den Becher um, nachdem ich ihn durchgeschüttelt habe.

„Von meinem Richard ist noch die alte Geige da“, sagt Emma Theodora.

„Ich weiß“, sage ich.

Wie sollte ich es nicht wissen. Die Geige hängt neben dem Wandregal, auf dem das Gläschen und der Würfelbecher stehen. Ich habe meinen Großonkel Richard nicht mehr spielen gehört. Die Gicht saß ihm schon in den Händen, als er mir „Chikago“ beibrachte.

„Der liebe Richard hat immer Geige gespielt, wenn er sich mit mir gutstellen wollte.“

Emma Theodora kichert. Ich kann mir vorstellen, worüber. Sie war nicht kleiner als ihr Richard, aber doppelt so breit. Er hat sich von der Geige beschützen lassen.

„Ich sag dir noch, was er immer gespielt hat. So ein schönes Lied. Es fällt mir bestimmt wieder ein, mein Junge.“

Ich soll den Fernseher umschalten, auf einem anderen Sender kommt eine andere Schlagersendung. Emma Theodora träumt und trinkt und singt, die Würfel klappern im Takt, die Fliegen fliegen herum. Ich lasse sie auf meiner Schulter landen und finde das Krabbeln gar nicht mal unangenehm. Wir alle haben einen ziemlich perfekten Nachmittag.

„Begrüßen wir einen Gast aus Russland“, sagt der Moderator im Fernsehen.

„Sie alle kennen Ilja Rubikoff. Er singt eine alte Romanze aus seiner Heimat: ‚Habe Mitleid‘, so könnte man den Titel wohl übersetzen. Herzlich Willkommen, Ilja!“

Ilja Rubikoff, mit Pelzmütze und breitem funkelndem Gürtel, beginnt zu singen.

Emma Theodora wird unruhig, als ob alle Fliegen plötzlich bei ihr sind.

„Das ist doch mein Lied!“, ruft sie laut.

„Was der Richard immer für mich gespielt hat!“

Sie möchte noch etwas sagen, bringt aber nichts mehr heraus. Ihre Hand mit dem Glas zittert. Die drei Würfel liegen in einer Herz-Joker Pfütze. Emma Theodora sinkt in ihren Sessel zurück und weint ganz bitterlich.

Ich gehe in die Küche, um einen Lappen zu holen. Muss ich meine Großtante jetzt trösten? Ich kann ja nicht Geige spielen, und die Fliege, die auf den Saiten herumspringt, kann es auch nicht.

„Du musst mir etwas versprechen!“, schluchzt Emma Theodora.

Ich nicke eifrig und wische Schnaps von ihrer rechten Hand.

„Wenn ich unter die Erde gebracht werde, du weißt schon: Irgendjemand soll dieses Lied spielen.“

Ich denke an meinen Freund Edwin, der Geigenstunden nimmt. Den könnte ich bestimmt dazu überreden. Zustimmend drücke ich Emma Theodoras trockene Hand.

„Du kannst ruhig weiter würfeln“, sagt sie, mit erhobenen Kopf und nassen Augen.

Ihre dünnen Haare sind durcheinander gekommen. Ich lege eine Hand auf ihren Kopf.

„Das war Ilja Rubikoff“, sagt der Moderator.

„Mein Richard“, sagt Emma Theodora.

Ich gehe aus der Stube. Im Vorraum auf dem Tisch liegt die Zigarettenschachtel. Ich nehme eine Zigarette heraus, hole aus der Küche Streichhölzer und gehe zu den Hühnern. Die Hühner schauen dem Rauch hinterher. Ich setze mich aufs Klo, einem Bretterverschlag mit Blecheimer. Der ist jetzt leer, weil Emma Theodora vorhin Scheiße verbuddelt hat.  Als Großonkel Richard noch lebte, roch alles nach seinen Herztropfen. Auf dem Klo dachte ich immer, dass ich beim Arzt bin. Jetzt denke ich, wie seltsam es ist, dass ein Mensch plötzlich nicht mehr da ist. Deswegen gehe ich wieder in die Stube und klopfe vorsichtig auf die Geige.

Emma Theodora hebt den Kopf und lächelt. Sie schenkt sich noch ein Gläschen ein.

„Ich muss gleich ins Bett“, sagt sie.

Ihr Bett ist in der Küche und ich schlafe immer auf dem alten Sofa in der Stube.

Bestimmt bleibe ich heute noch länger wach, wegen dem Spätprogramm im Fernsehen. Emma Theodora stemmt die Hände auf die Sessellehnen und versucht, sich zu erheben. Es klappt nicht. Sie fällt wieder zurück. Nun beginnt sie, sich auszuziehen.

„Bring mir mein Nachthemd!“

Ich finde ihr Nachthemd in der Küche und komme zurück und stehe vor ihr. Emma Theodora hat gar nichts mehr an. Sie sieht merkwürdig aus. Alles an ihr ist irgendwie verrutscht oder gefaltet oder zu groß oder zu klein. Sie schaut mich an, als ob ich wissen müsste, wie es jetzt weitergeht. Ich strecke ihr das Nachthemd entgegen, aber sie schüttelt den Kopf.

„Hilf mir, mein Junge“.

Sie hebt die Hände.

Das Hemd muss irgendwie über den Kopf, aber so, dass die Hände auch noch durch die Ärmellöcher passen. Ich will ihr keine Haare ausreißen oder die Arme verdrehen. Wenn Emma Theodora zurückfällt in den Sessel, komme ich nicht weiter.

„Emma Theodora“, sage ich.

„Habe Mitleid.“

„Du spielst so schön“, murmelt Emma Theodora und will mich umarmen, und genau diesen Moment nutze ich, um ihr das Hemd über den Oberkörper zu ziehen.

Sie hat ihre Hände um meinen Hals gelegt. Deswegen kann ich sie aus dem Sessel ziehen und festhalten.

„Wir gehen jetzt ins Bett“, sage ich.

„Das ist schön“, sagt Emma Theodora und schiebt ein rheumageplagtes Knie vor das andere. Wir manövrieren durch zwei Türen und halten uns fern vom Kohleherd. Emma Theodora rutscht auf ihr Bett. Ich hole von der Wäscheleine draußen ein Laken und decke sie zu.

„Habe Mitleid“, murmelt Emma Theodora.

 

Illustration: Habe Mitleid, © 2020 Reiner Lietz 

 

4. Die Schatzkammergeige

 

Unzerstört heißt nicht heil. Unzerstört bleibt ein fragiles Gebilde. Zusammen und wieder auseinander fallen Leben und Zeiten. Das Haus hat viele Treppen. Auf einem Fensterbrett liegt ein Geigenkasten. Wer die Treppe hinaufsteigt, kommt an ihm vorbei.

Er hört Töne und denkt eine Begebenheit.

Draußen hagelt es kleine weiße Kugeln; verpuppte Schneeflocken. Alles kommt mit einer Hülle zur Welt. So geht es auch wieder. Luisa steht auf dem Treppenabsatz.

Als Kind las sie von einer Geige, die zweihundert Jahre in einer Schatzkammer lag. Niemand spielte auf ihr. Sie wurde sehr klangvoll. Ein Soldat Napoleons stahl sie bei der Plünderung und verkaufte sie einem Wiener Bankier. Der Bankier vererbte sie einem Virtuosen, der sie vordem lange erfolglos zu erwerben versucht hatte. Der Virtuose reiste nach Amerika und erlitt Schiffbruch.

Schwimmend erreichte Ole Bull das Land. Lange hatte er dabei die Geige über Wasser gehalten.

Jetzt hört Luisa wieder die Töne. Sie ist die älteste Frau weit und breit. Zu ihrem nächsten Geburtstag kommt der Bürgermeister. Ein fragiles Gebilde. Eben war sie im Supermarkt gegenüber. Bei dem Wetter trägt sie grobe Cordhosen und eine wattierte Jacke. Eine halbe Treppe höher befindet sich eine Instrumentenwerkstatt. Sie haben keine Ahnung dort von der Violine, der Luisa lauscht.

Nur noch auf der geretteten Schatzkammergeige spielte Ole Bull. Niemand sonst machte das nach seinem Tod. Seine Heimat Norwegen schuf ein Museum für den Geiger, der groß und blond war, und sein zartes italienisches Instrument.

 

Im Berliner Reichssicherheitshauptamt erging im Jahr 1941 ein Befehl, von dem nur zwei Männer wussten. Der eine, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, war Chef der Behörde. Der andere, ein namenloser Offizier mit Pilotenlizenz, war sprachlos nach einer Verwundung. Heydrich machte nicht viel Worte. Das war ihm wegen seiner hohen Stimme unangenehm. Der Offizier bekam ein Flugzeug und den Auftrag, die Schatzkammergeige zu beschlagnahmen.

War ich heil? Luisa hebt mit zwei Fingern den Deckel des unverschlossenen Geigenkastens. Es geht sehr leicht. Kinder sollen das können. Es geht leicht und hat Folgen.

 

Luisa lag im Krankenhaus. Etwas war schief gelaufen. Sie kam in ein anderes Krankenhaus, beinahe ein Sanatorium, und saß im Zimmer des Chefarztes.

Es geht leicht und hat Folgen, nicht wahr? Sie sind ein Flittchen, allerdings rassisch einwandfrei. Geheilt von einer bösen Sepsis mit den neusten Errungenschaften deutscher Medizin. Im Nebenzimmer warten zwei Herren auf sie.

Die Herren redeten von verzeihlichem Fehltritt und der völkischen Verantwortung einer nordischen Frau. Luisa fuhr mit ihnen mit.

Von nun an war es ihr verboten, Schwangerschaften zu verhindern oder abzubrechen. Sie und die anderen Mädchen bekamen Besuch von hohen SS-Offizieren. Die Männer waren korrekt und auf den Zimmern nicht immer in der Lage, ihrer zeugenden Gesinnung zu folgen. Luisa konnte sie trösten, mit wenigen kalkulierten, gleichgültigen Worten.

Sie denken so sehr an die Geige, hatte sie zu einem gesagt.

Ich bringe sie dir, hatte der Mann geantwortet.

 

So wie einmal Ole Bull war Reinhard Heydrich groß und blond und ein leidenschaftlicher Violinspieler. Luisa fand den Blick seiner schmalen Augen schwer auszuhalten. Er trainierte Fechten und umgab sich mit nationalen Akademikern. Seine Musikalität war vielleicht etwas schwächer ausgebildet als seine Grausamkeit. Das bedeutete wenig. Am Rande seiner dienstlichen Verpflichtungen hatte er von einer jungen Frau die Geschichte der Schatzkammergeige erfahren: Nun war sie unterwegs.

 

Es klopfte dezent, aber deutlich. Als Luisa öffnete, sah sie einen Offizier der Luftwaffe. Neben ihm stand ein Unteroffizier der gleichen Truppe. Zwischen beiden stand eine Kiste.

Der Offizier grüßte. Er war nicht so hölzern wie die SS-Chargen. Ein netter Kerl in Uniform.

Wir haben Befehl, diese Kiste in ihr Zimmer zu bringen.

Was ist drin?

Ich habe nicht die geringste Ahnung, sagte der Offizier und lächelte.

Sie kam gerade aus Norwegen mit einer unserer Maschinen. Der Pilot konnte nicht sprechen.

Danke.

Der Offizier hielt ihr ein Zigarettenetui entgegen. Möchten sie vielleicht. . .

Luisa wollte gerade sagen, dass sie nicht raucht, als sie bemerkte, dass sich in dem Etui keine Zigaretten befanden.

Es ist ein sehr schönes Etui. Kriegsbeute, wenn sie wollen. Man sieht das nicht überall.

Luisa sah die Schrift auf dem Boden des Etuis. Sie trat näher heran.

Luisa, halte ihn auf. Bitte!  

 Ja also, sagte sie zum Offizier. Sie schaute ihm ins Gesicht. Sie müssen verstehen, dass ich nicht rauche. Ich lese gern, um mich zu zerstreuen.

Nichts für ungut, sagte der Offizier und steckte das Etui wieder ein. Ich wünsche einen schönen Abend.

 

Der halbgeöffnete Geigenkasten erinnert an das Zigarettenetui. Die Handschrift sah Luisa immer vor sich. Zehn Sekunden ihres Lebens hatten sich eingebrannt. Beinahe achtzig Jahre ist das her. Wer schrieb diese Zeile? Sie fand es nicht heraus. Es war die Handschrift einer jungen Frau, vielleicht Sekretärin in einer Dienststelle, die ihren Namen kannte. Eine Bekannte des Offiziers, den sie niemals wiedersah.

Wem wurde geholfen an diesem Abend.

 

SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich salutierte und öffnete die Kiste mit seinem Ehrendolch. Aus Gründen der Tarnung war die Geige nicht in einem Geigenkasten untergebracht. Verschiedene Hüllen umgaben das Instrument. Heydrich entfernte Lagen von Holz, Stoff und weichem Papier. Er zupfte an den Saiten. Einem mitgebrachten Futteral entnahm er nunmehr einen Bogen und Kolophonium.

Heydrich stimmte die Geige und nickte. Er präparierte den Bogen. Alle diese Abläufe hatte er viele Male bei seinem Vater und seinem Großvater gesehen. Er steuerte sich selbst mit der Routine einer Exekution.

Ich habe eine Romanze des Vorbesitzers Ole Bull vorbereitet.

Seine Moderation war hoch und brüchig.

Dann darf ich ihre nordische Muse sein, sagte Luisa. Sie trug eine  weite Toga und einen Kranz im offenen goldfarbenen Haar. Auf dem Bett begab sie sich in die Pose eines Gemäldes.

Heydrich spielte.

Luisa hatte nicht mit dem gerechnet, was ihr widerfuhr. Verzweifelt redete sie sich ein, dass sie der Geige lauschte und nicht dem Mann; dass sie Musik Ole Bulls hörte, und nicht das Werk von Händen, an denen mehr Blut klebte als durch ihre Adern floss.

Schließlich sagte sich Luisa, dass dieses Geschehen eine Fügung sein müsse. Es sollte ihre Aufgabe erleichtern. Noch während Heydrich spielte, erhob sie sich sanft und öffnete sein Koppelschloss.

Der SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich war an diesem Abend durchaus nicht von hinderlichen Gedanken okkupiert. Er blieb länger als beabsichtigt. Luisa glaubte, dass sie schwanger hätte werden können.

Sie blieb kinderlos. Nach einem Jahr wurde sie Krankenschwester. Zwei Männer verübten ein Attentat auf Reinhard Heydrich.

Sie konnten ihn länger aufhalten als ich, denkt Luisa.

 

5. Die Männer des Krieges

 

Es waren Männer des Krieges, die Väter wurden einer Generation, die in einem Land ohne Vergangenheit aufwuchs. Umso mehr galt die Zukunft dieses Landes als unverrückbar gesichert. Sein letztes Staatsoberhaupt prägte das Wort, dass daran weder Ochsen noch Esel etwas ändern könnten.

Diese Prophezeiung klang geradezu biblisch. Ich weiß nicht, ob die Männer des Krieges ihr noch ohne Einwand folgen konnten. Sie schauten sich gegenseitig an. Sie schauten ihre Kinder an, die den Krieg nicht kannten, weil sie keine Vergangenheit hatten.

Mein Vater stand vor einem zugewachsenen Graben.

Hier haben wir gelegen, sagte er.

Die Männer an seiner Seite nickten und schwiegen.

Über den Graben hinweg schauten wir auf die Oder, den Fluss, den der Gegner zu überqueren versucht hatte. Der Gegner war zahlreich und sein Nachschub gesichert. Die Männer des Krieges waren jung damals. Sie hätten ihren Schulabschluss machen sollen oder sich in einem Beruf erproben. Es war ihnen aber gesagt worden, dass sie vorher noch etwas erledigen müssen.

Der Graben zog sich zur linken Seite hin zu einem größeren Waldstück, das bis an das schilfige Ufer der Oder systematisch vermint worden war. Niemand hat später gewagt, die alte Ausflugsgaststätte wieder zu eröffnen.

Dort links, erklärte mein Vater, kurz vor dem Wald: Da hatten wir das MG-Nest eingerichtet. Das MG deckte den ganzen Abschnitt. Wer über den Fluss kam, hatte nichts gewonnen.

Die Männer des Krieges verstanden das alles sehr gut. Sie waren selbst dabei gewesen. Mein Vater hatte ihnen Skizzen der Verteidigungslinie geschickt und Listen von Truppenbewegungen. Er war der Theoretiker geworden eines Krieges im Kriege, der niemals zu Ende gegangen ist. 

Nach der Kapitulation hatten junge Männer in Freiheit und mit halbwegs intakter Gesundheit gewisse Privilegien. Frauen und Karrieremöglichkeiten waren leichter zu erobern. Türen standen offen zu Häusern von Macht und Hingabe. Vieles haben sie gelernt. Aber nicht, in Frieden zu leben.

Zur rechten Seite verlief sich der Verteidigungsgraben in ein bewirtschaftetes Feld. Niemals konnte mir mein Vater sagen, was dort angebaut wurde. Es interessierte ihn nicht. Er schaute nach vorn.

Das machten sie alle, die Männer des Krieges. Mit Ferngläsern und Stirnfalten. Sie hatten Karten in der Hand und Feldflaschen und rekonstruierten, woher sie damals gekommen waren. Von der anderen Seite, natürlich. Die gehörte jetzt zu Polen. Das war damals nicht so. Sie haben dort verteidigt, getrieben von der Roten Armee, mussten immer wieder weichen, bis hierher, und sollten nicht mehr weichen.

Wo war noch einmal der Regimentsbunker?

Natürlich darf man meinen Vater so etwas fragen.

Sehr schnell ist er Lehrer für Geschichte geworden, nachdem der Krieg offiziell beendet war.

In der Schule erzählte er etwas von gewesenem Leben. Er verteilte jedes Jahr neue Lehrbücher und berichtete über die Steinzeit, Feudalherren und das englische Proletariat.

Von der Schule aus, an der er arbeitete, konnte man die alte Verteidigungslinie zu Fuß erreichen. Natürlich musste das jederzeit möglich sein. Er war der Regimentsmelder. Sein Kommandeur hatte sich immer auf ihn verlassen können.

Es war gänzlich unmöglich, diese eigentliche Geschichte seinen Söhnen oder Schülern zu erklären. Die Söhne, überhaupt: Zwei spielten Fußball und der dritte fuhr mit einer zugeklebten Brille Fahrrad.

Die Männer des Krieges verstanden solche Sorgen. Das Hinterland ist eine trostlose Gegend. Früher gab es Kadettenschulen, damit die Jungs nicht verkamen. Wenn sich dieses Land halten will, braucht es vernünftige Kader. Mein Kommandeur hat mich erzogen, sagte mein Vater. Da nahmen die Männer des Krieges die Mützen ab.

Die Ehre galt einem Offizier, der sich einen Ruf erworben hatte bei spektakulären Einsätzen. Natürlich war es zweitrangig, in welcher Armee so ein Mann Kommando führte. Der Roten Armee gelang der Flussübergang weiter nördlich. Die Stellung jedenfalls war gehalten.

Sie zogen sich auseinander, die Männer des Krieges, verteilten sich im Gelände.

Fünfzig Jahre lang stand ein Foto auf dem Schreibtisch meines Vaters. Der Kommandeur trug die Uniform wie einen Smoking. Als Kind war ich der Meinung, es wäre ein Schauspieler. Er trug Orden und eine Mütze und blickte ruhig und entschlossen. Ich spürte, dass es der Blick war, mit dem mein Vater auf die Welt sehen wollte. Es ist ihm nie gelungen.

 


6. Clementi: Der verkaufte Sohn

 

 

Ich stehe auf dem Deck des Schiffes, das mich nach vierzehn Jahren wieder auf den Kontinent bringt und bin nicht bewegter als die See, wenn ich an das Konzert in Paris denke. Müsste mich nicht eben diese, zurzeit recht ruhige See auf der Stelle verschlingen angesichts solcher Frechheit? Eine Königin erwartet mich: Sie ist jünger als ich, spricht deutsch wie meine Mutter und hatte beim großen Gluck Gesangsunterricht. Nun ist aus Antonia Marie-Antoinette geworden. Ich weiß nicht genau, wer diesen Auftritt eingefädelt hat. War es doch noch Sir Peter, mein Freund, mein Gönner, mein Käufer?

Ja, er hatte mich gekauft. Vor vierzehn Jahren in Rom hat er mich meinem Vater abgehandelt. Ich war ein Knabe an der Schwelle zum Jüngling. Sieben Jahre wollte er sich um mich kümmern; erst heute verstehe ich, wie sehr es meiner Mutter das Herz gebrochen haben muss.

Anyway: Niemand hätte mich besser behandeln können als Sir Peter Beckford. Ich lebte auf seinem Landsitz, wurde unterrichtet, übte Klavier wie der Teufel und lernte Reiten. Das jedenfalls wäre in Rom nicht möglich gewesen.

Trotzdem habe ich nicht alles vergessen. Es kam mir vor, als ob mein Vater unentwegt damit beschäftigt war, wunderbare Dinge herzustellen. Er war Silberschmied; und all das verschlungen Glänzende, das er mit seinen Händen und dem Werkzeug aus dem Metall zauberte, wollte ich mit meinen kleinen Fingern den Tasten des Fortepianos entlocken: Wie ein Silberbesteck sollte es sein, das  Klavierspiel. Dafür gab es keine Stücke, fand ich. Demzufolge dachte ich sie mir selbst aus.

Zwei oder drei Jahre später spielte ich Orgel in der Kirche, und noch etwas später kam Sir Peter und nahm mich mit. Es war ein unglaubliches Abenteuer. Ich hatte kein Heimweh und ich wurde nicht seekrank. Die ganze Zeit lernten wir Englisch. Abends schrieb ich Noten in Pensionszimmern oder Kajüten.

Und jetzt? Ich bin kein Junge mehr.

Sir Peter hatte sich an alle Absprachen gehalten. Vor sieben Jahren ging ich nach London, allein, nur mit einigen Empfehlungsschreiben. Ich war gut genug. Die Stadt London, die Hauptstadt der Welt, hat mich angenommen. In London kann man, des ewigen Nebels wegen, einen Menschen schlechter sehen als anderswo. Dafür, so scheint es mir, kann man ihn besser erkennen. Immer merkt man, woher er kommt und wohin er will: Die Bewegung verschafft ihm klare Konturen.

Diese Bewegung trägt meinen Ruf in ferne Städte. Sie kennen mich in Paris, auch wenn in London kein Sterbenswort über meine Person in der Zeitung steht.

Der gute Ruf ist dem unguten Ruhm wohl vorzuziehen. Ich bin freier als Marie Antoinette, freier erst recht als irgendeine Hofschranze, und hinter den Türen, die sich für mich geöffnet haben, ist nicht immer ein Mann der Presse erwünscht.

Ich weiß nicht, ob ich es auf dieser Reise bis Rom schaffen werde. Die Nachrichten sind spärlich geworden. Sollte ich noch einmal meinen Vater fragen, ob er damals wirklich nur mein Bestes wollte?

„Signore Clementi“, wird Sir Peter zu ihm gesagt haben, „ich verstehe, dass Sie bereits einiges in den Jungen investiert haben, in Erwartung eines gewissen paybacks. Wir reden also über Ausgaben, die Sie bereits hatten, und Einnahmen, die Sie nicht haben werden. Für beides will ich aufkommen. Ein schlechtes Gewissen, Signore Clementi,  bräuchten Sie nur zu haben, wenn Sie den Jungen verschenken.“

Die Wellen kräuseln sich unschuldig über vielen versunkenen Schiffen. Der Kapitän hat sich zu mir gestellt.

„Maestro“, sagt er, „ich hoffe, alles verläuft zu ihrer Zufriedenheit.“

„Ein ruhiger Tag auch für Sie“, antworte ich.

„Ich mache mir Gedanken“, sagt der Kapitän, „und möchte mir gern die Freiheit nehmen, ihre Meinung einzuholen.“

„Es ist mir eine Ehre, Kapitän.“

„Sie müssen wissen, Maestro, mein Sohn Henry hat schon sehr früh ein großes mechanisches Geschick bewiesen. Im Alter von zehn Jahren konnte er meine nautischen Instrumente reparieren, Kompasse, Quadranten, und so weiter. Zwei Jahre später erbot sich ein Londoner Fabrikant, ihn in seiner dortigen Werkstatt auszubilden. Wir sind darauf gern eingegangen, meine Frau und ich, aber natürlich unter der Voraussetzung, dass der Junge einmal dieses Schiff übernimmt. Lassen Sie das alles vier Jahre her sein, jedenfalls hat sich jetzt herausgestellt, dass sie in dieser Werkstatt eine ganz neue Maschine entwickelt haben, eine, die mit Wasserdampf alles Mögliche antreiben kann und überall gebraucht wird. Kurz: Besagter Fabrikant erklärt mir, dass mein Sohn der einzige ist, den er nach Amerika schicken kann, um dort diese steam engines herzustellen. Genau wie die Maschine ist der Junge gerade den Kinderschuhen entwachsen. Deswegen verstehen sie sich so gut.“

„Was hat er ihnen geboten?“, frage ich.

Der Kapitän zuckt, glaube ich, ein wenig zusammen.

„Sie sprechen, als ob ich ihn verkaufen würde.“

„Das ist keine Antwort, Kapitän.“

„Nun gut. Es ist eine Pension für meine Frau und mich. Nicht gerechnet, was das Schiff im Verkauf noch bringt. Können Sie sich vorstellen, dass meine Frau endlich einmal ohne Angst leben würde?“

„Ohne Angst, aber mit viel Sehnsucht“, sage ich.

Wir schweigen eine angemessene Zeit. Der Kapitän starrt auf die Decksplanken.

„Dennoch“, sage ich schließlich.

„Tun Sie es zum Besten des Jungen.“

Der Kapitän hebt seinen Blick und schaut mich erleichtert an. Er kann nicht ahnen, dass ich gerade meinen eigenen Vater freigesprochen habe.

 

Illustration: Muzio Clementi, © 2020 Reiner Lietz

7. Glückliche Kinder

 

Der Stoff war das Sekret einer eiternden Wunde im Körper seines Vaters. Er brachte eine erhabene, manchmal berauschende Stimmung in das Leben der Familie. Artur saß auf der Bettkante im Schlafzimmer seiner Eltern. Schläuche durchquerten eine gepflasterte Brust. Einer entsprang dem gefüllten Behälter an der Spitze des Tropfständers. Der andere mündete in einem dreckigen Eimer. Artur öffnete und schloss abwechselnd zwei Klammern. Im Eimer sammelte sich der Stoff, der aus seinem Vater heraus musste. Gelbe Klumpen schwammen in trüber Kochsalzlösung.

Artur lernte die Namen auf den Tablettenschachteln auswendig. Die Schachteln waren ordentlich in der offenen Schublade des Nachttisches gestapelt. Er hatte sich mit der Tochter der Apothekerin angefreundet. Sie spielten dieses Spiel, wer mehr Medikamentennamen wusste. Manchmal gewann Artur, weil er Medikamente kannte, die es noch gar nicht gab.

 Er hatte eine kleine Flasche Kodeintropfen in der Hand, aus dem Vorrat seines Vaters. Die Tochter der Apothekerin legte zwei Tabletten auf einen flachen Stein. Das Wasser kräuselte sich grau in der kleinen Bucht des Flusses. Arturs Angel lag auf einer Astgabel, die Pose ins Schilf abgedriftet. Das Mädchen holte eine Flasche mit sauberem Wasser und einem Gummipfropfen aus der Schultasche, zwei Becher und einen Löffel.

Haare wehten ineinander. Der Ort voller Eiter und Krankheiten lag hinter dem Deich. Sie waren zwei glückliche Kinder.

8. Schmerzen

Die Kisten müssen vom Wagen, und der Wagen muss vom Markt. Holger klappt einen Tisch und zwei Regale aus. Der Bestrafte sucht einen Parkplatz. Die Lampen sind in Zeitungspapier eingewickelt. Holger faltet das Papier genau auf die Größe eines leeren Kartons. Auf der abgesperrten Straße entstehen zwei Doppelreihen. Aus einer kosmischen Perspektive wirken sie vielleicht wie Risse. Viele Menschen werden sich nachher an ihren Rändern versammeln. Jenseits der Absperrung gibt es einen Stop für Sightseeing-Busse.

Der Bestrafte bringt einen Hund mit. Der Hund gehört einem Junkie. Er ist nicht neugierig und legt sich auf das gefaltete Papier. Der Junkie musste ins Krankenhaus. Der Bestrafte sagt, dass er ihn von früher kennt. Die Schirme der Tiffany-Lampen reflektieren das Licht in den Rissen der Galaxis.

Der Trödler hat ihnen alte Elektrobauteile mitgegeben. Holger legt Röhren und Drehkondensatoren auf die Regale. Es gibt noch jede Menge Volksempfänger.

Hauptsächlich sind sie wegen der Lampen hier. Die Lampen sollen aus dem Gefängnis. Dort hat sie der Bestrafte gebastelt. Der Trödler geht zu einer Briefmarkenauktion. Zwischen alten Papieren lag ein Umschlag Zeppelinpost. Er braucht seinen Stellplatz heute nicht. Gestern im Imbiss wurden sie sich einig.

Was ist mit deinem Zeug, fragt der Bestrafte.

Holger  ist unschlüssig. Die Reste seines Laboratoriums liegen in drei nicht ausgepackten Kartons. Einmal zeigte ihm die Tochter der Apothekerin den hinteren Raum des Ladens. Es war eine Silvesternacht. Sie saßen im Dunkel, damit niemand etwas bemerkte.

Jeder Böller, der draußen explodierte, beleuchtete die Gerätschaften auf dem  Labortisch.

Holger gab sich Mühe in der Schule und bekam nach und nach, was er gesehen hatte.

Am späten Vormittag verkauft er zwei Drehkondensatoren an einen alten Mann.

Das ist ein gutes Zeichen.

Der Bestrafte wischt seine Scherben ab.

Holger  mischt sich in den Besucherstrom und lässt sich um den Markt treiben.

Er bringt dem Hund eine Currywurst mit. Der Bestrafte verhandelt. Er schiebt den Hund vom Zeitungsstapel und wickelt eine der Lampen wieder ein. Zwischen den Regalen baut Holger sein Zeug auf. Eines nach dem anderen, sagte seine Mutter. Er hat sich die Reihenfolge gemerkt. Geburtstage und Zeugnisausgaben. Lass das Glas nicht dreckig werden.

Es ist jetzt sauber. Ein durchgespülter Körper, dem man nicht ansieht, was er produzieren konnte. Der Hund beginnt zu jaulen.

Er hat Schmerzen, sagt der Bestrafte.

Die Tabletten hat sein Herrchen gefressen.

Das Tier macht niemandem einen Vorwurf. Es winselt mit geschlossenen Augen.

Ich könnte auch heulen, sagt der Händler am Nebenstand.

Holger holt Weidenrinde vom Korbflechter.

Die Klofrau hat Permanganat, ohne es zu wissen. An der Suppenküche steht eine Essigflasche. Das Salz der Weide, Bodensatz ihrer Tränen. Hinter Glas reagiert der Extrakt der zerkochten Rinde. Tränen und Essig fallen zusammen und wieder auseinander. Das Zeug von der Klofrau zwingt sie dazu. Niederschlag legt sich auf den Boden einer Retorte.

Der Hund öffnet die Augen. Nebel und Aroma verändern den Schmerz. Sie rauschen im Radio. Der Bestrafte verpackt zwei Lampen, die nach Übersee fliegen. Holger mischt einen Löffel vom Bodensatz der Retorte mit zerschnittenem Grillfleisch.

Komm, friss.

Der wimmernde Hund versteht das nicht. Er frisst trotzdem und geht wieder ein in seinen Schmerz. Nach einer Viertelstunde ist er eingeschlafen.

Hast du die Töle vergiftet, fragt der Händler am Nebenstand.

Es ist noch was übrig, sagt Holger.

Der Mann kommt rüber und kniet sich vor das Tier.

Der lebt. Mein Rücken ist im Arsch. Gib her den Rest.

Holger kratzt die Retorte aus.

Die Zeppelinpost ist Lot 49 und bringt tausendfünfhundert. Der Trödler ruft an. Er kommt noch vorbei, seine Ware abholen. Die Sonne steht im Westen. Sie hat sich fabelhaft um die Erde gedreht. Wichtige Erkenntnisse beruhen auf alltäglicher Beobachtung.

Das sind Dinge, die Holger weiß. Es gibt einen Grund zum Feiern. Der Trödler besucht mit einer Schnapsflasche seine Kollegen. Holger macht das Glas sauber. Eines nach dem anderen. Er zieht das Papier unter dem Hund hervor. Die Worte knüllen sich.

Der Standnachbar hebt einen Karton an und trägt ihn herum.

Das ist unglaublich.

Tausendfünfhundert, sagt der Trödler.

Püppchen, du bist mein Augenstern. Er singt und will ins Bordell. Der Bestrafte trägt das Tier zum Wagen. Wenn ihr nicht mitkommt, dann kommt gut nach Hause. Der Trödler geht allein. Das Auto fährt Bögen um das, was nicht wegging. Der Fahrer schlägt ein auf die Straße.

Die haben alles Mögliche zusammengekocht im Knast. Was hast du da gemacht?

Ein bekanntes Schmerzmittel, sagt Holger an der Kreuzung.

Sie müssen hier abbiegen. Der Bestrafte schaut kurz zum schlafenden Hund. Er vergisst die Frage, die ihm auf der Zunge lag. 

 

Es gibt Menschen, die Autographen aus dem 18. Jahrhundert erwerben, um sie schnell und Gewinn bringend weiter zu verkaufen. Sie hätten mit den folgenden Seiten wenig anfangen können. Die Aufzeichnungen beruhen auf einer alten Handschrift, deren Autor es zu keinem belegbaren Nachruhm gebracht hat. Gleiches gilt für den beigelegten Brief mit dem Wappen eines ostbrandenburgischen Rittergutes. Ich habe in meiner Transkription den Brief an passender Stelle eingefügt und einige unleserliche Worte in einer mir geeignet erscheinenden Weise ersetzt. Zudem habe ich dem Text einen Titel gegeben:

 

9. Aurora oder Das Niemandsland

 

Trotz des unfreundlichen Wetters habe ich, Artur Rogowski, mich nach vorn und neben den Kutscher gesetzt. Ich will es sehen, das Niemandsland. Der große Leonhard Euler hat die Berechnungen angestellt: Seine Blindheit war ihm nicht hinderlich. Für die Bauleitung kamen Ingenieure von der holländischen Küste.

Quer zum Fahrweg ziehen sich Gräben durch die sumpfigen Wiesen. Sie sammeln Wasser. Es fließt in breitere Kanäle längst der kümmerlichen Bäume, die aus dem Weg einmal eine Allee machen sollen.

Die Pferde der Kolonne haben die stumpfe Farbe des Bodens. Auf den Gräben schwimmt grüne Grütze. Vögel kommen gelegentlich herunter und finden etwas Essbares. Sie nehmen es mit in den grauen Himmel. Irgendwann sollen Menschen hier etwas Essbares finden. So will es der König.

An der einzigen befahrbaren Strecke von Berlin nach Stettin sind Ortschaften verstreut, die dem Schutz und der Versorgung der Reisenden dienen. Alle paar Stunden zuckeln wir durch einen ummauerten Flecken. In diesem jetzt, zwanzig Kilometer vor Stettin, bleiben wir über Nacht. So hat es der Kaufmann befohlen, der den Tross führt. Für wenig Geld reise ich mit.

 

Eine Stunde vor Einbruch der Nacht stehe ich an einer Biegung der Straße. Links durch das Stadttor führt sie weiter zum Haff des Baltischen Meeres. Auf dem von der Biegung und der Stadtmauer umfassten Terrain befindet sich ein größerer Fachwerkbau. Darin sind eingerichtet unsere Herberge, die Gastwirtschaft und eine Apotheke. Eben erfuhren wir beim Essen in der Wirtschaft, dass es morgen nicht weitergeht. Übermorgen auch nicht. Es ist Krieg vor Stettin.

Eine Frau steht im offenen Fenster der Apotheke. Mit einem Mörser hantiert sie in einem Steintopf, ohne auf ihre Hände zu schauen. Ihre sichere Beiläufigkeit erinnert mich an die Frau, deren Namen ich trage. Das Schicksal ist eine Summe von Gründen, die uns kaum zugänglich sind. Ich trage in meiner Rocktasche einen Brief, der mir vor fünf Jahren gelegentlich meines Aufbruchs zum Studium nach Berlin ausgehändigt wurde. Verfasst hatte ihn der Herr des Rittergutes, auf dem ich aufgewachsen bin. Der Empfänger war bei meiner Ankunft leider verstorben. Daher habe ich den Brief geöffnet.

 

Mein lieber Wolfshagen,

 

ich schreibe Ihnen in Erfüllung väterlicher Pflichten. Ich tue das in doppeltem Sinn, denn wie Sie vielleicht gehört haben, schlägt sich mein Sohn Franz Anastasius recht ordentlich bei den Ulanen.

Vor siebzehn Jahren, lieber Wolfshagen, war meine geliebte Frau seit einem Jahr nicht mehr unter uns. Franz Anastasius hatte ein mannhaftes Alter erreicht.

Sie wissen, was Väter in der hiesigen Gegend dann zu tun pflegen: Das Haus der Madame Thekla in Rowno ist sauber und von äußerster Diskretion. Man übergibt den Jungen für eine Nacht einer einfühlsamen und gut honorierten Angestellten.

Nun, damals war es Winter und wir waren auf dem Gut so eingeschneit, dass man kaum zehn Meter vor das Haus gelangen konnte. Unter gar keinen Umständen war daran zu denken, anspannen zu lassen.

Ich hatte zu dieser Zeit ein Verhältnis mit einem polnischen Dienstmädchen. Marie Rogowski war verschwiegen, folgsam und ohne Anhang. Sie verstand mein Problem und war dem Jungen behilflich. Allerdings wurde sie schwanger.

Die Frage der leiblichen Vaterschaft musste nicht geklärt werden. Der Junge ging zum Militär, das Mädchen blieb auf dem Hof und ich kümmerte mich mit einem gewissen Abstand um alles Notwendige.

Das Kind, ein Knabe, von unserem Pfarrer nach einer gottgefälligen Spende auf den Namen ‚Artur‘ getauft, ist nun gleichfalls erwachsen geworden. Lieber Wolfshagen, ich bitte Sie als alten Regimentskameraden herzlich, dem Überbringer dieser Zeilen förderliche Begleitung und Protege beim Studium und in der ihm angemessenen Gesellschaft zukommen zu lassen.

 

In großer Verbindlichkeit,

 

von Seydelwitz, Rittmeister

 

Das Schicksal wollte es, dass ich niemals erfahren konnte, wie sich Wolfshagen eine angemessene Gesellschaft für mich vorgestellt hätte. Richtig ist, dass meine Mutter verschwiegen war. Von ihr hätte ich diese Geschichte nie erfahren. Ich habe auch nie nach einem Vater gefragt, weil es genug Männer auf dem Hof gab, die ich nach allem fragen konnte. Das war meine Bildung. An der Universität habe ich versucht, Naturphilosophie zu verstehen. Die Professoren begannen, Experimente vorzuführen. Sie sprachen auch von dem Vorhaben, diese Gegend hier zu verbessern und nannten es meliorieren, dem lateinischen Worte nach. Ich gehe zum Fluss.

Über die Straße und den Markt, haben sie in der Wirtschaft gesagt. Ich höre das Pock-Pock aus der Schusterwerkstatt und bemerke den Ledergeruch. Am Bollwerk sitzen Fischer, Frauen und Deicharbeiter. Das Wasser ist begradigt. Die Sonne sinkt auf ein Netz aus Gräben und Erdwällen, dort, wo der Fluss aus dem Horizont knickt.

 

Die Frau, die im Fenster der Apotheke stand,  heißt Kiebelworn. Ich habe es eben erfahren. Ihr Mann ist Wundarzt. Er kann zerschossene Gliedmaßen amputieren. Sie haben ihn geholt, natürlich. Frau Kiebelworn kam herüber geschlendert. Es ist nicht weit von der Apotheke zum Fluss. Jemand aus Berlin könnte ihr einige Fragen beantworten.

Ich bin ein Referendar, sage ich und hätte die Möglichkeit, in Stettin als Hauslehrer zu arbeiten.

In welchen Zeiten leben wir? fragt die Apothekerin in ernsthafter Sorge.

Ich ermutige mich, Frau Kiebelworn mit einer Mischung aus gehörtem Vorlesungsstoff und selbsterdachten Kommentaren zu unterhalten. Ihre Augen sind hellblauer Nebel. Als es dunkel wird, rede ich über Verlust.

Wenn Sie ein Buch verlieren, sage ich, mag es sein, dass Ihnen der Versuch der Rekonstruktion im Nachhinein nützlicher ist, als es das behaltene Buch gewesen wäre.

So geht es mir mit Rezepten, erwidert Frau Kiebelworn. Kommen sie mit und probieren sie etwas. Sie werden besser schlafen danach.

 

Das Mondlicht gilbt im Wasser der Schüssel neben meinem Bett. Ich halte die Fensterläden offen in der beschützten Stadt.

Ist es Zufall, wenn ich bleiben muss? Meine Mutter ist geflohen, zwei Jahre nach meiner Abfahrt vom Gut. Seltsamerweise hat mir das der Pfarrer geschrieben. Ein Knecht hatte sich ihm anvertraut. Marie Rogowski ging in den Wald. Irgendwo im Osten gab es vielleicht eine Köhlerhütte für sie.

Das Ererbte. Das Erlebte. Das Erstrebte. Die feine Gliederung eines Vortrages. Ich nehme ein paar Tropfen aus dem Fläschchen, das mir Frau Kiebelworn mitgegeben hat.

Mein Laudanum, hat sie gesagt. Gerade neu gemischt. Ich habe keinen Grund, Frau Kiebelworn zu misstrauen. Die Weisheit heißt seit Ewigkeit Sophia. Nun ist es so, dass ich gar nicht mehr schlafen will, weil ich meine ruhige Wachheit in hohem Maße genieße. Meine Mutter ging oft mit mir bis zu dem See, der zu dem Rittergut gehörte. Der See war ihr Spiegel und es schien mir, als ob sie niemals weitergehen könnte. Dann hat sie es doch getan. Ich stelle mir vor, dass sie über den See gegangen ist. Brauche ich diese Legitimation, um über das Meer zu wollen, das in Stettin beginnt? Ich habe keine Heimat hier, und der König wird sie mir mit all seinen Gräben und Dämmen, Kriegen und Ingenieuren auch nicht schaffen. Ich schlafe nicht im Niemandsland. Ich warte, bis ich am frühen Morgen das entfernte Pock-Pock aus der Schusterwerkstatt höre. Es ist wie auf dem Gutshof. Ein Geräusch des Lebens in dieser Gegend, wo kein einziger Getreidehalm wächst.

Ich gehe hinunter. Obwohl es nicht regnet, dringt Feuchtigkeit durch die Kleidung. Der Schuster hat die Tranlampe am Brennen. Ich halte meine Hände über die Flamme.

Die Fischer hier kenne ich alle, sagt der Schuster. Die Deicharbeiter sind anders angezogen.

Ich bin auf der Durchreise, sage ich.

Das ist gut. Welche Nöte machen dich beweglich? 

Da setze ich mich auf einen Schemel und erzähle es ihm.

Schreib mir einen Brief, sagt der Schuster. Ich lese gern. Du kannst die Lampe löschen. Wir bekommen Besuch.

Die Werkzeuge und Regale überziehen sich mit einem rötlichen Schimmer. Dunkle Teller, die in einem bestimmten Winkel zum einfallenden Licht stehen, beginnen golden zu strahlen. Der im Nebel draußen kaum sichtbare Sonnenaufgang taucht den kleinen Raum in eine wundersame Helligkeit. So nehme ich es wahr, ohne an das Laudanum zu denken.

Ich bin nicht erschrocken. Ein wenig erstaunt vielleicht. Was ist das?

Aurora, sagt der Schuster. Bist du ihr noch nie begegnet? Nun gehe hinaus und laufe ihr nach. Eine bessere Freundin wirst du nicht finden. 

 

 10. Die längste Rutsche der Welt

 

Überall auf der Welt gibt es Straßen, die den Menschen die eine oder die andere Seite zuweisen. Leroy saß auf der einen und ich ging auf der anderen. Ich ging eine Weile auf und ab vor dem Hotelressort, in dem ich einquartiert war. Leroy winkte, aber er wäre niemals über die Straße gegangen. Sein Revier war die andere Seite. Er bettelte und verkaufte Musikaufnahmen lokaler Reggae-Bands. Er verkaufte auch noch andere Sachen oder behauptete, sie besorgen zu können.

Diese Straße lief entlang der Klippen von Jamaica. Die Seeseite gehörte den Touristen. Sie konnten vor den Felsen ins Wasser rutschen. Gegenüber der Poolbar erstieg man eine kleine Plattform. Natürlich ist es atemberaubend, die längste Rutsche der Welt hinunter zu schauen. Es war windig auf den Klippen und irgendeine Zeit außerhalb der Hochsaison.

Leroys Tisch stand vor einer Bretterbude, in der Bier verkauft wurde. Seine Freunde rauchten ganja. Ihre Bewegungen waren die verzögerten Akkorde der Musik, die sie erfunden hatten. Jemand setzte sich an Leroys Tisch. Zwischen ihnen lag ein Spielbrett.

Die Spielsteine sprangen und verwandelten sich. Leroy winkte und ich ging über die Straße.

Die letzten Steine seines Gegners flogen vom Brett. Leroy steckte zwei Dollarscheine ein, die auf dem Tisch lagen.

Willst du spielen?

Die Jungs wurden ruhig.

Ich weiß nicht, ob ich eure Regeln kapiert habe.

 Jamaician Checkers. Hol mir ein Bier. Ich erkläre dir alles.

Ich holte Bier für ihn und für mich.

Es war nicht viel anders als das Dame, das ich früher spielte. Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei, das in den Jahren meiner Kindheit in einer russischen Fabrik gebaut wurde.

Ein Moskwitsch, sagte ich verwundert.

Er kennt diese Karre, schrie Leroy und schüttelte den Kopf.

Das Fernweh war mir voraus gefahren. Es hatte Haken geschlagen. Ich war hier nicht als Tourist. Ich brauchte Stempel im Pass, um wieder in die Staaten zu können. Es gab Regeln.

Ich holte noch zwei Bier. Eines für mich, weil ich trinken wollte. Eines für Leroy in Anerkennung seiner Platzrechte. Wir legten beide einen Dollarschein neben das Brett. Leroy gewann und räumte ab.

Die Jungs pendelten ihre Oberkörper aus, immer weg vom Schlag. Ein Spielstein hieß soldier. Er wurde zum king, wenn er die Grundreihe des Gegners erreichte. Mir fielen ein paar Tricks ein, mit denen ich irgendwann meine Klassenkameraden besiegt hatte.

Niemand glaubt, dass es auf einer sonnigen Insel früh dunkel wird. Der Äquator zog uns in die Nacht. Ab und zu warf sich der Scheinwerfer eines Autos über das karge Terrassenlicht. Wir steckten Geldscheine ein und holten sie wieder heraus.

Machen wir morgen weiter, sagte Leroy.

Er war im Plus, viel konnte es nicht sein. Leroy hatte keine Ahnung, wie wenig bei mir zu holen war. Ich ging zurück über die Straße. Die Amerikaner an der Bar hielten ihre Mützen fest. Sie nutzten die billigen Tarife zum Beginn der Hurricanzeit. An einem Mast war eine Signalflagge aufgezogen. Die Amerikaner hatten Pläne. Eine Hotelmanagerin erläuterte das Ausflugsprogramm für den nächsten Tag. Im Inneren der Insel war es nicht so windig. Die Plattform der Rutsche erhob sich über allem. Ein kleiner Blitz schlängelte am Geländer entlang.

An den kommenden Tagen schob der Wind manchmal einen Spielstein auf das Nebenfeld. J’adoube, sagte dann einer von uns. Wir rückten zurecht und machten weiter. Leroy sprach das Patois-Englisch der Einheimischen. Es war der Akzent einer Sprache vom Grund des Sargassomeeres. Meine Felder sind in den Bergen, sagte Leroy. Wo sie niemand findet. Er besaß Autoschlüssel, die er herausgab, wenn einer der Jungs zum Flughafen wollte. Dort landeten Touristinnen, die unter geflochtenen Haaren nach Klarheit suchten.

Die Hotelmanagerin suchte ein Gespräch mit mir. Sie war sehr ernst und drückte mir einen bunten Flyer in die Hand. Bitte vertrauen Sie unserem Programm. Auf dem Flyer war ein Bild der Rutsche zu sehen. Ich ging hinaus, um das Bild mit dem Original zu vergleichen.

Die Amerikaner waren unterwegs. Der Barkeeper unterhielt sich mit zwei Zimmermädchen. Der Keeper füllte das Bier in Kunststoffbecher, die sich auf dem glatten Tresen bewegten. Die Signalflagge flatterte. Ich zog mein T-Shirt aus und ging zur Plattform der Rutsche. Die Mädchen riefen mir etwas hinterher, das ich nicht verstand. Es waren Mädchen, die niemals lachten. Der Wind war warm und wehte weiße Flocken gegen den Felsen. Er trug mich für einen Moment, bevor ich in den Ozean fiel. Danach war ich ein Auge im Meer, das Periskop der Schiffbrüchigen. Sehr weit oben standen drei Menschen. Ich schwamm gegen die Wellen, bis sie mich zurück brachten wie ein entlaufenes Kind. Der Felsen wollte mich nicht. Sie spielten Pingpong, das Meer und die steinerne Insel. Mein Arm schlug unter Wasser gegen ein Stück Metall. Ich hielt das Geländer einer Leiter, die senkrecht zum begehbaren Land führte.

Die Blicke an der Bar waren fremd.

Wolltest du dich umbringen, fragte eines der Mädchen.

Der Barkeeper gab mir Papierhandtücher. Wisch das Blut ab.

Ich ging über die Straße. Rote Zeichen schwammen auf meiner Brust. Leroy blies Rauch auf die zerrissene Haut. Wo warst du?

Im Meer.

Ich muss weg, sagte Leroy und las in den Zeichen. Du machst den Job hier.

Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte in der Bretterbude Bescheid. Ein Mädchen kam heraus und flocht Zöpfe in mein Haar. Ich gewann ein paar Partien Jamaician Checkers. Der Moskwitsch fuhr vorbei und hupte. Jemand klapperte mit Autoschlüsseln.

Wo ist Leroy?

Das ist mein Job heute.

Er starrte auf meine blutige Brust und ließ die Schlüssel auf dem Tisch. Ein Tourist aus dem Südtirol kaufte Demo-Tapes von Bob Marley. Das glaubte er jedenfalls. Ich verriet ihm den Namen einer Diskothek. Hier ist alles gut zu finden. Wir sind nicht in den Bergen. Die Sonne rutschte von den Klippen ins Meer.

Das Geld lag unter dem Spielbrett. Es gehörte den Königen und Leroy und mir, aber wir gaben den Königen nichts ab, als wir teilten.

Ya man. Es war spät oder früh, je nachdem.

Wie lange bleibst du?

In acht Stunden bringt mich der Hotelbus zum Flughafen. Meine Sachen sind in Florida.

Leroy gab mir eine zerknitterte Karte.

Da steht die Telefonnummer von ‘nem Freund drauf. Ruf an, wenn du wieder hier bist. Der erkennt dich am Akzent.

Irgendwann ist es Patois, sagte ich.

 

Kann sein, dass es an den Zöpfen lag. Der Beamte der Abfertigung in Miami schaute mich an. Er blätterte lange in meinem Pass und gab ihn mir nicht zurück. Ein zweiter Beamter tauchte auf. Er führte mich in einen Raum, der irgendwo zwischen der Abfertigungshalle und den Vereinigten Staaten von Amerika lag. Ein dritter Beamter stellte mir Fragen.

Wovon lebst du?

Ich erzählte ihm, dass ich ein freier Autor war, der über Musik schrieb und Recherche betrieb für einen deutschen Produzenten. Ich hatte eine Schreibmaschine im Handgepäck und Manuskriptseiten. 

Er glaubte mir kein Wort.

Der zweite Beamte durchwühlte meinen Koffer.

Keine Kondome.

Er sah mich an.

Muss ich Kondome dabei haben, um einreisen zu dürfen?

Vielleicht brauchst du sie da, wo du hergekommen bist, sagte der dritte Beamte.

Weißt du was?

Ich machte keinen Versuch, die Frage zu beantworten.

Sein Kollege hielt meine Zahnbürste gegen das Licht.

Solche Burschen wie dich kennen wir hier. Raus und wieder rein, irgendeinen Job machen ohne Erlaubnis.

Er war ein fähiger Beamter, der alles sofort durchschaut hatte.

Damit ist jetzt Schluss.

Er zeigte auf einen Stempel in meinem Pass.

Genau dahin schicken wir dich. Dahin, wo du dich eingecheckt hast. Ich setze dich in das nächste Flugzeug nach Kingston Town. Was hältst du davon?

Noch eine schwierige Frage.

Er hatte sich zurückgelehnt. Seine blonden Haare waren ordentlich gescheitelt. Er war nicht fanatisch, nicht einmal unsympathisch. Er machte seine Arbeit.

Was sollte ich davon halten?

Du bist ein mächtiger Mann für viele. Ich glaube, dass du glaubst, das Beste für dein Land zu tun. Ich glaube allerdings nicht, dass du ein guter Spieler bist.

 

Niemals wirst du Herr sein über eine Straßenseite in Jamaica.

 

 

 

11. Das große Werk

 

Vor der Stadt sind die verwachsenen Wiesen ein Lager ihrer Zerrissenheit.

Genügend Gesträuch, um den Blick über die Ebene nicht haben zu können.

Zwischen dem großen Werk & den Blöcken. In den Blöcken wohnen Menschen, die das große Werk vollbringen. Eine Jacke zum Drunterlegen. Fast noch Kinder, die beiden. 

Auf den betrunkenen Gräsern wohnen Häuser in Menschen. Treppengeländer im Bauch. Vielstöckig türmt sich Geschlinge. Die Wohnungen des großen Werkes sind sich ähnlich. Das beschreibt nicht die Einsamkeit dieser drei Zimmer. Das beschreibt nicht die Eltern und Geschwister neben den Tapeten.

An den Wochenenden essen sie gemeinsam an einem Tisch, der sich durch einen kleinen Trick verlängern lässt. Der Vater bügelt seine Hemden selbst. Die Mutter wischt Staub von einer Weinflasche, die seit dem Tag ihrer Hochzeit auf einem Regal an der Wand steht. Ihre älteste Tochter hat jetzt einen Freund.

Sie hat Unkraut im dreckigen Kleid.

Über dem Werk brennt die ewige Flamme.

Vor  der Stadt läuft ein Rinnsal hinauf in den glänzenden Turm.

 

Illustration: Briefmarken, © 2020 Reiner Lietz

 

12. Briefmarken

 

Er starb noch vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Der Krebs hatte ihn zerfressen und eine uneingestandene Sehnsucht. Einige Wochen vor seinem Tod fragte er mich, ob ich die Briefmarken nehmen würde.

Ich hatte schon lange aufgehört, mich für Briefmarken zu interessieren. Als Kinder sammelten wir beide. Später nahm er die Alben mit aus dem Elternhaus. Ich sah keinen Grund, ein Veto einzulegen. Ein Mann, der sich um die Haushaltsauflösung kümmerte, brachte einen Umzugskarton. Ich erkannte die alten Alben.

 

Neben dem Tisch steht der Karton mit den Briefmarken. Ich versuche, mir zu vertrauen. Die Alben aus unserer Kindheit haben metallene, glänzende Rücken. Sie wirkten modern damals wie das Postgebäude in der kleinen Stadt, die uns mit zerschossenen Augen aufwachsen sah. Die Post war das einzige neue Gebäude im Ort. Es war ein flacher weißer Bau mit riesigen Glasfenstern an der Vorderfront. Die Schalterhalle kühlte unsere Sommer. Mein Bruder begann, afrikanische Briefmarken zu sammeln. Diese Marken waren leuchtend und fröhlich und manchmal sogar dreieckig. Ich glaube, sie waren niemals in Afrika. In unserem Land wurde vieles gedruckt. So war es einfacher, als die großartigen Druckmaschinen irgendwo hinzubringen. Sie blieben hier und wir blieben hier. Damit nicht alle Marken bunt sind, tauschte ich alte Papierschnipsel mit den Köpfen von Monarchen und Königinnen ein. In mir glühte die Hoffnung, einen Schatz zu finden.

 

Über Wasserdampf lösten sich die Briefmarken von den Urlaubskarten. Sie kamen vom Balaton oder aus Prag oder vom Schwarzen Meer. Wir saßen in der Küche und schrieben Briefe voller russischer Phrasen. Mein Bruder Hagen schloss Freundschaft mit dem Sohn der Postangestellten. Seine Mutter überließ ihm die Sammlermarken, die in der Post nicht abgeholt wurden.

Ich war jünger und neidisch, als Hagen begann, sich mit einem Mädchen zu treffen. Das Mädchen lehnte sich an ihn, wenn er durch ein Album blätterte. Er kannte alle afrikanischen Länder und Hauptstädte. Sie machten eine Reise und gingen dann aus der Wohnung.

 

Ich sortiere die Marken noch einmal.

 Ehrgeiz in der Schule hätte seiner Beliebtheit geschadet. Er begann ein seltsames Studium. Das lag vielleicht an einer verschwiegenen Freundschaft. Hagen, dem alte Sachen egal waren, studierte Museumskunde. Er bekam eine Tochter und kaufte Briefmarken mit Pferdemotiven. Seine Arbeitsstelle wurde ein großes graues Haus. Nirgendwo standen dort Öffnungszeiten. Häufig war er unterwegs, als Wanderer oder Besucher großer Freiluftkonzerte. Überall schloss er Freundschaften.

 

Es kam eine Zeit, in der sich diese Freundschaften lösten. Die Leute redeten viel über das große graue Haus. Darüber, wer dort wirklich gearbeitet hat. Das Land wurde ein anderes Land und Hagen zog in eine andere Stadt.

Er hatte eine neue Arbeit gefunden. Mit einem Koffer voller Medikamente besuchte er Ärzte und überbrachte Geschenke. Die Ärzte erhielten Flugtickets und Hotelreservierungen. Sie schickten ihm Karten von sonnigen Stränden. Für die Karten hatte Hagen einen besonderen Ordner. Sie waren die Erfolge, an denen er gemessen wurde. Hagen verwandelte Misstrauen in freundliche Grüße.

Er erwarb unsortierte Briefmarken in großen Umschlägen. In seiner Garage stapelten sich Probepackungen neuer Pharmazeutika. Das große und graue Haus von damals wurde zu einem Museum. Hagen fuhr an den Wochenenden wieder zu Konzerten der Bands, die er vor Jahren gehört hatte. Er musste nicht mehr auf besondere Dinge achten. Seine Krankheit begann mit Schluckbeschwerden. Dann kamen die Schatten auf der Lunge. Er hörte auf, die gekauften Briefmarken einzuordnen. Manchmal nahm Hagen ein Telefon in die Hand.

 

Wie sollte er erklären, dass es ihm um die Freundschaft ging.

Seine Urne wurde zurückgebracht in die Stadt unserer Kindheit. Die alte Postangestellte konnte sich noch an ihn erinnern. Sie legte ihm ein paar übrig gebliebene Briefmarken ins Grab.

 

 

13. Die Siegerin

 

Mecklenburg, 1981

 

Beinahe in jedem Jahr heiratete eine meiner Kusinen. Tante Gerda und Onkel Ernst zogen ein halbes Dutzend Mädchen groß, mindestens. Es kann durchaus sein, dass mir ein oder zwei Hochzeitsfeiern entgangen sind. Onkel und Tante und all ihre Töchter lebten auf dem Land oder zwischen den Seen. Beides ist richtig. Sie wohnten in einem Bauernhaus. Dieses Haus und die dazugehörigen Schuppen, Ställe und Böden bot genug Platz, um bei jedem Fest die weitläufige Verwandtschaft unterzubringen. Die Erwachsenen schliefen im Haus und die Kinder da, wo es ihnen passte. Wenn es warm war, stellte Onkel Ernst ein Zelt an den See. Eine der noch ledigen Töchter wusste immer ungefähr, wo welches Kind gerade war. Sie waren stolz darauf, Tanten zu sein und hüteten die Gören ihrer Schwestern und den Rest dazu. Wir ergaben uns der Verwahrlosung. In der großen Küche war immer eine Frau, die jedem, der vorbeikam, eine Mahlzeit aufdrängelte. Für Onkel Ernst war wichtig, dass keiner der Erwachsenen Durst hatte. Es gab genug Vorrat im Haus, und die große Feier fand sowieso in der Gastwirtschaft statt. Irgendwann war ich kein Kind mehr, aber noch kein Erwachsener. Demzufolge achtete überhaupt niemand auf mich. Für die einen war ich zu alt, für die anderen zu jung. So kam es mir jedenfalls vor, und ich habe dieses Gefühl niemals verloren.

Der Ort, an dem wir uns versammelten, hieß Roggenow. Amtlich bestand er aus zwei Ortsteilen, Groß- und Klein-Roggenow. Tatsächlich waren es noch mehr verstreute Gehöfte, die zur Gemeinde gehörten. Die Kinder hier hatten von Anfang an weite Wege für sich selbst und alles, was sie durch die Gegend transportieren mussten. Jedes Jahr kamen Talentsucher der Sportclubs vorbei. Die Mädchen konnten rudern und die Jungen weinten nicht. Einige wurden Olympiasieger.

Das war der Weg von Roggenow in die Welt. Man konnte ihn üben auf dem unbefestigten Feldweg, der von Groß-Roggenow nach Klein-Roggenow führte. Auf halber Strecke war der Abzweig zum See. Ich ging hinunter, nachdem ich mich für keinen Ortsteil entscheiden konnte.

Ein schmaler Waldstreifen umrandete das Wasser, der Platz ließ für eine Badestelle und einen grob zusammengezimmerten Steg. Ich hielt Ausschau nach dem Boot, das dort sonst angebunden war. Vielleicht war jemand zum Angeln draußen. Das Boot war draußen, ja. Es bewegte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Völlig synchron kamen die Ruder aus dem Wasser und tauchten wieder ein. Wie mit dem Lineal gezogen hielt das Boot seine Richtung. Niemals hätte ich gedacht, dass man einen Angelkahn so schnell durch das Wasser treiben kann.

In diesen Anblick versunken stand ich nun wie angewurzelt. Leise hörte man das gleichmäßige Eintauchen der Ruder. Die Tiere im Wald waren still. Die Kinder im Wald kamen mit Indianergeheul herausgestürzt.

Haben wir uns gut versteckt?

Besser als Chingachgook, die große Schlange, sagte ich.

Hinter ihnen kam Gitti aus dem Wald. Sie war die jüngste der Kusinen, immer noch ein oder zwei Jahre älter als ich. Ein Wesen diffuser Träume.

Länger konnten sie nicht still bleiben, sagte Gitti. Da draußen rudert Susanne. Sie war in meiner Klasse, bevor sie zur Sportschule ging. Es sind ja Ferien, aber trainieren muss sie trotzdem.

Die Sportschule war etwas Besonderes. Der Umsteigebahnhof auf dem Weg von Roggenow in ferne Länder. Der morsche Angelkahn war eine Fähre, mit der man große Ozeane überqueren konnte. Er drehte ab und kam zum Ufer.

Gitti watete ins Wasser und half Susanne beim Festmachen des Bootes.

Du kommst heute Abend auch?

Natürlich. Dein Papa hat uns eingeladen. Meinen Freund und mich.

Wow. Wen hast du dir denn mitgebracht?

Der Harry ist Boxer. Hat die letzte Spartakiade gewonnen in seiner Altersklasse.

Da bin ich gespannt, sagte Gitti.

Ich war es auch. Ausgerechnet in Roggenow trifft man solche bedeutenden Menschen. Ich nahm mir vor, am Abend irgendwie mit Harry ins Gespräch zu kommen. Susanne machte Lockerungsübungen in ihrem klatschnassen T-Shirt. Die Kinder hopsten um sie herum. Ich ging zurück, weitaus unruhiger als die struppigen Blumen in den beiden Gräben längst des Feldweges. Das Bauernhaus war menschenleer.

Offenbar hatten alle in die vorhandenen Autos gepasst und waren mit zum Standesamt gefahren. Ich nahm mir eine Zigarette aus einer herumliegenden Schachtel und Streichhölzer. Eine angebrochene Bierflasche auch noch. So saß ich auf einer Kiste im Hof. Die Unruhe legte sich langsam. Ich ging in den Kuhstall, um mit jemanden zu reden. Die ganze Gesellschaft würde sicherlich vom Standesamt direkt zur Gastwirtschaft fahren. Irgendwo fand ich meine Tasche und ein sauberes Hemd. Aller Erfahrung nach kam in dreißig Minuten der erste Gang auf den Tisch. Ich machte mich auf den Weg.

Nach der Brühe gab es gemischten Braten mit verschiedenem Gemüse. Dann noch Pudding und Götterspeise. Beim Nachtisch trudelte die Kapelle ein. Onkel Ernst ging mit den beiden Musikern zum Tresen. Ich hatte schon lange Susanne und ihren Boxer ausfindig gemacht.

Im Saal der Gastwirtschaft war eine lange Tafel zusammengeschoben. Die Gäste hatten sich nach Familie, Dorf und Sonstiges sortiert. Gitti lief ständig an der Tafel hoch und runter, räumte mit ab und überbrachte Informationen. Sie stand oft bei den Dorfleuten, zwischen Susanne und dem Boxer. Als zum ersten Tanz aufgefordert wurde, war Susanne wohl auf Toilette. Gitti schnappte sich den Boxer oder umgekehrt. Bei der ersten Runde durfte niemand sitzenbleiben. Ich nahm mir schnell Zigaretten und entkam nach draußen.

Im Dunkel rauchte ich und bemerkte Susanne. Sie stand beinahe neben mir. Wir hörten aus dem Saal den Eröffnungswalzer.

Ich kann keinen Walzer tanzen, sagte Susanne.

Vielleicht war sie auch geflüchtet.

Dein Freund kann es aber?

Der Trainer schickt die Boxer zum Tanzkurs. Wegen der Koordination und der Beinarbeit. Im Ruderboot brauchst du das nicht.

Wie ist es an der Schule?

Wie überall. Bisschen mehr Sport.

Mehr sagte sie nicht. Wir warteten das Ende der Runde ab und gingen in den Saal. Die Gäste liefen herum und hatten ihre ursprünglichen Plätze aufgegeben. Es war schwer, jemanden im Blick zu behalten. Ich beschäftigte mich damit, da und dort einen Schluck aus einem abgestellten Bierglas zu trinken. Irgendwann kam bestimmt ein beklopptes Spiel für alle. Das wäre eine Gelegenheit, den Boxer wieder ausfindig zu machen. Ein wenig mehr als Susanne musste mir Harry erzählen. Boxen hatte einen großen Reiz, wenn man sich seiner eigenen Verteidigungsfähigkeit nicht sicher ist.

Hinter dem Haus führte, auf halbem Weg zu den Toiletten, ein Pfad nachts rechts in einen umwachsenen Sommergarten. Still und dunkel lag er da und war ein guter Platz für mich und die nächste Zigarette. Ich hörte ein leises Wimmern. Das Streichholz beleuchtete eine Gestalt, die auf zwei nebeneinander gestellten Gartenstühlen lag. Es war Gitti.

Sie war es, brachte Gitti heraus. Ich habe nichts gesehen, aber ich weiß, dass sie es war.

Soviel konnte ich verstehen durch die Hände vor ihrem Gesicht. Der Körper bebte im Rhythmus einer neuen Tränenattacke.

Was ist denn passiert, Gitti?

Harry hat mich geküsst. Oder ich ihn.

Ihr habt doch getanzt, sagte ich. Da geben sich viele hinterher einen Kuss.

Vielleicht war es ja mehr als nur ein Kuss.

Noch einmal wurde sie durchgeschüttelt. Plötzlich streckte sie die Arme aus.

Hilf mir.

Ich zog sie langsam in eine sitzende Position.

Dann sagte sie sachlich: Susanne hat mich verkloppt. Ich hoffe, die Knochen sind heil geblieben. Bringst du mich bitte nach Hause?

Ja klar.

Wir mussten wieder über den Feldweg. Von Klein-Roggenow nach Groß-Roggenow. Gitti setzte in Zeitlupe einen Fuß vor den anderen. Eine schwierige Nacht stand uns bevor. Ich war nicht größer als Gitti. Sie konnte sich auf mich stützen. Fast war es so, als würde sie mich umarmen. Ich roch ihr Parfüm und weiß der Teufel was noch. Es war berauschender als das Bier, das ich getrunken hatte. Niemand begegnete oder folgte uns. Ein Reh stand vor dem Wald und schaute von weitem.

Wir brauchten Stunden, um bis zum Haus zu gelangen. In all diesen Stunden verwandelten sich meine anfänglichen Sorgen in die Gewissheit, dass es wohl tatsächlich Wege gibt, die man endlos weitergehen könnte.

Gitti unterdrückte ihre Schmerzen. Sie schrie erst auf, als sie in ihrem Zimmer auf das Bett fiel. Erschrocken stand ich davor, bis sie sich beruhigt hatte.

Es geht schon.

Sie lag auf dem Bett, wie sie in das Zimmer gekommen war.

Ich mache keine Bewegung mehr.

Sollte ich dir vielleicht, fragte ich unsicher, die Schuhe ausziehen?

Bitte, sagte Gitti.

Sehr vorsichtig hob ich einzeln ihre Füße an und streifte die Schuhe ab.

Danke, sagte Gitti.

Sie schien gleich eingeschlummert zu sein, wurde aber noch einmal wach.

Ich will nicht in Rock und Bluse schlafen.

Sie machte die Augen wieder zu und konnte nicht sehen, wie ich ihre Bluse aufknöpfte. Jedenfalls blieben die Knöpfe noch dran. Der Rock hatte einen Reißverschluss an der Seite. Ich hob und schob und zog und hatte sie raus aus den Sachen.

Danke, murmelte Gitti nochmals. Irgendwo liegt eine Decke.

Die Decke lag auf dem Sessel.

Schweren Herzens breitete ich sie über Gitti, auf deren Körper sich blaurandige Konturen abzeichneten.

Danach ging ich in den Stall. Ich erklärte den beiden Kühen, dass Gitti eine Tracht Prügel bekommen hatte, weil sie Walzer tanzen konnte.

 

Harry, der Boxer, hat es nicht geschafft. Nach einer Verletzung flog er irgendwann aus dem Kader. Susanne allerdings saß einige Jahre später in einem der Boote, die olympisches Gold gewannen. Sie hat ihren Trainer geheiratet. In den neunziger Jahren folgten die beiden einer Einladung nach China, wo es für den Trainer jede Menge zu tun gab. 

 

Illustration: Die Hände der Comtessa, © 2020 Reiner Lietz | Foto: Thomas Mascher

 

 

14. Clementi: Die Hände der Comtessa

 

Warum hat er sich eigentlich nie in eines dieser Mädchen verliebt?

Clementi folgt dem Vortrag einer Schülerin.

In Hände, eine Stimme, ein Dekolleté.

Sie spielt ein Menuett von Mozart.

Einmal musste Clementi mit ihm um die Wette spielen. In Salzburg war das wohl, auf der Hofburg. Eine Inszenierung. Selbst die leichten Stücke von Mozart sind nicht leicht. Man merkt es ihnen nicht an.

Die Comtessa ist erst zwölf. Hatte sie dieses Stück von ihm bekommen?

Er wird sich nun auch in die Comtessa nicht mehr verlieben.

Ihre Zofe hat sich viel Mühe gegeben mit den Fingern. Die Nägel sind glatt wie der Klang in diesem Raum. Wie nennen sie es, Kabinett? Bei Gott, es ist ein Tanzsaal. Die Comtessa kann vermutlich besser Menuett tanzen als spielen.

Muss sie Talent haben?

Er hatte dieses Wort aus allen Sprachen gestrichen, die er beherrscht.

In einigen Jahren wird man ihr junge Männer vorstellen. Es ist nicht egal, ob sie ein wenig auf dem Piano parlieren kann. Sie muss es dann können. Das wird von Clementi erwartet. 

Dafür baute er ihr sogar ein Klavier. Dieses Instrument ist in keiner Weise ein Geheimnis für ihn. Er korrigiert.

Comtessa, spielen Sie dieses fis, das  f sharp oder fa sostenido, mit dem Mittelfinger. Dann den Daumen darunter setzen, und die Passage gelingt besser. Sehen Sie.

Er hatte über die Mechanik der Tastatur nachgedacht, damit diese kleinen Kunststückchen möglich sind.  In London gehört ihm eine Manufaktur. In London war möglich, was der Mozart in Wien nicht zustande bringen konnte. Ein Bürger zu sein, kein Lakai.

Der Mozart war von seinem Vater zum Lakaien erzogen worden, und dann wollte er keiner sein. Ein Bürger konnte er nicht sein. Er hatte immer nur alles im Kopf. Das reicht nicht.

Verehrte Comtessa, dieses Instrument heißt auch Fortepiano, weil man darauf laut und leise spielen kann. Versuchen wir das. Zwei Takte etwas lauter, dann nehmen Sie zurück. Als ob Sie fortgehen, verstehen Sie? Die Schritte werden leiser.

Mozart verspielte sein Geld, wenn er denn welches hatte. Er ging abgebrannt durch das nächtliche Wien, vom Casino nach Hause, und schrieb eine Serenade. Im Kopf natürlich. „Eine kleine Nachtmusik“ nannte er sie später. So war er.

Ein Träumer, der glaubte, Freiheit kann man sich einfach so nehmen.

Dieses Menuett komponierte er als Kind. Trotzdem ist es nichts für Kinder.

Comtessa, lassen Sie uns einen Dreiklang und seine Umkehrungen spielen. Sehen Sie, schon haben wir ein Thema. Wie könnte es weitergehen? Vielleicht so. Spielen Sie einfach. Jetzt drehen wir die Umkehrung um; ich sehe, es bereitet Ihnen Freude. Ich werde es aufschreiben und Ihnen heute noch die Noten schicken. Eine kleine Sonatine.

Apropos Noten: Ihr Herr Vater hat mir vorhin diese Blätter gegeben und mich gebeten, Sie mit einer gerade sehr beliebten Piece meines Kollegen Beethoven aus Wien vertraut zu machen. Wie ich sehe, ist es eine eigenhändige Kopie von ihm. Ich darf Ihnen empfehlen, diese Blätter gut aufzubewahren, Comtessa, auch wenn das Stück dem Titel nach einem Fräulein Elise zugeeignet ist.

Die Comtessa erhebt sich artig, um ihm den Platz am Klavier zu überlassen. Sie stützt sich beim Stehen ein wenig mit dem Ellbogen auf dem Instrument ab und neigt erwartungsvoll den Kopf. Interessiert es Sie wirklich? Ihr Gesichtsausdruck übt die distanzierte Neugierde eines Anbahnungsgespräches.

Wer ist Elise, Ludwig?  Eine deiner Schülerinnen?

Du hattest keinen Unterricht mehr bei mir damals, du warst schon fertig. Jedenfalls verstandest du mehr vom Geschäftlichen als der Mozart. Aber dieses Stück ist ganz und gar nicht geschäftlich. Es ist auch nicht im Druck. Ein trauriges Rondo. Die Comtessa weint und merkt es nicht. Eine Träne rollt über ihre Wange. Sie wird sehr schön sein, wenn sie das nicht verlernt.

Warum hat er sich eigentlich nie in eines dieser Mädchen verliebt? Dem Beethoven mag es anders ergangen sein.

Ich werde es nicht spielen, sagt die Comtessa. Ich würde es verderben.

Sie hat sich irgendwoher ein kleines Spitzendeckchen genommen.

Wenn ich sie richtig verstanden habe, Professore, kennen sie den Komponisten dieses Stückes.

Ich bin ihm vor Jahren in Wien begegnet. Er ist viel jünger als ich, aber das sind mittlerweile fast alle. Nunmehr, da ich meiner Pianomanufaktur auch einen Musikverlag angegliedert habe, würde ich gern seine Kompositionen drucken.

Kommt er dann her?

Er war gerade hier.

Die Comtessa darf sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen. Das ist die Erziehung. Sie müssen mir mehr von ihm erzählen, sagt sie. Ich werde fleißig ihr Stück üben. Die Comtessa flüchtet aus einer dunklen Ahnung heraus zurück in die Kindlichkeit.

Niemals hat er sich in eines dieser Mädchen verliebt, in der Zeit, in der sie zu Frauen wurden. In all den Jahrzehnten ist das nicht passiert. Er hat es einfach vergessen. 

 

Illustration: Ohne Titel, © 2020 Reiner Lietz

 

15. Schach & andere jugendgefährdende Spiele

 

Für ihre Musikschule hat Missis Rhone einen der vielen Flure eines alten Postgebäudes angemietet. Ein Haus wie eine Burg. Vom Turm aus könnte man eine ankommende Postkutsche schon von weitem sehen. Auf dem Innenhof des quadratischen Backsteinbaus stehen die Transporter einer Paketauslieferung. Das ist von der Post übrig geblieben. Bestimmt liegen in irgendeinem Kellerraum noch vergessene Briefmarken, so alt wie das Gebäude selbst. Ihr müsst einmal heimlich suchen gehen, rate ich meinen Schülern. Die Kinder finden das nicht spannend. Sie interessieren sich nicht für Briefmarken.

Luan spielt mir auf seinem Telefon den Soundtrack eines Videospiels vor. Durch das hohe Fenster des Unterrichtsraumes fällt Tageslicht. Das Licht betont die Konturen einer ehemals in der Wand befindlichen Türöffnung. Der Soundtrack beginnt mit einem sehr frei bearbeiteten klassischen Thema.

Sechs Nächte im Charly, sagt Luan.

Worum geht es, frage ich.

Du bist Nachtwächter im Charly, und Viecher sind hinter dir her, die tagsüber so tun, als ob sie Menschen sind. Spielen mit den Kindern und so. Nachts wollen sie in dein Büro und dich übel zurichten. Du musst immer auf die Monitore achten.

Ich sehe auf dem Bildschirm des Telefons die Monitore, die ihrerseits die Bilder fiktiver Überwachungskameras zeigen. Einen Billardtisch, eine Küche mit großen Kühlschränken, Restauranttische. Irgendwo wackelt ein Regal.

Da ist einer, ruft Luan. Pass bloß auf.

Ich hör auf die Musik, sage ich. Willst du das wirklich spielen?

Natürlich. Ich hab in der Schule schon gesagt, dass ich das auf dem Klavier kann.

Da hast du dir was eingebrockt.

An das Thema kann ich mich einigermaßen erinnern. Das reicht für heute. Luan hat nur eine halbe Stunde. Missis Rhone erklärt ständig, dass seine Mutter in Zahlungsverzug ist. Ich hoffe, dass sie bald einen Abschlag überweist. Luan braucht den Unterricht. Vor allem, um anzugeben. Das ist eine ehrenwerte Motivation.

Es ist noch hell, als Clemens herein kommt. Clemens ist kein Kind mehr und größer als ich. Er wirft Schatten auf die Noten. Ich gehe zum Lichtschalter. Entweder angeben oder siegen. Er hat Schach gespielt in der Schule. Beim Boxen sieht man das Blut. Beim Schach geht alles nach innen. Clemens versucht, eine Sonate zu spielen. Nicht einmal Champion Jack Dupree hat Klavier gespielt nach dem Kampf.

Leg deine Termine anders, sage ich.

Schach kann ich nicht verlegen, sagt Clemens. Den Termin macht der Mathelehrer.

Ich versuche, irgendeinen Einfluss auf Clemens Hände zu nehmen, die mit der falschen Bewegung einer Holzfigur eine sofortige Katastrophe in seinem Kopf heraufbeschwören können.

Ein Spiel zu gewinnen oder zu verlieren, ist die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit zu gewinnen oder zu verlieren, ist ein Spiel. Missis Rhone ist die Gattin eines englischen Botschaftsangestellten. Alle haben ein Zuhause, das nicht der Anfang war und nicht das Ende sein wird.

Niran hat eine Menge Karten.

Sie ist früh da heute und setzt sich an den Tisch, während ich Clemens unterrichte. Auf den Karten leuchten bunte märchenhafte Figuren. Sie hat ein wenig Lesen gelernt seit Schulbeginn und buchstabiert leise die Phantasienamen auf den Spielkarten.

Clemens bricht ab, geschüttelt von der Schachpartie.

Mit einer Karte in der Hand geht Niran zu ihm.

Kannst du mir sagen, wie der heißt?

Thyarosos.

Das ist schwer, sagt Niran. Bestimmt kann der viele Feinde besiegen. Zauber, Zauber.

Clemens spielt noch einmal ohne Unterbrechung sein Stück.

Du brauchst keinen Gegner, um zu gewinnen.

Niran ist auf den Klavierhocker geklettert. Im Hof hupt ein Auto. Niran singt ein Lied.

Ich setze mich an den Tisch und höre ihr zu. Ihr fehlen ein paar Akkorde. Ich werde ihr beibringen, sich selbst zu begleiten. In zehn Jahren hat sie einen Beruf, mit dem sie traurig oder glücklich sein kann. Thyarosos ist bei ihr und der Segen des Posthorns.

Ich lese die Korrespondenz nachts auf dem Rechner. Meistens sind es Briefe, die Missis Rhone bekommen hat oder versenden will. Ich korrigiere ihr nicht immer perfektes Deutsch. Seltsame Schreiben erreichen die Schule. Die Rechtslage ist schwierig. Kinder sollen etwas lernen oder einfach nur beaufsichtigt werden. Ihre Eltern wissen es nicht immer.

Ich begegne neuen Spielen. Nur Schach kannte ich schon. Clemens weiß nicht, dass es ist wie eine unglückliche Liebe. Man hält die Krankheitsursache für die einzige hilfreiche Medizin. Ich suche den Charly- Soundtrack. Missis Rhone hat eine Zahlungserinnerung aufgesetzt. Es gibt keine Noten. Ich werde etwas aufschreiben für Luan. Wer stellt eigentlich diese bunten Karten her?

 

Luan hat sechs Nächte im Charly überlebt.

Ich hab’s geschafft bis zur Gehaltszahlung, erklärt er. Hundertvierzig Dollar.

Ziemlich wenig für den Job, sage ich.

Er schaut nicht auf die Noten und spielt seine Erinnerung. Ich zeige die Stellen, die fehlten. Er bekommt alles zusammen in diesen dreißig Minuten. Damit kann er jederzeit die Wirklichkeit seines Spieles beweisen. Die hundertvierzig Dollar hätte seine Mutter gebrauchen können.

Sie werden ihn nicht mehr unterrichten, sagt Missis Rhone. Es ist vorbei. Die Mutter zahlt nicht.

Beim Schach versiegelt Clemens seine Ohren. Jetzt sitzt er vor dem Klavier und gewöhnt sich wieder an Geräusche. Die Finger zögern, bevor sie etwas bewegen.

Ich bin kein Idiot, sagt Clemens.

Ein Jahr lang besuchte er als Kind eine Sonderschule.

Wahrscheinlich bist du schlauer als die Schulpsychologin, sage ich.

Ich äußere mich nicht über seine Eltern. Die bezahlen den Unterricht. Alles kostet Zeit. Die Zeit am Klavier kondensiert. Die Zeit, die ein Schachjunkie verbraucht, hinterlässt leere Blicke oder falsche Euphorie. Clemens ist umgestiegen. Aus der kondensierten Zeit steigt ein Wunsch in ihm auf.

Ich will einmal alle Beethoven-Sonaten spielen.

Ich bin überrascht. Er hat selbst noch nicht gemerkt, dass er aufgehört hat, regelmäßig zu üben. Es ist nur noch ein verkrampftes Losreißen vom Brett. Missis Rhone schaut kurz in den Raum und teilt mit, dass Niran wegen einer Sportverletzung entschuldigt ist. Die Nachricht erzeugt Leere. Sie macht mich anfällig für eine Idee.

Du bist mein letzter Schüler heute. Wir können nachher eine Partie Schach spielen. Vorher spielst du Klavier.

Jetzt geht es. Seine hochgezogenen Schultern fallen zurück, dafür strafft sich der Rücken. Die Vorfreude löst ihn auf. Die Sonate setzt ihn wieder zusammen. Unten gibt es ein asiatisches Restaurant. Die Inhaberin schickt ihren Jungen zu mir. Wir bekommen einen ruhigen Tisch. Clemens hat immer ein Schachspiel dabei.

Ich wusste gar nicht . . ., beginnt er.

Es ist lange her, sage ich. Mehr als zwanzig Jahre. Vielleicht habe ich noch nicht alles vergessen. Clemens spielt zu schnell und verliert zwei Partien. Das verschafft mir einen gehobenen Status.

Vorhin am Klavier, sage ich, wolltest du nicht mehr besser sein als irgendwer sonst. Das hat dich besser gemacht.

Die ganze Litanei kennt er eigentlich, aber dieses Mal hört er mir zu.

Spielen wir wieder Schach, wenn ich mehr übe?

Alle Junkies versuchen, Deals zu machen. Clemens weiß das noch nicht.

Das Abitur solltest du auch nicht vermasseln.

Also gut, Abitur und Klavier. Spielen wir Schach?

Im Moment bin ich Gott für ihn. Das wird sich irgendwann entzaubern. Die Zeit bis dahin lässt sich vielleicht nutzen.

Ich werde sehen, wie du vorankommst.

Genug für heute. Im Dunkel gehe ich langsam zur U-Bahn. Keineswegs ist Schach das Spiel der klugen Menschen. Der Mathelehrer weiß nicht, was er anrichtet. Ich erinnere mich an den Zwang, bis zur völligen Erschöpfung Figuren über vierundsechzig Felder zu schieben. Daneben zeigt eine Uhr die ablaufende Bedenkzeit.

Ich bemerke ein Funkeln auf dem U-Bahnsteig. War das eben zu viel für die Augen? Leuchtende Punkte flimmern unter der Sitzbank. Ich taste mit der flachen Hand über den grauen Beton. Schließlich halte ich eine von diesen Spielkarten in der Hand, von denen Niran sich nie trennen kann.

Mit der Karte in der Hand steige ich in den Zug. Sie verspricht ihrem Besitzer Schutz und Sicherheit.

Hat Niran die Karte verloren? Sie legt ihre Karten überall aus, wo sie einige Minuten sitzen muss. Ihre Mutter mag dort mit ihr gewartet haben. Andere Kinder haben diese Karten sicherlich auch. Niran hatte Pech heute. Der U-Bahnfahrer ermahnt jemanden, nicht in der Tür stehen zu bleiben. Er meint einen Mann mit einer Querflöte. Nun spielt der Mann auf der Flöte, und das Mädchen, dem er die Tür offen gehalten hatte, geht mit einem Becher herum. Ich lege die Karte in den Becher.

Das Mädchen geht weiter, ohne etwas zu sagen. Ihre Uhr läuft  ab wie bei einem Schachspieler. Der U-Bahnfahrer soll nicht schimpfen. Noch dreißig Sekunden, um bis an das Ende des Wagens zu gelangen. Eine Frau sucht nach ihrer Geldbörse. Für dich, Kleines. Das Mädchen nickt, wenn Kleingeld im Becher landet. Das nimmt sich nachher der Mann mit der Flöte. Die Karte wird sie behalten dürfen.       

 

 

 

16. Stummfilm

 

In der Ferne fuhr ein Zug vorbei. Mein Bruder fiel vom Dach und der Nachbar nahm sich das Leben. Es war Sommer; Gänse liefen über den Hof des alten Schulhauses. Die Häuser des Dorfes reihten sich entlang einer Straße, die aus einem Waldstück kam und in einem Waldstück verschwand.

Ein kleines Flugzeug war auf dem Dach gelandet, ein Spielzeug. Mein Bruder kletterte aus der Luke und konnte sich auf den schrägen und nassen Ziegeln nicht halten. Er fiel, verschreckte die Gänse und blieb unverletzt.

Ich lag in der Basskiste und stellte mir vor, versendet zu werden.

Ein Umzug brachte alle an einen anderen Ort. Das Klavier wurde über den Balkon in die enge Wohnung bugsiert. Es war demnach ein ungewöhnliches Klavier. Der Klavierstimmer kam auf einem Moped.  Seine Aura strahlte in die Gedrängtheit des Zimmers. Ich saß zwischen der Wanduhr und einer blaugelben Balkongardine. Meine Mutter erzählte von meinem Bruder. Sie berichtete auch von unzähligen Cousins und Cousinen. Nebenan klirrten die Saiten des Kontrabasses, für den einmal eine besondere Kiste gezimmert worden war.

 

Die Vergangenheit bestand aus einem Gestrüpp banaler Geschichten. Ich lernte das Morsealphabet und hämmerte Nachrichten in das Klavier. So gelangte ich auf die Oberschule. Es fiel mir schwer, dem Unterricht zu folgen. Er deutete eine Welt, die es nicht gab.

Der Physiklehrer Posnau trank Schnaps in seinem Vorbereitungsraum. Meine Mitschüler tauschten die Flasche aus. Herr Posnau durfte sich nichts anmerken lassen. Er war der erste Mensch, der mir begegnete. Ich bemerkte, dass Menschen an Substanzen gebunden sind.

Mein Bruder fuhr mit den Eltern zu einem Eignungstest für Piloten. Ich wollte wissen, warum sich unser Nachbar das Leben genommen hatte.

Es sind alles Schwingungen, sagte Herr Posnau. Die Nerven stoßen sich an. Wenn sie es nicht tun, möchtest du nicht mehr leben. Er goss klaren Getreideschnaps in zwei kleine Messbecher. Du musst versuchen, den Kopf nicht zur Ruhe kommen zu lassen.

Ich studierte Physik und pendelte hin und her. Auf der Tafel im Hörsaal lief ein verrückter Film. Der Film beschrieb die Tafel. Die Hände des Dozenten waren bleich von Kreide. Wo kommen sie her, die Formeln: Aus der Schminke oder aus dem Gesicht.

Lautlos explodieren Sterne im Weltall. Nichts gibt es, das den Schall übertragen kann. Am Anfang standen Klaviere in den Kinos. Sie waren ungewöhnlich groß und die Pianisten spielten nach Bildern. Kleine Krater blubberten auf der Leinwand. Man konnte in ihnen verschwinden und irgendwo anders auftauchen. Ich folgte einem Rat von Herrn Posnau und suchte Fragen für jede Antwort, die mir begegnete. Der Kontrabass sollte zur Reparatur eingeschickt werden. Die unförmige Holzkiste existierte im Kopf des Dorftischlers. Er hatte lange auf die Frage warten müssen.

 

An einem See traf ich eine unbekleidete Frau. Ich betrachtete diese Begegnung als Antwort und brach das Studium ab. Da es keine Stummfilmkinos mehr gab, befand sich das ungewöhnliche Klavier in einem Hotel. Neben dem Klavier stand ein Musiker mit einem Kontrabass. Wir spielten zusammen. Die Fragen kamen von mir oder müden Kellnern. Manchmal, wenn sie Sachen trug, besuchte mich die Frau vom See. Nachts saßen wir auf dem Bootssteg, der aus einem Waldstück kam und in einem Waldstück verschwand.

In der Ferne fuhr ein Zug vorbei.

 

17. Nagaland

 

Als Trenkel aus dem Haus ging, lag eine Karte im Briefkasten. Ohne Neugier steckte er diese Karte ein und ging zum Bus. Während der Fahrt fielen ihm die Augen zu. Das Zeitgefühl war gestört. Hatte er nur Sekunden oder einige Minuten geschlafen? Trenkel schaute, wo der Bus hielt. Die Leute manövrierten mit einem Kinderwagen, jemand stand in der Tür. Der Fahrer machte eine Durchsage.

Eine Ecke der Ansichtskarte lugte aus Trenkels Tasche. Die Karte war in Nagaland frankiert worden. Wo auf dieser Welt liegt Nagaland? Mit sehr hohen Bergen im Hintergrund. 

Er stieg aus unter den ziegelgemauerten Bögen der Stadtbahn. Ein freier Streifen schlingerte unschlüssig neben dem Viadukt. Er bildete einmal eine Grenze.

Von der Bushaltestelle aus sah man sehr weit die Straße hinunter. Sie verschwand zwischen quer laufenden Häuserzeilen. Vor dreißig Jahren war Trenkel schüchtern stehen geblieben, geblendet von Geschäftsreklame und Stadtlicht. Die Grenze hatte sich geöffnet. Er kam aus einem sparsam beleuchteten Land.

Wie damals wich er nun nach einigen Schritten zurück. Vor ihm lagen die Berge von Nagaland. In die halbrunden Nischen unter den Bahngleisen drang wenig ein vom Licht der Straße. Er suchte Schutz, das wilde Gras unter den Füßen.

In dem Halbdunkel seiner Zuflucht war er nicht allein. Zwei Männer saßen im Gras. Sie lehnten ihre Rücken an die Wand. Der eine verschob ein Gepäckstück. Es war wohl eine Geste der Höflichkeit, die Platz für Trenkel schaffen sollte. Er nickte ihnen zu und starrte weiter auf das Leben an der Straße. Die beiden Männer hatten Zeit. Sie konnten warten, bis er bei ihnen angekommen war.

Anders als bei seinem ersten Ausflug besaß er eine Adresse, ein Ziel zwischen den Häuserzeilen. Er sollte nicht erstaunt sein oder zögerlich. Weniger aus Angst tastete Trenkel nach seiner Brieftasche. Vor dreißig Jahren befand sich nichts in dieser Brieftasche, wovon er ein paar Schritte weiter etwas kaufen konnte. Jede Eckkneipe war ein Glaspalast, unzugänglich wie eisige Bergkuppen. Der Strom der ansässigen Passanten vermischte sich mit dem, der aus Trenkels Land kam. Er wollte nicht untergehen in den Verwirbelungen.

Die Männer öffneten Flaschen und redeten halblaut. Worte für die Nische, für Steine und Unkraut. Trenkels heller Trenchcoat hatte keine Grasflecke. In den Bergen wirkt eine Entfernung größer, wenn sich das Wetter verschlechtert. Er hatte dreißig Jahre darauf geachtet, dort vorn immer ein Ziel zu haben. In dieser Zeit wurden aus den Glaspalästen wieder normale Spelunken. Er verlor das Ziel nicht aus den Augen, egal, wie das Wetter war. Jetzt konnte man irgendwo hinein gehen und den Mantel trocknen lassen.

An jedem Werktag machte er sich auf den Weg. Es gab auch Zeiten des Urlaubs. Trenkel war froh, dass die Buslinie nicht eingestellt wurde. Einmal wohl traf er einen Menschen, der später nach Nagaland reiste. Er ahnte, dass das während eines Krankenhausaufenthaltes geschehen sein musste. Dort sprach er mit einem anderen Patienten. Dieser Mann wollte einen Berg erklimmen oder eine fremde Sprache erlernen. Trenkel glaubte, ihm zugeredet zu haben: Warum will man denn sonst gesund werden?

Neben ihm klirrte Glas. Die beiden Flaschen waren aneinander gestoßen. Einer der Männer hustete kurz.

Wir haben noch eine Flasche, sagte er. Die kannst du trinken, wenn du magst. Danach knobeln wir, wer Bier holen geht.

Wo geht ihr da hin, fragte Trenkel.

Vorn am Bahnhof. Die gucken nicht so blöd.

Er zeigte in die eine Richtung des Grasstreifens. An  einem Kiosk hing Reklame.

Ich bin gleich zurück, sagte Trenkel.

Auf dem alten Grenzstreifen ging er das kurze Stück bis zur Verkaufsstelle. Die Verkäuferin gab ihm eine Tüte. Er brachte den Männern acht Bierflaschen.

Ich trinke nichts, sagte Trenkel, aber ich habe heute eine Karte aus Nagaland bekommen. Das ist bestimmt ein Grund zum Feiern. Trinkt bitte auf denjenigen, der dort sein Glück versucht.

Das machen wir gern. Kommst du oft hierher?

Ja, sagte Trenkel. Seit dreißig Jahren. Da hatte sich gerade die Grenze geöffnet. Ich stand hinter der Kontrolle und jemand redete mit mir und drückte mir etwas in die Hand. So eine Geschäftsadresse, wisst ihr. Der Mann tippte mit dem Finger darauf und sagte: Wenn du was verdienen willst, dann lass dich hier blicken. Das ist in der Nähe, du kommst zu Fuß hin.

Trenkel suchte in seiner Manteltasche. Die Adresse war zerknittert und beinahe unleserlich.

Hast du einen Job bekommen?

Ich war noch nicht dort.

Sie schüttelten den Kopf.

Dieser Mann hat dich doch längst vergessen.

Das mag sein, gab Trenkel zu. Wichtig ist aber, dass ich jeden Tag an ihn denke.

 

 

18. Die Mädchen

 

 Ostberlin, 1987

 

Kalle wollte am frühen Nachmittag in die Bar und das Hallgerät der Anlage austauschen. Er nahm mich mit, um die Keyboards anzuspielen. Wir gingen über die Lieferantenrampe in das Gebäude, suchten eine Treppe, die nach unten führte und standen im Kellneroffice der Nachtbar. Das war der Ort hinter der Schwingtür, wo die Kellner angerauchte Zigaretten ablegten und ihre Gläser auf einen Tisch stellten, der noch genau so überfüllt war wie heute Morgen um vier.

Ich wusste nicht, wer hier unten das Sagen hatte. Die Kellner nahmen sich alle wichtig und die beiden Barkeeper hielten sich für Fachkräfte. Am wichtigsten war der Typ oben am Einlass. Er sortierte und hatte verschiedene inoffizielle Einnahmen.

Das Bandequipment stand auf der Bühne. Ich zog Tischtücher von meinen Instrumenten und schaltete die beiden Synthesizer an. Die Bar wurde niemals gleich nach Feierabend aufgeräumt, wegen irgendeiner Sicherheitsbestimmung. Die kalte Asche mischte sich mit Getränkeresten, Zitronenschalen und zurückgelassenem Parfüm. Bei voller Beleuchtung war keines der nächtlichen Gesichter mehr vorstellbar, selbst Kalles Nachtgesicht war ein gänzlich anderes als das jetzige. Das traf auf mich wohl auch zu.

Bist du wach, fragte Kalle.

Weder im Guten noch im Bösen wäre vor einigen Wochen jemand auf die Idee gekommen, dass ich bald diesen Job machen würde. Ich auch nicht. Der Gedanke daran machte mich bei Bedarf schlagartig munter. Ich ließ einen der Synthesizer aufjaulen.

Gut, sagte Kalle. Ich schraube das alte Delay aus dem Rack. Wir sind auf dem neusten Stand. Das wirst du gleich hören.

Kalle war immer auf dem neusten Stand, soviel hatte ich schon mitbekommen. Wenig von dem, was auf der Bühne stand oder lag, entstammte der inländischen Produktion. Mein Kapellenleiter gehörte zu einer Clique von Geschäftemachern, Elektronikern, Schmugglern, Musikern und staatlichen Gastspielvermittlern, die erstaunliche Dinge zu Wege brachte. Ich hatte viel Neues erlebt in den letzten Wochen, in Folge der einzigen Fähigkeit, die ich in nennenswerter Weise besaß: Ich konnte gut und auf Anhieb nach Noten spielen.

Diese Fähigkeit hatte ich einigen Stapeln alter Notenalben zu verdanken, die in meinem Elternhaus herumlagen. Nichts konnte mich davon abhalten, mich von der Bedeutungslosigkeit dieser Musik eigenhändig am Klavier zu überzeugen. Wenn die Bauern der Umgebung ihre Böden oder Keller aufräumten, schleppten sie uns Noten ins Haus. Ich spielte ohne Bedenken die Abendlieder einer träumenden Jungfrau und preußische Exerziermärsche.

Streicher und Bläser, sagte Kalle.

Mein Vorgänger hatte die Sounds auf einem asiatischen Analog-Synthesizer zusammen gebastelt. Der neue Hall machte aus der Bar eine Kathedrale. Kalle speicherte Einstellungen.

 

In der Nacht wird er wieder vorn stehen und singen. Er singt ein phonetisches Englisch genauso bedenkenlos, wie ich viele Stunden meiner Kindheit am Klavier verbracht hatte. Um neun kommen wir aus unserem Aufenthaltsraum auf die Bühne. Einige frühe Gäste nehmen die Küche in Anspruch. Wir machen Dinnermusik. In der nächsten Stunde füllt sich die Bar. Jetzt kann man noch sehen, wer eintrudelt. Wer nach ein paar Stunden mit wem geht, ist nicht mehr so klar auszumachen. Die Mädchen kommen nur allein, wenn sie offensichtlich verabredet sind. Manche gehören zu irgendeiner Gesellschaft, die sich im Laufe der Nacht zerstreut. Freundinnen werden meistens durchgelassen, aber sie gehen nicht immer als Freundinnen.

Die Männer aus den Botschaften geben das Geld oben, aber unten muss das Verhältnis stimmen. Die Typen kommen aus aller Welt. Die Mädchen sind einheimisch und tanzen gern. Um zehn ist der Laden voll und ich werde die Tische hinter der Tanzfläche nicht mehr sehen.

 

Bis dahin hatte Kalle noch Termine. Irgendeine Art von Jagdfieber ließ ihn niemals ermüden. Ich fuhr in meine Hinterhauswohnung. Dort befanden sich zwei Matratzen, ein verstimmtes Klavier und einige regalähnliche Konstruktionen. Ich war noch nicht lange im Geschäft.

Um acht ging ich aus dem Haus. Kurz vor neun schleppte die Frau des tschechischen Artisten zwei Kisten mit Jongliertellern in den Aufenthaltsraum. Sie brachte jeden Abend neue, weil die Teller am Ende der Nummer zu Bruch gingen. Neben die Kisten stellte sie einen Besen und legte ein Kehrblech dazu. Wir mochten die Nummer und den gemütlichen Tschechen, der johlend jede Nacht einen Scherbenhaufen fabrizierte. Die Leute kannten ihn aus dem Fernsehen.

Kalle verteilte die Notenmappen. Ich versuchte, mir nach und nach die späten Titel einzuprägen. Der Artist verkaufte dem Schlagzeuger einen Videorecorder. Wir gingen raus und begannen die Nacht.

Für die Musiker ist die erste Stunde die interessanteste. Die Stücke müssen nicht klingen wie irgendwas aus dem Radio. In der ersten Pause brachte ein Kellner ein Tablett mit Getränken in den Aufenthaltsraum.

Ab zehn spielten wir Tanzmusik. Von der Bühne aus sah ich eine Wand von Körpern. Die Bewegungen auf der Tanzfläche erschienen mir gleichermaßen selbstvergessen und beobachtend. Manchmal wurden sie vom Stroboskop zerlegt, oder es war das Blitzlicht eines Fotografen. Die Menschen lösten sich wie eine Membran aus dem Dunkel. Sie pulsten nach innen und zogen sich wieder zurück, wenn ein Tanzset beendet war, sickerten ein in die Doppelreihe vor dem Bartresen oder senkten sich ab auf die nicht mehr sichtbare Ebene der Tische und Sitzgruppen.

Kalle hatte eines der Mädchen erkannt. In der Pause sagte er: Die Braut aus der Lena-Bar ist hier. Ich achtete beim nächsten Set auf das Mädchen. Mir schien, als ob sie häufiger zur Bühne schaute, als durch natürliche Neugier zu erklären gewesen wäre. Ich konnte mich täuschen. Es war nicht mehr offensichtlich, wer auf wen achtete. Das Mädchen verschwand im Dunkel und kam zurück mit jemandem, der sie ganz selbstverständlich vereinnahmte. Sie wehrte sich nicht dagegen.

Sie sind alle da heute, sagte Kalle in der nächsten Pause.

Wie meinst du das?

Die Mädchen, die sonst in anderen Bars Stammgast sind. Wir haben die Runde gemacht als Band. Ich hab sie alle schon gesehen.

Sind das nun Nutten?

Prostitution ist verboten, erklärte Kalle. Aber es ist nicht verboten, Freundschaften zu schließen. Vielleicht ist es manchmal erwünscht.

Der Ministerpräsident kam wenige Minuten vor Beginn des Programms. Alle waren hinten im Aufenthaltsraum: Der Tscheche, die Schlangentänzerin mit ihren beiden Boas, ein glatzköpfiger Showgeiger und der Conferencier. Ich stand auf der Bühne und legte die Programmnoten zurecht. Eine Gruppe von Männern rauschte aus dem Kellneroffice durch die Schwingtür in die Bar.

Ich war sehr überrascht, als ich unter den Männern den Ministerpräsidenten erkannte. Er war ein bekannter Politiker aus dem Westen. Von einem Staatsbesuch hatte ich nirgendwo gelesen. Der Mann sagte sehr freundlich „Guten Abend“, zu wem auch immer. Er verschwand mit seiner Begleitung im Halbdunkel der Sitzgruppen.

Von dort hörten wir gelegentlich Applaus während des Programms. Andere Gäste und die Mädchen standen mit Gläsern in der Hand an den Seiten der Tanzfläche, auf der nun die Darbietungen abliefen.

Der Showgeiger war die letzte Nummer. Während er fiedelte und herumspazierte, starrten alle hypnotisiert auf sein ewiges glatzköpfiges Grinsen. Die Frau vom Tschechen fegte Scherben zusammen, ohne dass es jemand bemerkte. Der Geiger ging ab und wir spielten leiser. Der Conferencier brachte die Überleitung zum nächsten Tanzset. Wir spielten wieder lauter.

In diesem Moment verdeckten die andrängenden Pärchen noch nicht vollständig die Sicht. Ich sah den Ministerpräsidenten zwischen Bar und Tanzfläche. Neben ihm stand das Mädchen aus der Lena-Bar. In dem ungedimmten Licht bemerkte ich ihre außergewöhnliche Schönheit. Sie trug ein ärmelloses Kleid und der Ministerpräsident legte eine Hand auf ihren Unterarm. Der Mann war um die vierzig und ohne Bauchansatz. Ich fragte mich, ob Kalle sie sah, schaute aber nicht in seine Richtung. Kalle sang. Kalimba de luna. Für eine kurze Zeit, zufällig oder gewollt, fanden sich der Politiker und das Mädchen auf der Tanzfläche wieder. Er bewegte sich wenig, aber nicht ungelenk. Sie blieb nahe bei ihm. Hinter seinem Rücken deckten ihn die Körper der anderen. Vielleicht wusste er das so gut, dass er es bei Bedarf vergessen konnte. Vorsichtig führte er sie zurück in das Dunkel.

In diesem Dunkel blieben sie, jedenfalls für mich. Es ist bestimmt sicherer, den Raum nicht dort zu verlassen, wo man ihn betreten hat. Wer waren sie denn gewesen? Ein Mann, der eigentlich nicht hier war und eine Fee, die sich verlaufen hatte.

Die anderen sah man noch eine Weile. Attraktive austauschbare Mädchen und Männer, die irgendwie sportlich wirkten. Sie verschwanden allmählich, weil sie sich mochten oder Dienstschluss hatten.

Wir sind bald wieder in der Lena-Bar, sagte Kalle in der Pause.

Am nächsten Abend hatten wir spielfrei.

Sehr spät wollte ich etwas trinken in einem Cafe in der Nähe meiner Wohnung. Das Lokal war für Öffnungszeiten bekannt, die sich bis in den frühen Morgen zogen. Sie hatten keinen Einlasser dort. Wenn keiner mehr reinpasste, war der Laden voll. Es war geradezu ein Wunder, dass in dem Moment, in dem ich mich bis zur Bar durchgedrängelt hatte, ein Hocker frei wurde. Ich bestellte den teuersten Rotwein, um den Barkeeper bei Laune zu halten.

Magst du den auch, fragte eine Stimme von der Seite.

Den Wein oder den Barkeeper?

Die sind beide in Ordnung, sagte meine Nachbarin.

Was für eine triumphale Nacht. Ich hatte nicht nur Geld und einen Platz zu dieser Zeit an dieser Bar. Meine Nachbarin wollte plaudern und sah gut aus.

Sie kannte einige Leute vom Theater und war schon da und dort gewesen. Sie fand auch meinen Job ziemlich spannend. Wir tranken einiges von dem teuren Wein und  nahmen noch eine Flasche mit. Ich setzte mich an das verstimmte Klavier, bevor wir uns auf die Matratzen schmissen. Nach dem Aufwachen war sie noch da.

Sie blieb eine Weile und kam manchmal mit zu unseren Bandauftritten. Das verschaffte mir Anerkennung bei den Kollegen. In die Lena-Bar kam sie später auch, tanzte und trank mit den Gästen. Kalle hielt immer Ausschau nach seiner verlaufenen Fee, aber die war nicht mehr auffindbar.

Einige Wochen später erfuhren wir über die Nachrichten, dass man den Ministerpräsidenten in irgendeinem Hotel in Frankreich tot aufgefunden hatte.

 

Illustration: Fliegende Fische, © 2020 Reiner Lietz

 

19. Fliegende Fische

 

Der Captain hatte einen Grund genannt, mich mitzunehmen. Fliegende Fische. Du kannst sie sehen da draußen. Sie waren ungefähr zwanzig Meter neben dem Boot. Ich stand im Bug  und hielt mich mit einer Hand an der Reling fest. Das Schiffsgeländer lief spitz nach vorn zu, es senkte und hob sich mit den Wellen des Golfstromes. Eine Hand für das Boot, hatte ich zuerst gelernt.

Die Fische schwammen mit der Yacht, einer hochseetauglichen Dreiraumwohnung. Aus den Lautsprechern an der Brücke tönte die Ouvertüre vom „Fliegenden Holländer“. Der Captain war ein deutscher Einwanderer. Dreißig Jahre hatte er ein Speditionsunternehmen an der Ostküste gehabt.

Berry der Ire saß im Heck und versuchte zu angeln.

Der Captain und Berry und ich waren unterwegs zur Bahamasinsel Bimini. Die fliegenden Fische würden sich von Berry nicht fangen lassen. Der fliegende Holländer schallte zu ihnen hinüber und sie nickten mit den Köpfen, wenn sie über Wasser waren.

Mir ging es wie den Fischen. Ich tauchte auf und unter. Die Wellen überragten mich, wenn sie das Boot trafen. Manchmal rollte etwas über Deck, wenn ich auch die zweite Hand für die Reling brauchte. Der klare Himmel spiegelte sich im Wasser und auf der metallenen Rolle von Berrys Angel.

Nur der Captain und Berry und die fliegenden Fische wussten, wo ich gerade war.

In Europa hatte niemand eine Ahnung und auch nicht im amerikanischen Key Lorga, wo ich in der Pilotlounge Klavier spielte. Der Captain verbrachte dort die meisten seiner Abende. Berry wohnte auf einem kleinen Segelboot, das in der gleichen Marina wie die Yacht des Captains vor Anker lag. So kannten wir uns. 

Salzig und nass drehte ich mich zwischen den Fischen und der Musik. Ich war angekommen in der Welt.

Wenn ich damals etwas nicht wusste, dann war das ohne Belang. Wissen kann warm und fließend sein wie der Strom, der mich trug. Manchmal ist es tief und tödlich. Wir hatten ein kleines Beiboot dabei, ein Dinghi mit Außenbordmotor. Ein Dinghi ist nützlich, wenn es für die Yacht nur eine schmale ausgebaggerte Fahrrinne gibt. Ich hangelte mich durch die Gischt auf die Brücke und hörte dem Captain zu, der versuchte, mit dem Hafenlotsen von Bimini Kontakt aufzunehmen. Er bekam irgendeine Art von Erlaubnis und schaltete auf Handsteuerung. Für die großen Kreuzfahrtschiffe war hier nicht genug Tiefgang. Wir tuckerten vorsichtig in den Hafen. Berry der Ire sprang auf  einen der hölzernen Landungsstege und vertäute das Boot.

„Heute Abend“, sagte der Captain, „gibt es Bahama-Mama.“

Das waren Cocktails. Wir tranken an der Bar von Hemingways altem Haus, ich betrachtete die Originalfotos aus den 1930-ern. Der alte Mann und das Meer. Die Drinks mit den Jungs, die Domino spielten. Alle spielten Domino hier, und nachher machte ich es auch, mit einheimischen Männern in einer Kneipe einige hundert Meter weiter weg.

Der Captain und Berry hatten mich da abgeliefert. Sie wollten nochmal mit dem Dinghi los. Ich zerbrach mir den Kopf beim Spiel und ging in der Nacht allein zurück zur Yacht.

Komm morgen wieder, sagten die Männer.

Ich musste schlafen und wartete nicht auf die Rückkehr des Dinghis.

Die Frage, ob das Verlassen amerikanischer Hoheitsgewässer jemals in meinem Pass dokumentiert worden war,  beschäftigte mich weder in dieser noch in irgendeiner späteren Nacht. Ich träumte jenseits aller Grenzen. Am nächsten Tag erklärte mir der Captain, wie man einen Außenbordmotor anwirft. Ich setzte mich in das kleine Beiboot und fuhr los. Ich fuhr um die Insel herum und begegnete wieder den fliegenden Fischen. Am Himmel kurvte ein kleines Flugzeug. Es hatte die markanten Kufen, die eine Wasserlandung möglich machen. „Air Bimini“ hatte der Captain gestern gesagt, als das Ding vor dem Hafen über uns hinweg flog. Ich sah den Strand von Bimini von der Seeseite. Es war ein Strand ohne Fußspuren.

Niemand kam von der Landseite aus an diesen Strand. Ich schaltete den Motor ab, setzte mir eine Schnorchelmaske auf und hielt den Kopf unter Wasser. So trieb ich vor der Küste Biminis. In dem klaren Wasser waren die tiefen Dinge zum Greifen nahe. In sich verschlungene Lebewesen atmeten hellblaues Licht. Die Unterwasserwelt war lautlos und unbeherrscht.

Oben schüttelte ich den nassen Kopf. Mein Proviant für den Tag bestand aus zwei Colabüchsen. Der Captain und Berry würden sich sicher was zusammenmixen. Ein Mechaniker sollte an Bord kommen, falls es möglich war, jemanden aufzutreiben. Sie wollten unten an der Maschine irgendein Teil auswechseln.

 „Besser, wir machen‘s vor der Rückfahrt“, hatte Berry gesagt:

„Aber das ist nichts für deine Hände.“

Als ich das Dinghi wieder an die Yacht anband, war der Mechaniker schon weg.

„My dingaling“, feixte der Captain.

Ich dachte, er meinte vielleicht das Dinghi oder wollte mitteilen, seine Angelegenheiten für heute erledigt zu haben. Er war dreckig und stolz und sagte, dass wir uns jetzt fein machen sollen für den abendlichen Restaurantbesuch.

Das Lied war mir neu damals. 

„My Ding-a-ling“, sang Louis, der Entertainer.

Die Gitarre schepperte und der Chor der Gäste fiel ein:

„I want you to play with my Ding-a-ling“.

Louis saß auf einem Stuhl zwischen den Tischen und hatte ein gutes Gefühl dafür,  wann er aufstehen und zu einem der Gäste gehen musste. Er klemmte sich elegant den Dollarschein unter die Saiten und spielte dabei weiter. 

Ein schlüpfriges karibisches Kneipenlied, dachte ich. Womöglich hat er sich die Nummer selber ausgedacht, aber tatsächlich war es ein alter Chuck-Berry-Song.

Der Captain war großzügig in dieser Nacht. Es klingelte bei Louis und anderswo. Ich betrank mich und erwachte am nächsten Tag erst, nachdem wir schon lange abgelegt hatten. Auf hohen Wellen stand das Boot ständig in einem schiefen Winkel zu etwas, das man vielleicht als Meeresspiegel bezeichnen konnte. Ich hangelte mich zur Kombüse und goss Instant-Kaffee auf. Wie an einer  im Raum stehenden Spirale schob mich der Seegang kreisend nach oben. Triefend stand ich an Deck und spuckte eine Mischung aus Kaffee und Salzwasser ins Meer. Die Fische folgten der Spur und wollten mich sehen. In den bebenden Lautsprechern versuchte der fliegende Holländer, seinem Schicksal zu entkommen. Ich klammerte mich an die Reling. Es war der größte Moment meines Lebens: Von keinem Ort kam ich her, ein papierloser Geist, gerade über dem Golfstrom aufgestiegen. Nirgendwo zog es mich hin. Meine Reise endet, wo das Schiff strandet, und niemals würde ich den Gott verfluchen, der den Booten das Steuer führt.

Wir gelangten nach Amerika. Ich ging an Land wie Kolumbus, von keiner Frage behelligt.

Spät in der Nacht betrat ich wieder das Zimmer, das ich in Donnas Haus gemietet hatte. Der Tropendunst der nahen Lagune füllte den unklimatisierten Raum. Die Fische waren im Wasser geblieben und schwammen durch ein silbernes Netz.

Ich träumte lange, bis zum nächsten Abend, als Donna wissen wollte, ob ich im Haus bin. Sie war sehr aufgekratzt und wollte mir etwas zeigen.

Jetzt schau dir das an“, sagte sie und deutete auf eine Linie weißen Pulvers, das auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnzimmer lag.

„Du hast mal gefragt, wie das aussieht, oder?“

Sie nahm einen zusammengerollten Dollarschein und zog sich das Pulver in die Nase.

„Wirklich gutes Zeug. Über die Inseln kommt viel nach Amerika. Die bringen das mit Wasserflugzeugen hoch. Irgendwo da draußen wird’s umgeladen, und wenn das richtige Schiff einläuft, ist Party angesagt.“

Ich sah ihre Ohrringe, als sie sich über den Tresen beugte, um noch eine Linie zu legen. Kleine fliegende Fische.

 

20. Kellerkinder

 

DDR 1990, Ostseeküste

 

 

So kam der letzte Sommer in diesem Land. Bis zum ersten Juli hatten wir nahezu mietfrei in schlecht erhaltenen Wohnungen gelebt und uns von subventionierten Lebensmitteln ernährt. Jochen, der alles und gar nichts konnte und vielleicht ein Freund von mir war, schickte Zigaretten und Kinderklamotten zu Bekannten ins Ruhrgebiet. Wir lebten mit zwei Währungen. So sollte es nicht weitergehen. Gewählte und selbsterwählte Volksvertreter hatten schließlich eine Lösung gefunden. Die alte Landeswährung und eine Menge bezahlter Arbeit wurden abgeschafft.

Inzwischen schien die Sonne für alle. Ein Onkel von Jochen war Geschäftsführer eines Strandcafes an der Ostsee.

Jochen beschloss, Schlagzeug zu spielen und besorgte einen Bassisten. Im Strandcafe stand ein Flügel, der als Zeitungsablage diente.

Ich hoffe, du magst ihn, sagte Jochen und klappte den Deckel auf.

Sein Onkel fasste die Geschäftslage zusammen:

Wird nicht viel werden diesen Sommer. Die Leute treiben sich in der Welt rum mit dem neuen Geld. Essen habt ihr frei hier oben, Getränke in Maßen. Ihr spielt nachmittags, könnt euch für die Abende noch was anderes suchen. Kann ja sein, dass irgendwer zahlt. Ich zeig euch die Zimmer, da sind sonst Saisonkellner drin. Dieses Jahr nun nicht.

Eine Treppe tiefer, zwischen Bierfässern und Gemüsekisten, blieb er kurz stehen und klopfte mit der flachen Hand an eine Tür.

Ihr bekommt Gesellschaft. Zwei Tellerwäscherinnen aus Bratislava. Die wollen ihre Sprachkenntnisse verbessern.

Er beließ es bei einem flüchtigen Grinsen.

Da drüben ist die Toilette, rechts fließend Wasser und links das Meer. In einer Stunde hätte ich gern Musik. Bis dann.

Das Cafe hatte eine Glasfront zur Seeseite. Am Strand verloren sich vereinzelte Badegäste. Wenn man früh genug aufstand und hinunterging, fand man das angespülte Bernsteinzimmer. Bestimmt. Eine Frau mit Rucksack kam herein, trank Kaffee und verknallte sich in den Bassisten.

Das war erstaunlich. Jochen spielte wenig und machte wenig falsch. Der Bassist hieß Holgi,  spielte viel und machte wenig richtig. Der Flügel war in der tiefen Lage verstimmt und schien auf geheimnisvolle Weise die falschen Basstöne zu veredeln.

An diesem Nachmittag kam noch ein holländischer Reisebus. Aruba ist langweilig, sagte einer der Holländer und spendierte Bier für die Opfer der Diktatur.

Sie mussten weiter auf ihrer Gruseltour. Jochens Onkel stellte eine Tafel auf die Terrasse, auf die er HEUTE LIVE-MUSIK schrieb.

Die Stühle draußen waren an die Tische gekippt und zusammengekettet. Wenn sie eine Seele hätten, würden sie die Freiheit verfluchen.

Am späten Abend stellte ich fest, dass die  Strandkörbe unten  am Wasser weder abgeschlossen noch angekettet waren. Ich setzte mich und betrachtete die Lichterkette der Schiffe, die vor dem Überseehafen auf Reede lagen. Langsam kamen die Seeleute zurück. Rolling home for ever. Sie waren die Matrosen der Welt gewesen.

Holgi wollte mit seiner Freundin irgendwo am Strand schlafen. Jochen war von seinem Onkel zu einem Gespräch gebeten worden. Ich stieß im Keller gegen ein leeres Bierfass und folgte seinem Klang. Hinten sickerte Mondlicht durch ein Deckenfenster.

Im Zimmer stellte ich einen skandinavischen Radiosender ein. Ich wollte nicht verstehen, was Moderatoren oder Nachrichtensprecher erzählten. Ich las in einem Buch und fühlte mich wohl. In einem Keller war ich gelandet, mitsamt den Ratten und pochenden Rohren. Wenn Jochen und Holgi und die Tellerwäscherinnen hier sind, wird es unser Keller sein. Die Seiten meines Buches trieben auf den Geräuschen des Meeres, die durch mein Zimmer fluteten und auf dem Flur in den Gemüsekisten zur Ruhe kamen.

Am nächsten Nachmittag schaute ich durch die Luke der Geschirrabgabe. Die Mädchen trugen Schürzen mit der Silhouette des Strandcafes. Ihre Haare waren unter Tüchern zusammengebunden.

Die Kopftücher waren Vorschrift im Küchenbereich. Abends am Meer knisterten die Haarspitzen, wenn sie an Zigarettenglut gerieten. Jochen hatte Rotwein aus dem Auto geholt. Wir wollten auspacken und kamen nicht dazu. Angesichts der unklaren Dauer unseres Aufenthaltes hatten wir alles Mögliche ins Auto geschmissen.

Die Küchenhilfen hießen Beata und Helena und besuchten in Bratislava eine medizinische Fachschule. Sie waren an offene Wunden und unheilbare Krankheiten gewöhnt. Wir tranken den Wein aus der Flasche und schoben zwei Strandkörbe zusammen.

In den nächsten Tagen gelangten immer mehr Dinge vom Auto in den Keller. In einem der Zimmer landeten Fernseher, Videorecorder, Matten, Decken und Kissen. Den Verschlag daneben nannten wir Frühstücksraum, obwohl nie jemand frühstückte.  Wir führten wunderliche Gespräche.

Beata und Helena wollten, dass Bratislava Hauptstadt wird, die Hauptstadt eines neuen Landes oder der Welt.

Ihr werdet steckbrieflich gesucht, sagte ich. Aber hier im Keller findet euch niemand.

Nicht einmal irgendein Rattenfänger.

Jochens Onkel machte um acht oben zu und fuhr mit seiner Frau nach Hause. Es war ein Geisterhaus danach, dunkel, aber voller seltsamer Geräusche. Wir schauten im skandinavischen Fernsehen amerikanische Filme im Original. Die Handlungen blieben uns ein Rätsel. Helena suchte nach einer Pose für die slowakische Freiheitsstatue. Beata sprach besser Deutsch, und wir gingen zu zweit an den Strand, um uns über die helle und die dunkle Seite des Mondes zu unterhalten. Wir wollten keineswegs über unsere Beziehung sprechen. Lieber über den leichten Schatten auf der Oberlippe von Beata. Niemals war ihr Gesicht nur Licht wie bei Helena. Die Helligkeit verfing sich neben der Nase und erzeugte einen dunklen Fleck.

Du bist eine Separatistin, sagte ich, mit dem Schatten der Freiheit im Gesicht.

Willst du Philosoph sein? fragte sie. Dann sei mein Nietzsche.

Wir umarmten uns. Der Mond wechselte die Seiten. Im Keller suchte Helena immer noch nach der richtigen Pose. Jochen gab sich große Mühe, ihr zu helfen. Holgi polterte mit dem Kontrabass, weil seine Freundin eine Stunde nehmen wollte.

Die Ostsee suchte nach Bernstein, um es uns vor die Füße zu spülen: Schaut auf die Insekten, eingeschlossen seit fünfzig Millionen Jahren.

Auch wenn wir versuchten, das Bleibende in der Zeit zu sein, konnten wir mit den fünfzig Millionen Jahren nicht konkurrieren.

Einige Wochen waren wir eine seltsame Strandkapelle, die versuchte, „The girl from Ipanema“ für zwei slowakische Separatistinnen und eine heimatlose Touristin zu spielen. Als Holgi das Stück konnte, flog er nach Amerika, um sich zum Jazzbassisten ausbilden zu lassen. Ohne Bassisten beendete Jochen seine Karriere als Schlagzeuger und fuhr zurück nach Berlin. Für die Mädchen begann ein neues Semester.

Klavierspieler bleiben immer am längsten. Sie können allein arbeiten. Jochens Onkel sah das auch so. Bis in den Herbst hinein saß ich am verstimmten Flügel, spielte alte Tangos und hörte im Keller die Nachrichten aus Dänemark. Dann erfuhr ich, dass sich meine Staatsbürgerschaft geändert hatte.

 

Jochens Onkel gelang es später, der private Inhaber des Strandcafes mitsamt einem angeschlossenen Hoteltrakt zu werden. Die Jahre haben einen reichen alten Mann aus ihm gemacht.

Jochen selbst starb nach einem Verkehrsunfall. Der LKW-Fahrer hatte keine Schuld. Es lag vielleicht an einer Fahrradlampe oder einer Erinnerung. Helena war in Österreich verheiratet.

Ohne Freiheitsstatue wurde 1993 die Slowakei ein unabhängiges Land mit seinem Regierungssitz in Bratislava.

Vor einiger Zeit erhielt ich eine überraschende E-Mail. Sie kam von Beata, die jetzt einen anderen Nachnamen trug. Gott weiß, welche vergessene Musikeragentur sie bemüht hatte, um meine Adresse zu bekommen. Sie schrieb ein paar Zeilen und schickte Bilder. Die Bilder zeigten ein Studio, das sie eingerichtet hatte. Dort übte sie ihren Beruf aus, in dem sich gleichermaßen medizinische, künstlerische und erotische Ambitionen wiederfanden. Die Einrichtung schien mir gedacht zu sein für die Fantasien von Menschen, deren Grenzen von Schmerz und Lust eher undeutlich und verschwommen sind.

Ich betrachtete gespenstische Mauern und Gänge. Rostige Haken ragten aus unverputzten Wänden. Fässer und Tonnen standen herum. In einer Ecke stand ein Monitor und auf Bretterregalen lagen Ketten, mit denen man verschiedenes zusammenbinden konnte.

Terrassenstühle zum Beispiel.

Wie oft hatten wir das damals gemacht, wenn Jochens Onkel keine Zeit hatte. Ich wusste jetzt, was ich sah.

Es war der Keller des Strandcafes von 1990, und Beata hatte ihn nachgebaut in der neuen Hauptstadt der Welt.

 

 

21. Der Platz vor dem Kino

 

Der Platz vor dem Kino ist ein schöner Platz vor dem Kino. Er erfüllt alle Anforderungen. Bänke, Aushänge, eine gläserne Doppeltür mit Blick in ein schwach beleuchtetes Foyer. Aus der Straßenbahn sieht man die Reklame für die aktuellen Filme.

Dem Platz gegenüber befindet sich das Geschäft eines Schusters, der Nachschlüssel anfertigt. Daneben hat dieses Internet-Cafe vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet. Böhme trinkt Espresso und Wasser und hört auf die Spielautomaten. Er ist gelernter Theaterschuhmacher. Die Geräusche erinnern ihn an eine der Inszenierungen. Er hatte die Titel auf das Regal in seiner Werkstatt geschrieben: Die Wärme des Flusses unter den Füßen. Maschinenbilder im euklidischen Ohr. Händler aus den maskierten Städten. Blaue schlafende Koffer. Das schwere Tor des Museums. Körbe verwandelter Regen.

Dann war Schluss. Darunter standen die Schuhe. Ein Provinztheater. Die Stücke waren nicht immer gut. Die Schuhe waren besser. Ein Schuster, der Nachschlüssel anfertigt, ist kein Schuhmacher.

 

Böhme war lange nicht mehr im Kino. Er sieht den Platz vor dem Kino und stellt sich vor, auf einer Bank dort zu sitzen. Vorher würde er eine Karte kaufen, aber warten, bis der Werbeblock vorbei war. In Anklaar am Theater hatten sie immer Probleme, die Programmhefte rechtzeitig aus der Druckerei zu bekommen.

Einmal war die Premiere in das Lichtspielhaus verlegt worden. Die Druckerei stellte die Kartons mit den Programmen nachts vor den Eingang. Am Vormittag wühlte Louis in den durchgeweichten Bündeln: Körbe verwandelter Regen.

Die Schauspieler liefen auch privat mit den Bühnenschuhen herum. Sie improvisierten. Der mongoloide Louis durfte als Co-Autor auf die Bühne. Jemand streute das Gerücht, dass die eigentlich geplante Aufführung von höherer Stelle untersagt worden war.

 

Halbrechts hinter seinem Rücken hört Claudius Böhme den Tisch der Trinker. Im Blick hat er die selten genutzten Computer. Handflächen vor den Automaten: Die Saalmiete für den Wirt. Am  Wochenende ist Markt auf dem Platz vor dem Kino.

Vor dem Lichtspielhaus in Anklaar hatte es die eine oder andere Kundgebung gegeben. Es sind nicht die Geräusche, es ist das Geflacker. In Körbe verwandelter Regen ließ der Regisseur einen Film ohne Ton auf der Leinwand laufen. Da hatte man diese Spielautomaten schon gesehen, bevor sie sich auf den Weg machten, den Menschen in Anklaar Freiheit zu bringen.

Die Freiheit ist ein Nachschlüssel. Man lässt ihn anfertigen und gibt ihn beim Nachbarn ab, falls die Wohnungstür mal zuknallt. Händler, Koffer und die Wärme des Flusses. Sie hatten das alles schon inszeniert.

 

Doktor Caligari irrt durch die Straßen. Caligari verteilt Handzettel des Marktbetreibers. Er wohnt in der Psychiatrie und erforscht das Leben der Schlafwandler. Ein paar Ecken weiter gibt es einen Caligariplatz. Darauf ist Doktor Caligari besonders stolz.

Er ist rechtzeitig verrückt geworden, denkt Claudius Böhme. Friedlich, sympathisch und fotogen verrückt. Alle freuen sich über ihn. Alle freuen sich darüber, dass man so schön verrückt werden kann. Man kann es werden, man muss es nicht von Anfang an sein wie Louis.

Es ist Morgen oder früher Vormittag. Böhme schläft unregelmäßig. Auf dem Platz vor dem Kino beginnen Menschen, Verkaufsstände einzurichten.

Wir haben doch nicht Wochenende, sagt Böhme unsicher.

Feiertag, sagt der Mann, der ihm noch einen Espresso hinstellt.

Daran hat Böhme nicht gedacht, weil es diesen Feiertag früher nicht gab. Doktor Caligari kommt herein und bekommt eine Flasche Bier spendiert. Claudius Böhme beschließt, über die Straße zu gehen. Auf halbem Weg zur Kinokasse hält er inne. Er hat sich zu einem Gang über den Markt entschlossen.

 

Die einschlägigen Händler verkaufen Socken, Taschen und Unterhemden. Sie verkaufen auch Schuhe, aber der Schuhmacher Böhme sieht sie nicht. Haushaltsauflöser haben Kisten mit zusammengeschmissenem Zeug vor ihre Autos gestellt. Neben einem Karton mit alten Eintrittskarten und Programmen sieht Böhme einen ähnlichen, der noch verschlossen ist.

Der Händler nimmt ein Messer und schneidet durch das braune Klebeband. Böhme beugt sich hinunter.

Er sieht einen Posten Theaterprogramme, der offenbar nicht ausgeliefert wurde. Hundert identische Exemplare. Böhme schaut auf den Titel.

Das schwere Tor des Museums.

Theater Anklaar.

Es war dieses Stück, das nie eine Aufführung erlebte, weil alle Programmhefte unbrauchbar wurden. Böhme steht auf, seine Hände sind unruhig.

Was soll das kosten?

Normalerweise, sagt der Händler, kostet ein Programm einen Euro.

Aber sie sind alle gleich. Das Stück wird nicht mehr gespielt.

Gib mir zehn Euro für alle.

Ich hab nur fünf.

Dann gib mir fünf.

 

Böhme nimmt den Karton und geht zurück zum Cafe. Sie müssen diesen Karton damals in der Druckerei vergessen haben. Oder der Bote hatte ihn nicht mehr mitbekommen und wollte kein zweites Mal fahren. Vielleicht ist jetzt Anklaar aufgelöst worden.

Claudius Böhme stellt den Karton mit den Programmen direkt vor Doktor Caligari.

Lieber Doktor, es geht um das Leben der Schlafwandler. Können Sie diese Programme bitte verteilen?

Aber gerne, sagt Caligari freudig.

 

 

22. Trash

 

Der Trick stammte von einem alten italienischen Ideologen. Münzler saß an irgendeiner Feierabendbar. Die Farben sollten Ruhe ausstrahlen. Das Mädchen hinter dem Tresen suchte nach Ananas. Es war einfach keine Ananas zu finden. Münzler machte Werbung. Weil er sich betrinken wollte, hatte er den Wagen vor der Firma stehen lassen. Er war in eine Straßenbahn gestiegen, die gerade vorbei kam.

Münzler brauchte keine Ananas. Er trank leicht gespritzten Whisky, ein Glas Wasser extra dazu. Es war ein Whisky, der zu dem Mädchen passte. Nicht das Billigste, aber zu glatt. Münzler kannte diese Mädchen aus Fotoagenturen.

Ein Mann in der Straßenbahn hatte eine karierte Schiebermütze getragen und sah damit völlig bescheuert aus. Er schaute durch das Fenster auf ein großes Werbeplakat an der Haltestelle. Zwei Frauen in Unterwäsche. Das Plakat war beschmiert. Irgendwer hatte SEXISMUS darüber gesprüht.

Sie können sich den Werbemist auch sparen, sagte der Mann mit der Schiebermütze. Er sagte es halblaut, eigentlich nur zu sich. Münzler war darauf trainiert, Reaktionen wahrzunehmen. Zwischen all den Menschen und Geräuschen in der Straßenbahn war sein Gehör auf der Suche. Ich weiß, was er jetzt nicht denkt, hatte Münzler gedacht. Das beschmierte Plakat war ein echter Hingucker. Der Trick ist, sich mit Dreck zu bewerfen.

Münzler trank weiter, aber er kam nicht mehr auf den Namen von diesem Italiener. Jedenfalls hatte der schon damals gewusst, dass erst die entstellte Botschaft wirkliche Aufmerksamkeit erzeugt.

Der Name war verschwunden wie die Ananas vorhin. Bis zum Ende der Nacht dachte Münzler unaufhörlich an den Mann mit der albernen Mütze. Ein Luftzug kondensierte am kühlen Glas. Auf dem polierten Holz des Tresens verlief das Wasser zu einem karierten Muster.

 

 

 

23. Clementi: Westminster Abbey

 

 

Du hättest bei mir Logis nehmen können, John Field, und das weißt du auch. Genau so, wie du weißt, dass ich weiß, warum du es nicht getan hast. Dir ist das Gasthaus lieber, weil du dich nicht beobachtet fühlst. Du kannst in der Schenke sitzen oder dir den Whisky mit auf das Zimmer nehmen. Ein zahlender Gast macht wenig verkehrt.

Ich glaube trotzdem, dass du kommen wirst zu unserer Verabredung. Ich warte auf dich, hier vor der Westminster Abbey, und lausche dem neuen Glockenspiel. Von den vielen Orten, an denen man sich in London treffen kann, erschien mir dieser am wenigsten zufällig gewählt. Schließlich sind wir praktische Musiker und immer an den Novitäten unseres Gewerbes interessiert.

Fürwahr, John Field, ich bin es noch mit meinen achtzig Jahren. Ich achte auf den Klang dieser zehn Töne von dort oben. Die Glocken sind in E-Dur gestimmt, absteigend fallen mir die Töne beinahe vor die Füße, bevor die am höchsten gestimmte Glocke wieder einsetzt. Unermüdlich wiederholen die Glöckner ihr Spiel, als wären sie von der Unendlichkeit ihres obersten Dienstherren inspiriert.

Der Mozart, sagen manche, hat sein wunderbares Requiem für sich selbst komponiert. Das kann man glauben. Vielleicht kam der Auftrag von jemand anderem: Mozart machte es fertig und stellte fest, dass es ein Geschenk ist, das zu erhalten niemand außer ihm würdig ist. Also ist er gestorben.

Mir reichen zum Abschied von London und meinen Geschäften ein Glockenspiel und du, John Field. Bald wirst du hier auftauchen, ich werde dich am Klang deiner Schritte erkennen, wenn es nach dreißig Jahren nichts anderes mehr gibt, woran ich dich erkennen könnte.

Ich habe sie zum ersten Mal gehört, als du ein Junge von elf oder zwölf Jahren warst und zu mir in den Unterricht kamst. Acht Jahre später nahm ich dich mit nach Paris, um meine Klaviere vorzuführen. Das war die erste Station unserer großen langen Europareise. Unterwegs haben wir meinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert und in Petersburg sind wir einige Monate zusammen geblieben. Du wolltest nicht wieder zurück.

Jetzt bist du in London, weil du krank bist. Ich hoffe, man hat dir den richtigen Arzt empfohlen. Spiel ihm eines deiner Stücke vor, um die Diagnose zu erleichtern. Wenn er deine Krankheit nicht benennen kann, so findet er vielleicht einen Namen für die Musik. Mein lieber John: Alles, was ich wusste, alles, was ich lehren konnte, ist in dich eingegangen und Nacht geworden. Du hast mich vermengt mit deiner trunkenen Melancholie. Erzähle dem Arzt von den weißen Nächten in Petersburg. Vielleicht muss er seine Gelehrsamkeit gar nicht für das richtige Wort bemühen. Was haben dir die Damen in den Petersburger Palästen zugeflüstert?

Eta Romantika. Das ist Romantik.

Deine Nachtstücke, die Nocturnos, waren vor dir in England. Ich kenne deine Stimmungen. Alle Ordnung, die ich zur Klaviersonate geformt hatte, hast du aufgelöst. Andere machen es dir nach und besuchen mich. Dieser junge deutsche Jude war hier, der Enkel vom Philosophen Mendelssohn. Er kam mit seiner Schwester, die ihm näher steht als irgendjemand sonst. Die Gefühle der beiden füreinander sind womöglich mehr als nur Geschwisterliebe. Etwas, worüber man nicht sprechen kann. Lieder ohne Worte. Es kam auch dieser verrückte ungarische Junge, der kein ungarisch kann. Ich habe mit ihm ein wenig Deutsch geübt. Ferenc heißt er eigentlich, aber er lässt sich lieber Franz nennen. Franz Liszt improvisierte über ein Thema, das ich ihm gab und es klang, als hätte er seine Kindheit an einem Springbrunnen verbracht.

Ich bewundere die Glockengießer. Sie haben Geheimnisse, die sie nur mit ihrem Gott teilen, weil sie das einzige Instrument bauen, das sich einmischen kann in die Sphärenklänge des großen Alles und Nichts. Du, John Field, willst dich einmischen in das Unsagbare des Menschen, in seine Seele. Hast du die deinige nun erlöst oder zu Schanden getrunken in dreißig Petersburger Jahren?

Ich höre dich hinter mir herumgehen. Es scheint, dass du jeden umkreist, der hier stehen geblieben ist. So viele sind es nicht. Jetzt stehst du vor mir und breitest die Arme aus. Für Sekunden verschwinde ich in deinem Pelz, bevor du sehr vorsichtig die Hände auf meine Schultern legst. Die Hände, die ich jahrelang nachdenklich und prüfend betrachtet habe.

Wie geht es dir, John?

Unwillkürlich beginnen wir zu promenieren, und jeder verlässt sich darauf, dass der andere ein Ziel hat.

Mein Sohn ist ein hervorragender Sänger geworden. Bedauerlich ist allerdings, dass ich nicht mit seiner Mutter vermählt bin. Andererseits: Ein wenig Illegitimität passt doch recht gut zur Oper, findest du nicht, Muzio?

Du hast die formalen Grenzen nie akzeptiert, John.

Aber ich habe sie verstanden, Maestro.

Wir bleiben stehen und umarmen uns noch einmal.

Bist du nicht wegen einer Konsultation nach London gekommen? Was hat dir der Arzt gesagt?

Nun ja. Er sprach wohl auch über formale Grenzen. Diese Glocken hören sich besser an. Weißt du, Muzio: Deine Sonatinen Opus 36 sind mir eine große Hilfe beim Unterricht. Halb Petersburg hat sie schon gespielt.

Das freut mich, sage ich halbherzig. Warum bin ich so zurückhaltend?

Es sind Stücke des Tages, diese Sonatinen. Die Kinder, die sie spielen, halten Licht in den Händen. Das brauchen sie doch, und eine gute Nanny, die ihnen abends ein Lied zum Einschlafen vorsingt. Ich habe auch Konzerte komponiert: Die werden wohl in Petersburg nicht gespielt. Sie sind für die Großen, aber die Großen sehnen sich nach der Nacht. Vor allem, wenn sie weiß ist. Es ist gut, dass John nicht so geworden ist wie ich. Aber es ist nicht gut für seine Gesundheit.

Vor uns liegt der Südflügel der Abbey. Die Glocken hatten die ganze Zeit geläutet, so dass wir sie nicht mehr wahrnahmen. Jetzt sind wir verwundert, weil es still ist. Menschen schlurfen auf dem Platz umher und du holst eine flache braune Flasche aus dem Pelz.

Meine Herbergsmutter war so freundlich, mir Wegzehrung mitzugeben.

Ich habe mein Geschäft an Collard übergeben, sage ich. Frederick ist ein Spezialist für Resonanzböden. Er wird gute Klaviere bauen und den Verlag vielleicht verkaufen. Meine Koffer sind gepackt, morgen ziehe ich auf den Landsitz nach Evesham. Auch deswegen habe ich heute auf dich gewartet.

Du kommst nicht mehr zurück?

Vielleicht wird man mich zurück bringen. Aber nicht lebend.

Langsam wiederholst du mein „Vielleicht“. Du trinkst und betrachtest das Gemäuer.

Wollen wir hineingehen? Komm!

Dein Proviant hat dich ermuntert. Ich folge dir in das hohe Gewölbe, ein wenig scheu stehen wir vor den Gräbern der verehrten Meister Henry Purcell und Georg Händel, deren Leben beachtenswert genug war, um sie im Tode dieses königlichen Privilegs teilhaftig werden zu lassen.

Ich weiß nicht, welches Halleluja in deinem Kopf seine Stimme erhebt, John Field. Noch einmal breitest du die Arme aus.

Hier, Muzio, wirst du deine Ruhe vor der Welt haben. Aber ob die Welt dann vor dir ihre Ruhe haben wird, das wage ich zu bezweifeln.

 

 

 

 

24. Die Stoppuhr

 

 

Meine Mutter schloss mich in der Schulbibliothek ein, wenn ich eine Freistunde hatte. Die Bibliothek war unter dem Dach. Durch ein Fenster sah ich auf den Sportplatz. Irgendeine Klasse ließ sich vom Sportlehrer herumkommandieren. Ich war lieber eingesperrt. Meine Mutter wusste nicht, wohin mit mir. Manchmal hospitierte ich in ihrem Unterricht und manchmal ging das nicht. Sie ließ sich von der Sekretärin den Bibliotheksschlüssel geben.

Auf Regalen standen die Schulbücher, nach Klassenstufen geordnet. Ich begann mit dem Biologiekurs, Klasse acht. Die Art der menschlichen Fortpflanzung schien mir ein unheimlich blödsinniger Einfall der Natur zu sein. Meine Eltern taten mir leid.

Wenn Herr Gandro unten Leistungen beim 60- Meter-Lauf kontrollierte, nahm ich eine Stoppuhr, die auf dem Tisch lag. Ich merkte, dass Herr Gandro manchmal falsche Zeiten ablas. Nach dem Biologiekurs schaute ich die Geschichtsbücher an. Ich war in der 5b und wir redeten über Faustkeile. In der Geschichte weiß man nicht, wo vorn und wo hinten ist. Sind die Faustkeile vorn oder das, was gerade in den Nachrichten kam? Ich schaute in beiden Richtungen. Ich schaute auf Jahreszahlen.

Unter den Bildern der Menschen standen das Geburts- und das Todesjahr. Die beiden Zahlen ließen nur eine Richtung zu. In diese Richtung bewegte sich der Mensch ungefähr siebzig Jahre. Er starb bald darauf oder wurde schon vorher umgebracht. 

Nach zehn Jahren ihres Lebens waren sie so alt wie ich momentan. Ich hatte noch sechzig Jahre und begann, mich sehr komisch zu fühlen. Die Zeit verging langsam. Manchmal wäre ich gern älter. Sofort fiel mir ein, dass diese Zeit von den sechzig Jahren abging. Im Türschloss drehte sich ein Schlüssel.

„Was machst du denn hier?“, fragte Herr Pagelow, der Hausmeister.

„Meine Mutter hat mich rein gelassen.“

Herr Pagelow kannte die Lehrer und die Lehrerkinder.

„Ich brauche die Stoppuhr. Dem Gandro seine ist kaputt.“

Er tauschte die Uhren auf dem Tisch und ging. Die Tür schloss er nicht wieder ab.

Die kaputte Uhr tröstete mich ein wenig. Wären alle Uhren kaputt, wüsste man gar nicht, wie lange man schon gelebt hat. Es war kein gutes Argument, nur irgendeines. Weit hinter dem Sportplatz sah ich den kaputten Kirchturm der Stadt. Wir trieben uns dort manchmal herum. Jemand hatte erzählt, dass es einen geheimen Gang gibt. Ich wünschte mir immer noch sehr, diesen Gang zu finden. Genauso sehr wünschte ich mir jetzt, diese siebzig Jahre vergessen zu können.

Es wäre leichter, wenn man irgendwo ein altes Schwert findet. Ein Schatz oder ein Geheimnis haben keine Dauer wie ein 60-Meter-Lauf. Besitzt man so etwas, geht die kaputte Uhr wieder richtig.

Ich kann mit der Uhr spielen, bis ich den Gang finde. Das war auch wieder nur irgendein Ausweg. Nicht der Beste. Vom Türschloss hörte ich ein klapperndes Geräusch. Meine Mutter kam herein.

„Wieso war nicht mehr abgeschlossen?“

„Herr Pagelow brauchte die Stoppuhr.“

„Hat er . . .“

„Nein, er hat nichts weiter gesagt.“

„Wir gehen nach Hause.“

Wir hatten es nicht weit und liefen nebeneinander auf dem Fußweg.

„Warum gehe ich zur Schule?“, fragte ich.

„In siebzig Jahren bin ich sowieso tot.“

Meine Mutter ging langsamer. Sie nahm meine Hand. Ich spürte, wie sie atmete, um ein paar Worte zu finden.

„So darfst du nicht denken, mein Junge.“

 

 

25. Eine Frage der Stimmung

 

 

Mit siebzehn spielte ich in keiner Rockband und versuchte auch nicht, mit Freunden einen Moog-Synthesizer nachzubauen. Ich hatte andere Auftritte. Eine dieser Veranstaltungen ist mir als tagebuchähnliche Aufzeichnung  geblieben. Ich fand die folgenden Seiten in einem alten Ordner. Sie schildern den 25. 12. 1977.

 

Der Raum ist schmal und langgestreckt, sie haben die Tische zu einer Tafel zusammengeschoben. Eine Frau in weißem Kittel zwängt sich durch den Gang entlang der Tapete und schenkt Kaffee ein.

Vorn, an der Stirnseite, gibt es ein Bücherregal mit dem Neuen Testament, der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und ein paar staubigen Bildbänden. Wir schleppen die Instrumente rein und stellen sie davor. Vater klopft sich Schnee vom Mantel. Er atmet vorsichtig die überheizte Luft, mustert die gelben Gardinen und überzeugt sich, nicht mehr in die Kälte zu müssen.

Guten Tag, sagt er nun.

Wollen sie gleich Kaffee, fragt die Frau.

Nein, nein.

Er schraubt erst sein Schlagzeug zusammen. Beim Abbau ist er meistens nicht mehr so bei der Sache. Ich lege eine elektronische Orgel auf den Ständer und schließe das Instrument an den Verstärker an. Als ich nach der Steckdose suche, ist es dunkel geworden. Ich gehe zum Lichtschalter und die Neonröhren flackern.

Merkwürdig, dass nun am anderen Ende des Raumes eine Gestalt auftaucht, die vorher nicht zu sehen war. Sogar die Angestellte, die mittlerweile Tortenstücke auf Teller verteilt, scheint überrascht.

Aber Omi. Sie schaut kurz zu uns und geht dann zu der alten Frau, die sich dort hinten neben dem Weihnachtsbaum in eine Ecke gekauert hat.

Sie wartet auf ihre Söhne, sagt sie nachher, als sie mit der Kaffekanne zu uns kommt. Seitdem der Krieg vorbei ist. Sie kann es nicht begreifen.

Am Weihnachtsbaum schimmern farbige Glaskugeln. Ich bemerke, dass die Schritte der Angestellten von einem dumpfen Klacken begleitet werden. Arbeitsschuhe, nicht für Festlichkeiten gedacht.

Dieter kommt rein, er ist der Heimleiter.

Ich werde mal den Schnaps holen, sagt er und wirkt erschöpft. Die Alten sind gleich unten. Ich hab sie auf die Beine gebracht.

Es schmeckt ihnen nie etwas, erklärt uns die Frau. Ich weiß manchmal nicht, was ich kochen soll.

Wir hören die Kühlschranktür hinten, dann ist Dieter zurück mit einer Flasche und vier Gläsern. Er gießt ein und prostet uns zu.

Mein Vater trinkt schnell und dankbar, er hat lange gewartet. Dieter trinkt mit den runden Bewegungen eines zur Fülle neigenden Mannes. Die Köchin bewegt ruckartig den Ellbogen und verzieht keine Miene. Mir selbst schmeckt der Schnaps überhaupt nicht, aber ich mag seine Wirkung.

Weihnachtsstimmung, sagt Dieter und schenkt nach.

Das kriegen wir hin, erklärt Vater.

Für ihn hat der angenehme Teil des Tages begonnen. Der Zweck heiligt die Spirituose. Die Köchin erhebt sich und legt Geschenke an die Sitzplätze. Badetücher, Zigarren und Pfefferkuchen. Von der anderen Seite der Straße dringt plötzlich der Kneipenlärm vom Stadtcafe herüber.

Kurz darauf öffnet sich hier eine Tür. Mit der scharfen Luft aus dem Hausflur weht ein Mann in den Raum. Unrasiert und schwankend bleibt er vor Dieter stehen und bettelt: Gib mir ein Schnäpschen, ist doch Weihnachtsfeier heute.

Ja, sagt Dieter. Bloß, dass du schon stinkbesoffen bist, Hugo. Geh nach oben und schlaf dich aus.

Ich bin um Kap Hoorn gesegelt!, schreit Hugo. Aber ihr Grünschnäbel merkt ja nicht, wenn das Schiff ein Leck hat. Der Kahn läuft voll und ihr merkt es nicht.

Er stützt sich auf das bewegliche Oberteil der Orgel und findet keinen Halt. Ich halte reflexartig das Instrument fest. Dieter fängt Hugo auf.

So schnell gehen wir hier nicht unter, sagt Dieter und bringt Hugo nach oben.

Kap Hoorn, denke ich, wäre ein guter Titel für das Lied des betrunkenen Propheten. Aber niemand wird es hören wollen, solange das Schiff schwimmt, und niemand wird es hören können, wenn das Boot versunken ist. So bleibt nur eine ungeschriebene Ahnung.

Sie tippeln herein, während Vater im Notenkoffer wühlt. Alte Damen, Arm in Arm wie Freundinnen, die sich Geheimnisse teilen. Die Musik ist ja schon da!, sagt die eine und reicht Vater die Hand. Erst am Ende trotten zwei Männer, mit gesenkten Köpfen und heruntergebrannten Zigarren.

O du fröhliche, sagt Vater und reicht mir ein Notenheft mit Weihnachtsliedern.

Dieter ist wieder da und will eine Rede halten. Er hebt die Arme, um Ruhe zu schaffen, obwohl sich niemand unterhält.

Ich freue mich, sagt er, und beginnt mit der Vorstellung meines stadtbekannten Vaters. Dann komme ich an die Reihe und die Weihnachtszeit und die Sozialpolitik des Landes, in dem wir leben. Dieters Stimme erzeugt ein leises Sirren bei den Weihnachtsbaumkugeln. Er schließt seine Rede mit dem Wunsch, dass diese Runde auch im nächsten Jahr wieder vollzählig sein möge. Glücklich schnaufend setzt er sich an die Stirnseite der Tafel.

Wir spielen und die Alten essen ihre Torte sehr sorgfältig. Manche summen mit bei den Weihnachtsliedern. Dieter schenkt den Frauen Likör ein und den Männern Weinbrand-Verschnitt. Jetzt lasst uns mal in Stimmung kommen, ermuntert er seine Bewohner, zieht eine Frau vom Stuhl und bestellt einen Walzer bei der Kapelle.

Dieter führt seine Tanzpartnerin betont schwungvoll über das kleine Stück freier Fläche zwischen der Orgel und der Tafel.

Nach dem Schneewalzer bringt er sie zurück an den Platz und kommt zu uns.

So ist das gut, findet er, so könnt ihr weitermachen: Aber vorher trinkt ihr noch einen. Wegen der Stimmung.

Tanze mit mir in den Morgen, sagt Vater und gibt mir das Notenblatt.

Die Frauen tanzen, ohne dass Dieter sie noch animieren muss. Irgendjemand stachelt die beiden Männer an, als Lucie ihren Rock verliert: Also wenn euch das nicht in Bewegung bringt.

Die Jungs kommen bestimmt auf Urlaub, wiederholt die Frau neben dem Weihnachtsbaum, und wer es noch hört, legt ihr eine Hand auf den Arm.

Es ist kalt vor Kap Hoorn. Die alten Damen haben einen Schwips und gerötete Gesichter und Musikwünsche. So gut es geht, spielen wir ihre Leben. Zwei Lieder dauern sechs Minuten oder sechzig Jahre. Dieter läuft grinsend hin und her, empfänglich für zweideutige Bemerkungen und Melodien aus der Zeitmaschine.

Niemand will die Tanzfläche verlassen.

„In the mood“ ist ein gutes Stück für solche Gelegenheiten. Es bedeutet ja auch nichts anderes, als in Stimmung zu sein. Ich spiele die Einleitung und die Alten hampeln los. Vater trommelt ein Schlagzeugsolo, für ihn hat die Stimmung den Höhepunkt erreicht. Er ist auf der großen Bühne des Lebens und sein Blick ist verklärt. Ich kann ihm gerade noch den Schluss signalisieren.

Alle atmen tief durch. Eine der Frauen schaut mich mit großen, staunenden Augen an. Sie kommt ins Taumeln und bricht zusammen. Dieter eilt herbei, um sie aufzuheben und ins Nebenzimmer zu tragen. Er sagt etwas zur Köchin, die heulend zum Telefon rennt. Sie braucht länger, die Situation zu erklären, als der Doktor, um ins Heim zu kommen.

Ein schöner Tod, stellt der Doc fest und findet damit allgemeine Zustimmung. Bis auf die Köchin regt sich niemand mehr auf, nur Vater steht noch ein paar Minuten am Fenster und beißt sich auf die Lippen, bevor er einigen alten Damen vollkommen grundlos die Hand schüttelt. 

 

 

26. mandragora hospitalis

 

Wo man sitzen kann, fallen die Augen zu. Es klappert und murmelt. Ärzte fragen sich ab und Paläontologen. Das Blutbild, die Knochen. Ein Geschirrwagen.

Sie sagen: Auf dem Campus des Klinikums. Sie reden von einer Pflanze und auch von Mosevko.

 

Er wurde monatelang auf Stationen mit unaussprechlichen Namen behandelt. Ein Ast oder ein Haken oder eine Sicherung hatte nicht gehalten. Seine Freundin kam zu Besuch. Sie war die Freundin von jemandem, der in Baumkronen oder an Fassaden herumturnt. 

Die beiden saßen am Rande des Campus. Auf einem Tablett stand die gerade ausgegebene Mahlzeit. Einiges hatte die Freundin mitgebracht. Mosevko schaute in den Himmel, aus dem er gefallen war. Vögel saßen in den Bäumen. Ein Eichhörnchen lief den Stamm hinauf.

Er dachte an das Leben in Baumhäusern und Felsgrotten. Es gab Brüche und Risse. Ein Arzt erklärte, dass an eine Rückkehr nicht mehr zu denken sei. Mosevkos Freundin stellte ihre Besuche ein. Menschen gingen vorbei, deren Herz von einer Maschine betrieben wurde.

 

Er sah auf die Erde. Blätter hielten sich an einer feinstieligen Verzweigung. Ein Gewächs war dem Boden an der Stelle entsprungen, die er ständig bestarrte. Ein winziger Punkt zunächst, der als Unregelmäßigkeit einer späteren Erinnerung sichtbar wurde.

Bei dem abendlichen Verbandswechsel verstand Mosevko, dass es eine Blume sein musste.

Sie wollte am Rand einer betonierten Einfassung wachsen. Mosevko schaute ihr jeden Tag zu. Durch eine Operation wurde er gezwungen, einige Tage auszusetzen. Danach schien es ihm, als ob die Blume mit ihrem Wachstum gewartet hätte. Das war keine Täuschung: Mosevko verfügte über ein geschultes räumliches Sehvermögen.

Laufen wir herum, sagte die Physiotherapeutin.

Mosevko bediente sich einer Gehhilfe. Für länger werdende Zeitintervalle sollte er sich unter Aufsicht frei bewegen. Er suchte auf dem gesamten Campus nach einer Blume, die der seinigen ähnelte. Sie schien ein Unikat zu sein. Die Therapeutin war zufrieden, dass er herumkroch. Nach dreißig Minuten saß er mit schmerzenden Knochen wieder auf seinem Platz.

Du bist die einzige, sagte Mosevko zur gedeihenden Pflanze. Du bist wahrhaftig die einzige. Ich nenne dich mandragora hospitalis.

 

Der Turner, den man zu Mosevko aufs Zimmer legte, hatte ins Leere gegriffen. Er konnte noch den Kopf bewegen und behilflich sein bei dem Versuch, einen Ableger der mandragora zu züchten. Die Pflanze wuchs mittlerweile in die Breite. Ihre Blätter wurden fleischig. Die Blüten waren von venösem Blau. Mosevko amputierte einen bewachsenen Stängel und stellte ihn in ein Wasserglas. Das Glas stellte er neben das Bett des Turners.

Der Turner war dankbar. Seine leidenden Augen ließen langsam Wurzeln wachsen. Er stellte sich vor, es wären Nervenfasern in seiner Wirbelsäule.

Mosevko hatte Träume, in denen er träumte, schlaflose Nächte in einem Krankenzimmer zu verbringen. Ein Physiologe tauchte auf, der als Gärtner oder Anatomieassistent arbeitete. Er sprach mit Mosevko und teilte die Wurzel der mandragora. Der Turner, der nicht an die Decke starren wollte, hatte immer eine der beiden Wurzeln im Blick.

 

In einer geeigneten Nacht fuhren Mosevko und der Physiologe hinunter.

Pflanzen reagieren auf Musik, sagte der Physiologe. Warum sollen sie nicht auch auf Blicke reagieren. Blicke sind Wellen. Wir vergraben die Wurzeln.

So verbuddelten sie eine der Wurzeln vor der Onkologie und die andere neben dem Haus mit den Neugeborenen. Die entbundenen Mütter schauten erleichtert auf den Rasen. Sie hörten ihre Kinder. Der Physiologe schob totes Gewebe unter das Mikroskop.

Die Patienten der Onkologie bekamen viel Besuch. Alle bewunderten die blauen Blüten. In der Dunkelheit verstand Mosevkos überwacher Kopf die Zeichnungen an der Decke.

Aus Baugruben ragten Stahlträger, braun und blattlos. Von oben sah Mosevko die Tiefe. Die andere Wurzel brach aus dem Boden. Durch den Beton kam mandragora den wuchernden Zellen entgegen.

 

Ich nehme es als erwiesen, sagte der Physiologe. Die mandragora hospitalis verdankt ihr Wachstum dem Wirken schmerzvoller Betrachtung. Wie geht es Ihnen eigentlich?

Mosevko dachte an den Riss in der Milz und das unbewegliche Knie.

Meine Pflanze lebt noch.

Wenn Sie nichts dagegen haben, sagte der Physiologe, werde ich ein Blatt abzupfen und die Wurzel punktieren.

Mosevko nickte. Er wollte nachher etwas abbekommen von dem getrockneten Blatt.

Natürlich, sagte der Physiologe. Geben Sie mit etwas Zeit. Ich muss nur sicherstellen, dass es Sie nicht sofort umbringt.

 

Die gemeine Alraune mandragora officinarum ist eine biblische Pflanze. Ihre verwachsenen Wurzeln lassen Raum für Deutungen. Die Pflanzenteile gelten als giftig. Es gibt noch andere Alraunen. Eine wächst im Himalaya und ist schwer zu erreichen. Es weht Staub in den Höhen. Er weht und fällt und bleibt liegen.

Der Turner wurde in eine Spezialklinik verlegt. Er war müde und schaute mit dem Kopf nach links und nach rechts. Mosevko humpelte durch das Zimmer. Wie hoch kommt man mit so einem Knie. Die Schwestern redeten auf dem Flur über ihre Dienste. Irgendwo war Staub, als er diesen Unfall hatte. Der Physiologe wird das beweisen. Mosevko grübelte lange in seinem Zimmer.

Einige Stockwerke tiefer standen zwei Pflanzen. Sie wurden betrachtet von Menschen, die irgendwo  zerbrochen waren oder durchsetzt mit entarteten Zellen. Die Pflanzen trugen beerenartige Früchte. Mosevko lernte Botanik und ein wenig Pharmazie.

Als der Physiologe wieder auftauchte, brachte er einen jungen Arzt mit, der ein Thema für seine Doktorarbeit suchte.

Wir haben etwas gefunden in ihrer Pflanze. Ich will mich näher damit beschäftigen. Natürlich interessiert mich auch, ob man dieses Gewächs in größeren Mengen züchten könnte.

Es geht mir nicht besonders gut heute, sagte Mosevko. Damit es nicht zu schroff klang, fügte er hinzu: Ein anderes Mal gern. Im Grunde war das eine widersinnige Antwort. Der junge Arzt hatte es noch nicht verstanden. Wer sich wohl fühlt, kann zum Gedeihen der mandragora höchstens theoretisch beitragen. Die Schwestern wurden sich einig über den Dienstplan in der Weihnachtszeit. Eine sang Schneeflöckchen, Weißröckchen. Sie stieß dabei an den Geschirrwagen. Der Physiologe hatte ein Laborgefäß mit tabakähnlichen Krümeln auf dem Tisch stehen lassen.

Mosevko mischte einige von den Krümeln mit richtigem Tabak und drehte eine Zigarette. Er versuchte, an Menschen zu denken, denen er etwas bedeuten konnte. Hat ihm je ein Mensch mehr bedeutet als die Überflutungen seines Gehirns? Eine Rückkehr wird es nicht geben. Es gab einen Fahrstuhl nach unten. Er nahm die Gehhilfe mit.

Wer bist du, beschnittene mandragora. Ich werde dich wieder vervollständigen. Mosevko setzte sich zur Blume und zündete die Zigarette an. Der Rauch blies über die Blätter. Der Pflanze schienen die kühleren Temperaturen nichts anzuhaben. Sie sah beinahe aus wie ein Adventskranz.

Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, murmelte Mosevko. Ein ganzes Treibhaus voll. So hätten sie es gern.

Er fühlte sich leicht.

Auf einem Bein stand er jetzt, der Fuß unter dem kaputten Knie pendelte über dem Boden. Sein Kopf stieg auf, bis er auf dem Gipfel war. Durch die Erde hindurch sah er auf der anderen Seite sein Spiegelbild. Die Krankenschwestern verpackten Geschenke. Mosevko beschloss, die beiden Pflanzen auszugraben.

Niemand wunderte sich an diesem späten Abend. Fast schien es, als wäre Mosevko unsichtbar geworden.

Kurz vor Mitternacht verließ ein seltsam hinkender, gelegentlich auch hüpfender Mann den Campus des Klinikums. Seine Habe hatte er wohl im Rucksack verstaut, eine Hand trug einen undurchsichtigen Kunststoffbeutel. So sahen ihn einige Passanten von außen. Von innen sah ihn nur Mosevko.

 

 

 

27. Beate & Houdini

 

Beate hört Stimmen, und ich füttere ihre Katzen, wenn sie in der Klapsmühle ist. Die Katzen liegen nach der Mahlzeit auf zwei Küchenstühlen. Ich sitze im Korbsessel und lese laut eine Geschichte von Hermann Hesse. Das Buch liegt auf dem Küchentisch. Die Geschichte spielt in einem Garten in einer kleinen Stadt. Ich lese langsam mit wenig Bewegung in der Stimme. Die Katzen haben schläfrige Augen. In Hesses Garten liegt auch eine Katze auf der Bank.

Habt ihr das gehört, frage ich die Katzen.

Bestimmt haben sie das gehört. Es gibt die Katze, einen Oberschüler und ein Dienstmädchen. Sie wechseln einige Worte. An einer Hauswand ranken Weinreben. Es ist ein sonniger Herbsttag.

Habt ihr gehört, frage ich nochmals die Katzen, wie schön alles beschrieben ist?

Ich kann nur in Beates Küche lesen. Anderswo breche ich nach wenigen Sätzen ab. Die Worte bedeuten so wenig, dass ich sie nicht mehr auseinander halten kann. Buchstaben trennen sich nicht und fügen sich nicht zusammen. In Beates Küche entstehen Bilder, die ich verstehe. Ich mache eine Pause, um nichts durcheinander zu bringen.

Beate kauft viel ein, obwohl sie kaum etwas verbraucht. Ich sortiere die Lebensmittel aus, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist. Die Katzen sind neugierig. Auf dem Regal liegt Staub und im Kühlschrank schillern Farben. Ich werde kochen heute Abend. Vorher lese ich weiter.

Das Dienstmädchen geht in die Küche und kommt zurück. Sie ist nicht mehr jung. Verlegen drückt sie dem Oberschüler Brot und Wurst in die Hand. Es bleibt sogar ein Zipfel für die Katze übrig. Der Schüler ahnt jetzt, dass das Dienstmädchen ihn mag. Er denkt an sie, wenn er nachts beim Lernen Hunger bekommt.

 

Die Katzen folgen mir auf den Balkon. Dort suchen wir Platz wie in der Küche, auf einem Sessel und zwei Stühlen. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Supermarkt. Vor dem Supermarkt steht ein Apfelbaum. Der Baum trägt Früchte, die herunter fallen. Houdini kommt auf einem Fahrrad vorbei. Er heißt so, weil er sich einmal durch ein Gitterfenster der geschlossenen Abteilung gezwängt hat. Houdini verstaut Falläpfel in seinem Rucksack und kommt über die Straße. Mit seinem Fahrrad steht er am Balkon.

Gegen Houdini liegen aktuell siebenundvierzig Anzeigen wegen Belästigung, Ruhestörung und ähnlichem vor. Wir kennen uns.

Wo ist Beate?

Er ist verliebt. Vielleicht will er auch nur mit ihr schlafen. Im Übrigen bleibt Houdini immer vor einem Balkon stehen, auf dem Leute sitzen. Er unterhält sich mit ihnen, bis sie die Polizei rufen.

Hau ab, sage ich. Sie ist im Krankenhaus.

Da kann ich sie doch besuchen.

Soweit kommt’s noch.

Er grinst und weiß, dass er nichts erfährt.

Spielen wir Schach heute Abend?

Ich klingel bei dir, sage ich. Mach deine dreckige Küche sauber. Wir kochen.

Meine Haushaltshilfe ist abgehauen. Ich weiß nicht, warum.

Sei froh. Bis nachher.

Worüber soll ich froh sein, fragt Houdini.

Darüber, dass sich dein verwirrter Kopf an die Spielregeln erinnert.

Ich weiß noch mehr.

Ich weiß, dass du was weißt. Das ist das Einzige, was dich halbwegs erträglich macht.

Bis heute Abend, sagt Houdini.

Er fährt tatsächlich los.

Irgendein Amt schickt ständig Leute zu Houdini, die ihm helfen sollen, den Alltag zu meistern. Die Küche wird auch heute unbegehbar sein. Voraussichtlich landen wir bei mir.

Ich überlege, was sich mit Beates abgelaufenen Lebensmitteln anstellen lässt. Bohnen und Mais und das Fleisch in der Büchse sind bestimmt noch genießbar. Wir sollten essen, bevor wir spielen.

Die Katzen springen auf die Brüstung des Balkons und auf der anderen Seite hinunter. Sie werden zurück kommen. Ich lass die Balkontür einen Spalt offen, als ich gehe. Das Zeug in der Hand und gleich zu Houdini. Seine Küche ist bis zur Schwelle zugestellt mit kaputten Fahrrädern. Er hat sich im Zimmer einen kleinen Platz zum Leben gelassen. Dort setzt er sich auf einen nassen Teppich und nimmt seine Gitarre.

Ich habe mir einen Schlager ausgedacht. Den kann ich in der U-Bahn singen.

 

Vorne eckig und hinten rund,

so muss das Leben sein.

Oben dreckig und unten bunt,

so will ich bei dir sein.

 

Houdini unterlegt seinen Sprechgesang mit den beiden Akkorden, die er auf der Gitarre greifen kann.

Wie findest du das?

Ich bin beeindruckt.

Glaubst du, sie versteht mich?

Schon möglich. Aber es gibt jemanden, der ihr ständig dazwischen redet.

Houdini klopft auf dem Holz herum:

 

Immer wenn ich bei dir war,

holte mich das SEK.

Immer wenn ich bei dir . . .

 

Hast du eine Ahnung?

Schlief, sage ich.

Immer wenn ich bei dir schlief,

war da jemand, der den Streifenwagen  rief.

Wollen wir zusammen auftreten, fragt Houdini.

Du versuchst nur, irgendwie zu Beate zu kommen. Setz dich mit deiner Gitarre nackt vor den Bühneneingang der Staatsoper.

Funktioniert das?

Es funktioniert mit einem Kontrabass.

Ich gehe in den Kit-Kat-Club. Die können mich leiden.

 

Sollten sie ihn wirklich mögen? Der Club ist nicht dafür bekannt, erotische Fantasien zu verhindern. Houdini ließ sich fangen, um der Fesselung entfliehen zu können. Überall war es zu heiß. Gestern löschte er einen Brand in seinem Zimmer. Das verkohlte Papier ertrinkt im Teppichmuster. Es war ein zwanzigseitiges Gutachten.

Sie können dir nichts, sage ich.

Warum nicht, fragt er beleidigt.

Wegen deinem Dachschaden.

Die Straffreiheit ist auch eine Fesselung. Houdini kann seine Kunststücke nicht zeigen. An seinem Handgelenk pendelt der Rucksack mit den Äpfeln.

Soll ich die mitnehmen?

Zum Nachtisch. Wir backen einen Kuchen.

Habe ich schon mal gemacht. Mit Gras. Wenn der Kuchen fertig ist, fahren wir zu Beate.

Wolltest du nicht in den Kit-Kat-Club?

Ja, sagt Houdini: Aber vorher spielen wir Schach.

 

 

28. Das Poltern des Steines auf dem Sarg meines Großvaters

 

Ich nahm ein Messer in Verwahrung von jemandem, der damit unsachgemäß umgegangen war. Seit einigen Wochen wohnte ich im Gartenhaus der Antiquarin. Dieses Haus war eine Hütte, die man im Laufe der Zeit durch zwei oder drei Anbauten erweitert hatte. Die Räume waren klein und niedrig und zugestellt mit Schränken und Regalen. In einem Winkel stand ein Schreibtisch. Hinter einer Bücherwand befand sich eine Schlafnische. All diese verschrobenen oder gewöhnlichen oder schlecht erhaltenen oder einfach nur schlechten Bücher und Zeitungsstapel waren nicht zu verkaufen. Sie halfen mir bei meiner Arbeit. Ich fälschte eine Oper.

 

Am schwierigsten war die Instrumentation. Ich hatte nicht einmal den Tonumfang einer Oboe im Kopf. Ich kannte nicht die Bereiche, wo man für die Geigen Doppelgriffe schreiben kann. Ein halb zerrissenes Exemplar der Berlioz’schen Instrumentierungslehre war mir hilfreich; in einem besseren Zustand wäre das Lehrbuch nicht hier gewesen.

Ich schlug nach, wie er um 1870 mit dem Orchester umging. Danach wollte ich die Musiker herausführen aus dem, was reichlich ungenau als Tonalität bezeichnet wird. Mir stünde also der Weg bevor, den der Tonsetzer Adrian Leverkühn gegangen ist, eine Erfindung Thomas Manns. Ich war die Erfindung meiner selbst: Die von mir erschaffene Oper würde allerdings dem historisch nachweisbaren Komponisten Alban Berg zugeschrieben werden. Seine Lulu endete als Opfer eines Londoner Prostituiertenmörders.

Das Messer lag offen auf dem Schreibtisch. Vermutlich sucht man es dort am wenigsten, zwischen Tintenfässern, Schreibfedern und altem Partiturpapier. Dieses alte Notenpapier musste ich eintauschen. Besser gesagt: Die Antiquarin musste das tun bei einem Buchrestaurator, den sie mit alter Leinwand versorgte.

 

Drinnen ist es zu eng für Bananenkisten zwischen gewinkelten Ellbogen. Das Wetter ist freundlich. Yekta stellt alles vor die Tür. Er bemüht sich, keinen Bärlauch zu zertrampeln. Ich überblicke die Bücher, die aus einer Wohnungsräumung stammen. Wenige sind geeignet für den Laden in der Stadt. Den Rest nimmt Yekta morgen mit zum Trödelmarkt. Ich merke mir die Stückzahl. Was er nach dem Wochenende nicht verkauft hat, muss ins Gartenhaus.

Yekta rechnet mit der Antiquarin ab. Er hat die Garantie bei ihr, alles loszuwerden. Sein Ehrgeiz handelt nicht mit Büchern. Jeder Teppich hat ein anderes Muster. Ich mag die Musik, die von seinem Transporter herüberdringt. Einmal, bevor er wieder weg ist, muss ich herausfinden, ob Yekta Alban Berg mag.

 

Einen Tag oder auch zwei habe ich die aussortierten Bücher für mich. Sie bleiben vorn, auf der sauberen Decke des Küchentisches. Der Weg des Messers war dem zufälligen Schicksal der Menschen unterworfen. Es besitzt einen Horngriff und eine ausklappbare Klinge. Die Klinge ist sorgfältig geschliffen, aber nicht gesäubert worden. Der Mann, der dieses Messer einmal verwendete, ließ es bei einer Freundin, solange sie es aufregend fand. Als das Messer zu mir kam, bemerkte ich, dass es Teil eines Librettos war. Ein Hund bellt und jemand spielt Akkordeon.

 

So geht es zu in den Gärten. Das Motiv der Blaumeisen ist eine kleine Terz, die Summe dreier Halbtonschritte. Zwölf Halbtonschritte bilden das Universum von Alban Berg. Alles wiederholt sich in Permutationen, feinsinnig verschleiert durch den Rhythmus und die Instrumentierung.

Die Serie der Frauenmorde in London brach plötzlich ab. Der Täter wurde nicht gefunden. Er bekam den Phantomnamen Jack the Ripper. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass er begann, über Blaumeisen nachzudenken. Wäre er früher darauf verfallen, würde Lulu noch leben. Sie könnten nebeneinander existieren und sich mögen im begrünten Hof eines Krankenhauses oder Ministeriums. Warum soll ich sie nicht auferstehen lassen. Sie sind nicht wirklich tot. Mein Großvater ist wirklich tot. Ich stand als Kind vor seinem Grab und warf eine Handvoll Erde hinein. Ich hatte einen Stein gegriffen, ohne es zu merken. Der Stein polterte auf dem Sarg. Ich schaute mich erschrocken um. Alle taten so, als ob nichts passiert war. Das beunruhigte mich sehr.

 

Die erste Szene: Blaumeisen, eine Beerdigung. Lulu liegt im Sarg. Es ist nur ein Spiel. Der Junge bläst zwölf Töne auf der Oboe. Ein Nummerngirl läuft lächelnd die Reihe der Trauergäste entlang. Sie beginnt, die Menschen zu gruppieren. Alle tun so, als ob nichts passiert ist. Viel Musik jetzt, Blech und schrille Geigen. Ich stehe auf der Bühne und arbeite am Text. Der Mann mit dem Messer bewegt sich hinter einem durchsichtigen Raumteiler. Er ist Arzt, Journalist und Maler.

 

Yekta ist ein Todesengel. Er nimmt von denen, deren Seele fliegt. So haben sie es leichter. Ein Buch lege ich mir vom Tisch in die Hand und gehe hinaus mit der ersten Ausgabe von Kafkas Verwandlung. Ich weiß, dass es der Antiquarin einige Monatsmieten bezahlt: Für einen Tag gehören die vielgesprochenen Worte nur mir und dem Käfer neben der Regentonne. Ich verschicke keine Nachricht. Bei mir ist nichts, was mich auffindbar machen könnte. Ich bin lediglich ich und damit verschwunden und auch nicht vorhanden für den Nachbarn. Er lächelt mich an wie einen Gartenzwerg.

 

Am Abend mache ich Feuer. Hinter dem Haus befindet sich eine in den Boden gemauerte Feuerstelle. Ich suche Holz und Pappe und zerknülle Papier. Mit einem eisernen Haken wühle ich in der Glut. Funken steigen hinauf zu den Satelliten, die mich nicht erreichen. Ich höre den Chor der gefallenen Mädchen. Die Stimme eines Inspektors dringt durch Wirtshauslärm. Er ist ein ewig suchender Mann. Zwölf Töne können sich drehen und spiegeln. Sie werden erzeugt von Holz und Metall und feinem organischen Material. In der Nacht formt sich eine vibrierende Dissonanz.

 

Ich weiß, dass es gelingen wird.  

 

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29. Professor Löschenburg

 

Die Lampen auf dem Bahnsteig sind schon ausgeschaltet. Grüne Farbe legt sich in die Augen der Fahrgäste. Am Geländer kommen Dinge auf die Erde, alter Hausrat und beschädigte Instrumente.

Die Herren der Dinge sind treulose Hüter. Auf dem Markt verkaufen sie, was sie verkaufen können. Zwei Männer rauchen orientalischen Tabak. Gleichmütig bewachen sie abgeladene Bücherkisten.

Professor Löschenburg muss bekannt gewesen sein in akademischen Kreisen. Er hielt Vorlesungen zur politischen Philosophie. Dem Fach hat es nie an Hörern gefehlt. Professor Löschenburg sprach über Machiavelli, Hegel und Lenin. Seine gebundenen Vorlesungen sind nun hier. Ebenso viele Bücher, in denen der Professor seinen Namenszug und ein Datum hinterlassen hat. Die Sonne beginnt zu wärmen. Es ist noch nicht einmal Mittag.

Der Student Werner Löschenburg gab entliehene Bücher nur selten zurück. Er füllte sie mit Unterstreichungen und Anmerkungen und schnitt die Bibliotheksstempel auf der Titelseite heraus. Irgendwo in seiner Wohnung hing ein Plakat zum „Gedenken der Bewegung 2. Juni“. Es ist ein Handdruck auf Reispapier.

Die Verkäufer wollen ihre Ware nur loswerden. Sie nehmen vier Euro für das Plakat und zeigen mit großzügiger Geste auf die Kisten. Jedes Buch für einen Euro. Professor Löschenburg hat promoviert und sich habilitiert. All das lässt sich ordentlich belegen. Er hat Bücher gestohlen und war Sympathisant einer terroristischen Vereinigung. Auf dem Plakat stehen Namen von Menschen, die später gesucht oder erschossen wurden. Einige brachten sich selbst um oder bekamen eine andere Identität. Diese Namen also, in Holz geschnitten und auf Reispapier gedruckt, hingen in der Wohnung. Niemand befestigt Reispapier an einem Laternenpfahl.

Es ging ihm gut, dem Professor. Er warf einen Blick auf die Namen, bevor er in die Universität musste. Er studierte die ovalen Löcher in seinen Büchern. Gelegentlich malte er ein Aquarell.

Aquarelle werden nicht grundiert. Der Untergrund dieser Bilder ist das weiße Papier. Es beleuchtet die Farben von innen. Es beleuchtet den Platz und die dicken Frauen, die in Bergen mit billigen Wäschestücken wühlen. Es schafft Helligkeit für Taschendiebe. Es umrandet unter Baldachinen aufbewahrte Zeugnisse, Münzen und Briefe aus der Gefangenschaft. Manchmal schimmert es unter den verwischten Klecksen des Professors. Dort, wo Löschenburg seinen Pinsel hat ruhen lassen, beleuchtet der weiße Untergrund sich selbst.           

 

 

30. Ohne Vollmacht

 

Ich bin am Nachmittag bei ihr, ungefähr zwei Stunden vor der Abendbrotzeit, und meine Mutter fragt nach ihren Eltern. Die ganzen Tage, sagt sie, habe ich darauf gewartet, dass ich jemanden fragen kann.

Frag mich ruhig, sage ich dann.

Auf dem Tisch steht eine Schale für Obst und Gebäck, aber sie behält die Sachen im Nachtschrank, wegen dem Mann, der manchmal reinkommt und alles wegnimmt. Ich setze mich auf die Bettkante, weil ich Hunger habe und weil es besser für das Gespräch ist.

„Leben denn die Eltern noch?“, fragt meine Mutter.

„Du hast bestimmt von ihnen geträumt“, sage ich. „Ihre Geister haben dich besucht. Sie haben nach dem kleinen Mariechen geschaut.“

„Aber leben sie denn noch?“

„Lass uns überlegen. Wie alt bist du jetzt?“

„27?“, fragt sie unsicher.

„Dann könntest du meine Tochter sein.“

„Mach keine Witze mit deiner Mutter“, ermahnt sie mich.

„Siehst du. Ich bin schon über fünfzig Jahre alt. Also musst du noch älter sein.“

„Das stimmt.“

„Wie alt warst du denn, als du Vati geheiratet hast?“

„27!“,   sagt sie noch einmal. Diesmal ist es richtig.

„Weißt du noch, wo ihr dann gewohnt habt?“

„Natürlich. In Blankenthal im alten Schulhaus. Wo die Lehrer damals gewohnt haben. Meine Mutter hat in der Wirtschaft geholfen und der Vater war bettlägerig. Den haben wir gepflegt, ja.“

„Da glaubst du, dass er jetzt, wo du selbst eine alte Frau bist, noch lebt?“

Sie denkt nach. Ich krame im Nachtschrank und finde Schokoladenwaffeln. Meine Mutter isst nur noch wenig. Ich stehe auf und öffne die Balkontür. Einige Stockwerke tiefer krümmt sich die Nebenstraße einer Nebenstraße vom Bahnhof zu irgendeinem Kreisverkehr. Bis Blankenthal sind es von dort vielleicht zwanzig Autominuten. Den Geistern ist das egal. Sie schauen nach ihrem Mariechen, wann sie wollen. Das Mädchen war lange weg. Jetzt ist es ganz in der Nähe.

„Mir fällt etwas ein.“

Ihre Stimme klingt nun hell und ernst wie die eines Mädchens, das etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Ich gehe zurück und ziehe einen Stuhl ans Bett.

„Ich habe einmal mit der Frau Sukowski gesprochen. Wegen der Gräber.“

„Das war wohl, als wir weggezogen sind aus Blankenthal“, sage ich.

Ich kann mich nicht daran erinnern. Meine Erinnerung besteht aus den Erzählungen der anderen.

„Wegen der Gräber“, wiederholt meine Mutter:

„Also sind sie dort beerdigt?“

„So ist es.“

Ich nehme ihre Hand, ein durchsichtiges Geflecht.

„Dort sind sie. Es ist nicht weit weg. Sie kommen im Geiste zu dir.“

„Hier sind wohl viele meschugge“, sagt meine Mutter und schaut zur Zimmertür. „Ich mag gar nicht zum Abendbrot gehen, weil die so meschugge sind.“

Die Tür geht auf. Ein Pfleger begleitet Frau Niemann, mit der sich meine Mutter dieses Zimmer teilt. Der Pfleger legt Frau Niemann auf das Bett und stellt die Seitenlehne hoch.

„Ich mag nicht zum Abendbrot“, erklärt meine Mutter dem Pfleger. „Ich habe nämlich Besuch.“

Der Pfleger mustert mich kurz. „Okay. Ich bringe einen Teller rein. Zimmerservice.“

„Sie mögen das nicht“, sagt Frau Niemann, nachdem der Pfleger das Zimmer verlassen hat. „Manchmal sind sie böse. Letzte Nacht musste ich weinen.“

„Sie reden, als ob wir auch meschugge sind“, sagt meine Mutter.

„Ich kann dich hier nicht rausholen“, sage ich.

Der Pfleger kommt ins Zimmer und stellt ein Tablett auf den Tisch. Es ist ein Schälchen Gurkensalat dabei und eine Tasse Tee.

„Jetzt hast du Abendbrot, mein Junge. Du bekommst immer Abendbrot bei mir.“

Sie freut sich sehr.

„Lass uns zusammen essen“, sage ich. „Jedenfalls nimmst du etwas von dem Salat.“

„Meinst du?“

„Natürlich. Ich komme rüber.“

„Aber die Eltern“, fragt sie, während ich mit dem Schälchen zu ihr gehe,

„müssen doch irgendwo wohnen?“

„Sie haben eine Wohnung in deinem Kopf“, sage ich. „Der Geist von deiner Mutter und der Geist von deinem Vater. Die guten Geister wollen doch ihr Mariechen nicht verlassen.“

Ich hatte auch nur eine Wohnung in meinem Kopf viele Jahre. Deswegen habe ich keine Vollmacht. Wir teilen uns den Gurkensalat. Abwechselnd bekommt jeder einen Löffel.

„Ich habe denen gesagt, dass ich mit meiner Tochter essen war.“ Frau Niemann freut sich auch. „Aber ich hab nur unten gesessen am Teich. Der große bunte Karpfen war wieder da. Warum wollen Sie sich das nicht einmal anschauen?“

„Vielleicht einmal“, sagt meine Mutter ausweichend.

Sie mag die Gehhilfe nicht und sie mag den Rollstuhl nicht.

„Wenn es mir besser geht, fahre ich mit dem Fahrrad. Früher bin ich immer mit dem Fahrrad gefahren. Ist das noch zu Hause im Keller?“

Sie hat kein Zuhause mehr. Sie hat nur dieses Bett, einen Nachtschrank, ein Regal und einen Kleiderschrank.

„Wenn du ein Fahrrad brauchst, ist bestimmt eines da“, versichere ich ihr.

„Hier sind so viele meschugge“, sagt sie.

„Ich mache euch einen Vorschlag“, erkläre ich den beiden Frauen.

„Ich gehe jetzt runter und zur Kaufhalle und hole Eis für uns.“

Meine Mutter lacht ein wenig, mit den Augen.

„Ja, wenn Sie das wirklich tun würden“, sagt Frau Niemann.

 „Brauchst du Geld?“, fragt meine Mutter.

„Nein“, sage ich.

Sie hat kein Geld zur Verfügung. Auf dem Flur begegne ich einem Mann, der nach unten will oder in ein anderes Stockwerk. Ich nehme ihn mit bis zum Fahrstuhl. Im Fahrstuhl treffen wir eine Putzfrau mit ihrem Wagen. Die Putzfrau kennt den Mann. Draußen wird es dunkel, aber ich sehe den schimmernden Rücken des großen bunten Karpfens.

Der Weg zum Supermarkt führt halb um den Kreisverkehr herum und auf der anderen Seite wieder geradeaus. Keine Ortschaft ist ausgeschildert, zu der es hier noch gehen könnte. Der Weg führt vorbei an einem Geschäft für Angelbedarf und über ein kleines Rinnsal. In dem Gestrüpp am Ufer liegen leere Zigarettenschachteln.

Auf der Brücke bleibe ich stehen, ein Halt zwischen dem Heim und der Einkaufsstätte, die ich den beiden Frauen gegenüber als „Kaufhalle“ bezeichnet habe.

Hier, nicht weit vom Kreisverkehr entfernt, suchen die Geister vielleicht nach der Richtung. Als Kind hatte ich es vage als Manko empfunden, erst nach dem Tod meiner Großeltern auf die Welt gekommen zu sein. Dort drüben, in dem alten Schulhaus. Das Mariechen war die Lehrerin, und der Friedhof lag dem Schulhaus gegenüber.

Sie drehen sich im Kreis, die Geister. Viel Asche ist von dieser Brücke gefallen. Der Angelverkäufer weiß bestimmt, wie man zum nächsten See kommt. Ich bin an einem Fluss aufgewachsen, später, nach dem Umzug. Dort konnte man Angeln gebrauchen.

Das geht mir durch den Kopf, während ich den Parkplatz vor dem Supermarkt überquere. Ich bleibe vor den Eistruhen stehen und suche nach einer Packung mit verschiedenen Sorten.

Es kann sein, dass ich länger suche, als unbedingt notwendig ist. Es wäre aber auch möglich, dass sich das verpackte Eis plötzlich in Packeis verwandelt hat. Ich bin eingeschlossen und muss hier bleiben. Die Kassiererinnen machen Späße und fahren auf riesigen Staubsaugern durch die Gänge. Der Filialleiter wirft mit Apfelsinen gegen Suppendosen.

Ich will trotzdem raus und laufe auf dem Band an der Kasse vorbei, werfe kleine Münzen unter die staunenden Menschen und verschwinde.

Gefällt das den Geistern? Ich frage sie, als ich wieder auf der Brücke bin.

„Bring nur dem Mariechen etwas zum Naschen“, sagen sie, „und ihrer Freundin auch, damit sich die beiden vertragen.“

Ich gehe weiter und begegne oben, nachdem ich aus dem Fahrstuhl gestiegen bin, noch einmal dem Pfleger.

„Sie sind ja wieder da“, sagt er; überrascht oder auch nur, um irgendwas zu sagen.

 „Ich war kurz einkaufen.“

„Aber kein Eis!“, ermahnt er mich.

„Das ist wegen der Magen-Darm-Grippe“, sagt Frau Niemann im Zimmer. „Die anderen haben alle diese komische Grippe.“

„Bestimmt, weil sie andauernd Eis essen“, sage ich.

„Weil sie meschugge sind“, sagt meine Mutter.

‚Meschugge‘: Das Wort bezeichnete früher für sie eine besonders indiskutable Form von Dummheit, der man nicht unbeschadet begegnen konnte. Ich nehme ihr einen alten Bildband aus der Hand und lege die Finger um den kühlen Eisbecher. Sie hält ihn fest. Mit würdevoller Milde greift sie nach dem Löffel. Ich breite ein Taschentuch auf die Bettdecke.

So feiern wir ein wenig.

Ich weiß, dass mein Bericht vom Angelladen am Einkaufsweg ein Stichwort liefert.

„Der Vati ist auch gern Angeln gegangen“, beginnt meine Mutter.

Sie erzählt die Geschichte mit nahezu immer gleichen Worten, wie sie oft saßen am Ufer des Flusses, mit der Angel und dem Strickzeug, wenn es nicht zu windig war. ‚Der Vati‘ ist jetzt mein vor Jahren verstorbener Vater, dessen Abwesenheit von meiner Mutter nicht hinterfragt wird. Er bringt sich nicht in Erinnerung. Er ist nur Figur einer alten Geschichte. Flussaufwärts gab es diese Chemiefabrik. Alles das, ja: Die Ehe und der Beruf; eine alte Geschichte. Vielleicht kam sie mal im Fernsehen.

Wir üben Rechnen. Montag hat Vati vier Fische gefangen, Dienstag sieben und Donnerstag fünf. Wie viele also insgesamt?

Frau Niemann rechnet stumm mit, sagt aber nichts.

Wenn das Ergebnis nicht stimmt, sind zwei von den Fischen in dem dreckigen Wasser zugrunde gegangen. Es ist noch Eis da.

„Das soll doch nicht etwa schmelzen“, sage ich.

Die Verpackungen sind verräterisch. Ich verstecke sie in der Einkaufstüte. Der Pfleger kommt ins Zimmer und kramt im Bad herum. Ich erzähle laut von den Sonderangeboten im Supermarkt, dann gehe ich auf den Balkon, bis der Pfleger verschwunden ist. In diesen Minuten geht auch der Tag und nimmt das Licht mit aus den leeren Fenstern des gegenüberliegenden Hauses.

Hinter mir, im halbdunklen Zimmer, schaltet Frau Niemann die Abendnachrichten an. Gleich, wenn ich weg bin, wird der Pfleger mit der Nachtversorgung kommen. Ich gebe meiner Mutter einen Kuss und die Gelegenheit, meinen Mantelkragen zu sortieren.

„So kannst du auf die Straße,  mein Junge.“

„Es ist nicht weit bis zum Bahnhof.“

„Fährst du noch zu den Eltern?“

„Das weiß ich nicht so genau“, sage ich. „Aber ganz bestimmt rede ich mit ihnen.“

 

 

31. Opossum

 

John war Donnas neuer Untermieter. Am Morgen stand er vor seinem Trailer und machte Hantelübungen. Donna hatte ihm einen Streifen vom Grundstück überlassen.

Ich sah ihm bei seinem Training zu, bis er eine Pause machte und sagte:

„Du musst Erik sein“. 

Er war also im Bilde. Ich lebte in Donnas Haus. Gestern hatte sie mich auf die Ankunft eines neuen Mitbewohners vorbereitet:

„Er hat seinen Wohnwagen. Ihr werdet euch nicht in die Quere kommen.“

Wenn ich zu Hause war, saß ich am Tisch auf der offenen Veranda. Hinter oder unter dem Moskitonetz schrieb ich etwas auf einer alten Olivetti. Tatsächlich gab es im örtlichen Store für Bürobedarf noch Farbbänder für das Ding. Die Schreibmaschine machte ihre Geräusche, die nun auch durch das Netz und den Tag und die Nacht in Johns Behausung drangen.

„Ich hole nachher ein Mädchen in Miami ab. Ein nettes Mädchen.“

„Schön“, sagte ich  und schlenderte zur Lagune, die sich wie ein Haken in die Insel krümmte. Ich redete mit den Mangroven, bekam Hunger und spazierte zu einem Straßenimbiss an der A1. Der Typ  freute sich immer, Hotdogs mit Sauerkraut zu verkaufen. Es war Sonntag. Ich nahm Bier von  der Tankstelle mit und landete wieder auf der Veranda. Die Sonne ging unter. John kam zurück und machte dem Mädchen die Türen auf. Der Trailer begann zu schaukeln.

Ich tippte weiter und hörte dem Mädchen zu. Ich schrieb und hörte mit derselben zerfahrenen Aufmerksamkeit. Ein Opossum drückte die Nase ans Netz. Wir sahen uns an, als es ruhig wurde.

„Erik!“, rief John.

Die Stimme gehörte zu diesem verschwommenen Rattenblick.

„Komm rüber, Erik!“

Ich ging zu ihm und stand im Trailer vor dem Hochbett.

„Schau dir das an“, sagte John und drückte die Schenkel des Mädchens auseinander. Die unverblümte Nacktheit erwischte mich in Augenhöhe. Das Mädchen posierte lächelnd und legte eine Hand auf John‘s Oberarm.

„Das ist großartig, oder? Hundert Dollar und sie kommt eine Stunde rüber zu dir. Machst du doch, Lizzy?“

„Sicher.“

Von weiter hinten schenkte sie mir einen verliebten Blick.

„Ich lass mir das durch den Kopf gehen“, sagte ich.

„Okay. Wenn du Freunde hast: Ich bring sie vorbei.“

„So viele kenne ich hier nicht. Aber ich hab’s kapiert.“

„Wir sehen uns jedenfalls morgen, Erik.“

„Bye“, sagte Lizzy.

Später in der Nacht kam Donna von ihrer Tresenschicht nach Hause. Ich ging ihr entgegen. Sie trank das erste Glas Wein gleich vor dem Kühlschrank. Dabei schien sie sich an etwas zu erinnern.

„Hast du ihn gesehen heute?“

„Ja. Gibst du mir ein Bier raus?“

Sie nahm eine Büchse und das aufgefüllte Weinglas. Wir setzten uns draußen zum Opossum. Der Trailer war dunkel und ruhig. Auf der Kofferhaube von Johns Auto spiegelte sich ein Sternbild.

„Er ist nicht allein“, sagte ich. „Hat ein Mädchen abgeholt in Miami.“

„Warum nicht“, sagte Donna mühsam.

„Das Mädchen will er durch die Gegend fahren. Für hundert Dollar die Stunde.“

„Ach was.“

Donna stand auf und starrte unschlüssig durch das Moskitonetz. Das Opossum hob die Nase.

„Ich kann es nicht glauben.“

Sie ging zum Kühlschrank und holte die Flasche.

Unterwegs stützte sie sich auf einem Sessel ab. Ich blätterte in meinen Seiten. Donna stellte die Flasche neben die Schreibmaschine und machte ein paar Schritte auf der Veranda.

„Wirklich nicht.“

Sie hatte das Glas in der Hand, trank im Stehen aus und setzte sich wieder an den Tisch. Die Ratte verkroch sich unter dem Wohnwagen.

„Ich kann es wirklich nicht glauben . . .“

Donna wischte mit den Fingerspitzen über Schreibmaschinentasten. In der langen Pause nach dem unvollendeten Satz verstand ich, dass sie sich von John mehr versprochen hatte als ein paar Dollar Miete. Wir beide und das Opossum sahen einer Hoffnung hinterher, die nur kurz an diesem Haus Halt gemacht hatte.

„ . . . dass er ihr Zuhälter ist.“

Donna hatte ein Ende für den Satz gefunden. Das Ende gehörte nicht mehr zu ihr. Es war bestimmt für ein unsichtbares Publikum, und wäre John nur der Zuhälter des Mädchens, hätte Donna es nicht gesagt. Glück ist nicht moralisch. Unter dem Trailer schlief das Opossum, und Beutelratten sind immun gegen Schlangengift.

 

 

 

32. Glühende Kohlen

 

Sie sitzen da wie Gespenster. Die Münder sind verhangen und die Augen suchen über dem Tuch die Umgebung ab. Sie halten einen Abstand, der sie bewahren soll.

Eine Frau bleibt auf dem U-Bahnsteig stehen, zwischen den Gleisen und einem geschlossenen Bäckereiverkauf. Sie denkt an glühende Kohlen im Schnee. Es war nicht klug, die Kohlen neben dem Ofen zu lagern.

Sie denkt auch: Diese Affen. Ich bin wirklich krank.

Carola weiß, dass sie die Luft angehalten hatte, als die Kohlen in der Wohnung glühten. Hatte noch jemand einen Kohleofen in der Wohnung? Vielleicht auf dem Grundstück?  Irgendwo. Nur um zu kapieren, wie blöd sie war.

Die Werbetafeln jenseits der Gleise machen Werbung für Urlaub. Mit einem Drink in der Hand stehen Gäste am Hotelpool, Spiegelungen überhitzter Luft. Jetzt stehen die Hotels leer. Die letzten Gäste sind abgereist und sitzen vermummt auf U-Bahnsteigen. Das ist Folgsamkeit, denkt Carola. Die Abreise, die Maskerade. Ich brauche eine Operation, wenn sich die Geschwulst verkleinert hat. Sie machen nur noch Notoperationen. Die Kellner sind nach Hause gegangen und die Zimmermädchen.

Die Barfrau ging allein, nachdem sie mit der Abrechnung fertig war. Carola hatte sich gelegentlich jemanden mitgenommen. Einen, den sie mochte und der sich nicht schon beim Warten betrank. Sie betreute einen Kneipentresen, keine Hotelbar. Es konnte spät werden oder früh: In der Morgendämmerung ertrug sie ihre schmerzenden Füße.

Du musst mich nicht tragen, sagte sie zu ihrem Begleiter.

Im Winter war der Weg manchmal überfroren. Der Mann trug sie nicht, aber er achtete darauf, dass sie Halt hatte.

Er war einer von den Besseren, denkt Carola.

Sie standen vor ihrem Haus. Carola kam der Gedanke, noch nicht gleich hoch zu gehen. Ein paar Schritte weiter: Die machten ihren Laden dort überhaupt nicht zu. Carola wollte reden, ohne dabei Schaum von Biergläsern abzustreichen. Für eine Stunde ein Gesicht neben sich haben, bevor es über ihr war. Reden um zu reden.

Hast du nichts zu trinken oben, fragte ihr Begleiter.

Ich brauch erst mal eine Stunde. Einfach nur sitzen.

Das verstehe ich doch, sagte der Mann.

Ganz bestimmt war er einer von den Besseren. Carola glaubte in seiner Stimme etwas zu hören, was sie vorhin in  der Kneipe noch nicht gehört hatte. Vielleicht war es gar nicht möglich, dieses etwas im Kneipenlärm wahrzunehmen. Die Stimme klang ehrlich. Carola suchte die Wohnungsschlüssel.

Trinkst du Wein? Oder nur Bier?

Ich trinke auch Wasser.

Wie beruhigend, sagte Carola.

Sie gaben sich einen Kuss. Er dauerte nicht lange. Es war nur ein Zeichen des Einverständnisses. Das Licht im Hausflur war kaputt. Carola nahm den Mann an die Hand und führte ihn in den Hinterhof. Die Glühbirne im Seitenflügel funktionierte.

Auf der Treppe bemerkte der Mann den Geruch. Er sagte nichts. Feine Linien bewegten sich auf den Nasenflügeln. Carola sah das Netz in seinem Gesicht. Sie war einen Moment erstaunt, dann wusste sie, dass es die Kohlen waren.

Die Kohlen sind neben dem Ofen, sagte sie sehr schnell. Im Zimmer gleich links. Sie zog ihren Schal bis unter die Augen, hielt die Luft an und versuchte, im Nebel vor der Wohnungstür das Schlüsselloch zu finden. Eine halbe Drehung, mehr war es nicht. Carola lief blind geradeaus bis zum Kinderzimmer und holte den Jungen aus dem Bett. Sie lief wieder zurück und die Treppe hinunter. Die ganze Zeit hatte sie nicht geatmet. Auf dem Hof erschrak das Kind, als sie Luft holte.

Schon gut, sagte Carola.

Du warst nicht da, sagte der Junge.

Warst du etwa wach?

Nur kurz.

Carola sah erschöpft in seine undurchdringlichen Augen.

Eine Weile blieb sie so im Hof stehen. In der Wohnung oben gingen Fenster auf. Als ihre Arme schwer wurden, brachte sie den Jungen wieder ins Bett.

Bleibst du jetzt hier, fragte der Junge.

Ja. Sie ließ die Kinderzimmertür angelehnt.

 

Eine Lautsprecherdurchsage teilt mit, dass die Zugfrequenz aus gegebenem Anlass herabgesetzt wurde. Eine Erklärung für alles ist das jetzt: Aus gegebenem Anlass. Irgendwann haben alle vergessen, um welchen Anlass genau es sich eigentlich handelte. Es genügt der Hinweis, dass er gegeben ist.

Die Augen des Jungen hatten sich wieder geschlossen. Der Mann stand im Schlafzimmer am offenen Fenster. Carola stellte sich neben ihn. Er hatte sich die Hände verbrannt. Seine Augen waren rot und tränten. Unten im Schnee glühten immer noch Kohlen.

Das war knapp, sagte der Mann.

Carola holte Augentropfen, Salbe und Verbandszeug. Die Kneipennächte hatten ihr beigebracht, diese Sachen im Haus zu haben. Mein Held. Sie wusch, verband und versorgte.

Jetzt wirst du die Hände nicht brauchen. Leg dich hin.

Er war einer von den Besseren. So behandelte sie ihn. Er schaute von unten und sagte: Schade, dass ich nichts in die Hand nehmen kann.

Es ist heiß genug, sagte Carola.

 

Die Geschwulst war langsam gewachsen, über Jahre. Sie kam aus dem Bindegewebe, durchädert von Strömen, die nicht abgetrennt werden konnten. Der Arzt entwarf einen gewagten Plan. Gift sollte den Tumor verkleinern. Er musste entfernt werden, bevor die Wirkung umschlug. Carola hoffte sehr, dass der gegebene Anlass diesen Plan nicht verdarb. Es war knapp. Hinter seinem Schleier sprach der Arzt von einem Fenster. Er meinte einen Zeitraum. Er meinte eine Aussicht und sagte es nicht. Vielleicht, weil die Aussicht so klein war.

Schmeiß das Zeug raus, verbrenne dir die Hände. Sei mein Held. Sollte sie das zu einem Chirurgen sagen? Die Belohnung wäre kümmerlich nach so vielen Jahren. Der Junge ist groß geworden. Sie trägt ihn nicht mehr durch ein verqualmtes Treppenhaus. Die Salbe ist ausgetrocknet. Die Augen des Sohnes sind undurchdringlich geblieben.

 

Eine Seuche ist über alle gekommen. Es gibt kein Gebäck mehr auf dem Bahnsteig, keinen Kokosplunder und keinen Blaubeerkuchen. Carola hat in den letzten Wochen anormal an Gewicht verloren. So stand es in einem der vielen Befunde, Gutachten, Protokolle.

Jede Erfahrung, dass etwas knapp war oder ist oder wird, versteckt sich. Sie versteckt sich hinter undurchdringlichen Augen. Zwischen den Schienen liegt sie, Asche geworden im geschmolzenen Schnee.

 

 

33. Eden. Die offene Rechnung

 

 

Gleich in der Nacht mache ich mich auf den Weg zur Bank. Ich habe festgestellt, dass eine Überweisung zurückgebucht wurde. Nun gehe ich zum Serviceterminal.

Meine Müdigkeit verfliegt. Ich gehe in der Überzeugung, einen Fehler berichtigen zu können. Die Nacht ist erfrischend nach dem heißen Tag. Eine leere Bierflasche steht am Rand des Fußweges. Ich hebe sie hoch und achte auf das Regenwasser, das sich in der Flasche gesammelt hat. Es besorgte die halbe Reinigung. Hätte ich nicht noch eine Besorgung zu machen, würde ich die Flasche jetzt auskippen und einstecken.

In einigen Hauseingängen stehen Kartons. Ich finde eine verschließbare Teedose. Es geht mir gut mit den Dingen, die andere nicht wollen.

 

Die Menschen fahren weit weg oder versuchen, sich Platz zu verschaffen. Aus einem offenen Fenster höre ich laute Stimmen. Erwachsene und Kinder schreien durcheinander. Sie reden viel und finden keine Worte. Vor einem der Häuser steht ein Mann und raucht eine Zigarette. Er tritt zurück, als ich vorbeigehe.

Auf meinem Konto gibt es keine regelmäßigen Zahlungseingänge. Gelegentlich schiebt mir der Professor mit seinen listig blinden Augen einen Umschlag zu. Ich mache Hausaufgaben mit Kindern, die als schwierig gelten. Halbjährlich lese ich Korrektur, wenn ein unsicherer Manager seinen Bericht an den Aufsichtsrat abgibt. Jetzt habe ich etwas Bargeld bei mir.

Als ich Zugang zu den Archiven bekam, sagt der Professor, verlor ich mein Sehvermögen. Deswegen lese ich ihm laut und deutlich aus digitalisierten Dokumenten vor. Der Professor nennt es Geschichte, wenn etwas der Fall war. In dieser Nacht begegnet mir Curtis. Er stolpert aus einem 24-Stunden-Laden und sucht nach dem Polarstern. In den Sekunden der Halbgewissheit laufe ich in seinen Tollkirschenblick. Die Augen spiegeln mich schmutzig und vorwurfsvoll.

Curtis ist ein Wirt ohne Konzession. Ein Dealer ohne Drogen. Ein Straßenmaler, dessen Werk vom Regen weggespült wird. Du hast einmal bei mir übernachtet, sagt Curtis.

 

Das war der Fall. Es ist Geschichte. Vor Jahren wurde mir keine Tür mehr geöffnet. Ich ging in die Kneipe von Curtis und legte mich auf das Sofa.

Ich mache das nicht mehr, sage ich.

Komm mit, sagt Curtis. Trink einen Whisky mit mir. Er hebt die Schultern im glänzenden Anzug. Irgendwo sind Frauen.

Curtis hat nichts übrig. Ich weiß das. Sein Gesicht ist seit zwei Tagen schlaflos. Das Sofa steht in einem Penthouse-Loft. Gleich fliegt es aus dem Fenster und über uns hinweg. Es fliegt davon und er will hinterher.

Ich kann nicht mitkommen, Curtis.

Du warst mal anders.

Die Verachtung in diesem Satz drückt ihn von mir weg, die Straße hinunter. Ich bleibe stehen, bis eine Bahn kommt. Es beruhigt mich, dass sie in die Richtung fährt, die Curtis gewählt hat. Sein Anzug ist zu groß. Er kommt ins Stolpern, wenn er auf den Stoff tritt.

 

Schattenlos und matt ist die Helligkeit in dem stillen Raum. Sorgfältig gebe ich Daten ein. Der Professor schreibt eine Geschichte der Geldüberweisung. Sie ist voller Romantik. Schweißnasse Pferde jagen durch Europa. Ihre Reiter haben Bankwechsel und wichtige Briefe in den Taschen. Das Porto dieser Briefe ist hoch. Manchmal kann es nur eine Königin bezahlen. Heute bewegen sich das Geld und die Briefe mit der Geschwindigkeit des Lichts. Es ist ein Trick, der nicht immer funktioniert.

 

Ich wähle andere Straßen für den Rückweg. Gerade habe ich eine Getränkedose aufgehoben. Meine Augen achten auf die Feinheiten des dunklen Bodens. Ein schmaler Weg führt zur bemalten Tür eines Trafohäuschens. Davor sind Beete angelegt, denen hüfthohe Bäume entwachsen. Pflanzen ducken sich neben den Stämmen. Es sind Kräuter oder Blumen. Allmählich erkenne ich, dass das gesamte Trafohäuschen mit Graffiti besprüht ist. Die Ornamente entspringen dem Beton. Verschlungene Ellipsen ranken an der Fassade einer abgedeckten Ruine. Im Dunkel wachsen die Ruine und das Trafohäuschen zusammen.

Ich sehe die Burg eines großen Gärtners. Er wird schlafen hinter der Tür der Ruine. Seine Träume sind meine Nacht. Es ist gut, alles bezahlt zu haben.          

 

 

 

34. Der Astronom und der Berg

 

Sie machten es nicht so wie Kopernikus, der seine Nächte unter dem Dach eines Turmes in Frombork verbrachte. Das Dach war nicht dicht. Durch die Öffnung blickte der Ermländische Domherr in die Nacht und notierte fröstelnd den Weg von Gottes Planeten.

Lubomir Braun stand auf einem Bergplateau in Südamerika. Von hier oben sah man weit über die Öde der Atacama-Wüste. Braun war Mitarbeiter eines Observatoriums geworden. Seinen Vertrag kannte er nur unvollständig. In der Dämmerung dunkelten sich die Gebäude ab. Blenden verschlossen Fenster und Dächer. Die Teleskope wurden geöffnet. Kein einziger  von Menschen erzeugter Lichtpunkt bewegte sich zwischen ihren Spiegeln.

Für Lubomir war es Zeit, in den Kontrollraum zu gehen. Er schaute auf zum Himmel, der so trocken war wie nirgendwo sonst. Mit bloßem Auge ordnete er mühsam die Sterne. Die Luft war dünn. Die Astronomen bekamen regelmäßig Anrufe von einer Station am Fuße des Berges. Die Leute unten wollten rechtzeitig merken, wenn jemand verrückt wird.

Die Rechner standen im Keller. Lubomir schloss die Tür und setzte sich vor die Monitorwand. Die Spiegel der Teleskope hatten die glatteste Oberfläche, die jemals erschaffen wurde. Es waren die Kronjuwelen der Menschheit.

Man sah nichts davon auf den Monitoren. Keine wirbelnden Galaxien oder explodierenden Sterne. Lubomir verfolgte Spektrallinien und flackernde Datenreihen. Er vergewisserte sich, dass die Teleskope in der richtigen Position waren. Der Beobachter ist der Mittelpunkt alles Gewesenen und Kommenden. Er ist das Licht und sein Gegenteil: Nichts.

 

Ich müsste dir eigentlich die Augen zuhalten.

Das sagte Lubomirs Mutter und tat es nicht. Sie besuchten eine Probe des Großvaters, der ein Tscheche war und Opernregisseur. Er inszenierte „Tannhäuser“ in Wien. Die Mutter hatte kein Kindermädchen. Der Held der Oper befand sich in einem Berg. Eine barbusige Frau bat den verirrten Ritter zu bleiben. Der fand, dass er lange genug geblieben war. Lubomir verstand nicht ganz, warum. Die Bewohner des Berges tanzten und umarmten sich. Najaden, Nymphen und Satyre. Sie vertrugen sich besser als die Kameraden in der Schule.

Am Abend nach der Vorstellung kam der Großvater zu ihnen nach Hause. Er setzte sich zu dem Jungen ans Bett und sang. Sie haben sich sehr geärgert, sagte er und lächelte.

 

Im Kontrollraum gab es keine störende Bewegung. Das Licht erreichte die Teleskope unbedrängt. Lubomir hatte den Großvater im dunklen Zuschauerraum beobachtet. Der Regisseur ließ die Bühne drehen. Er drehte am Berg, bis er ihm gefiel.

Bei diesen Proben verliebte sich der Bühnenmeister in Lubomirs Mutter. Herr Horvath wehrte sich gegen sein Schicksal, unglücklich zu sein. Er erklärte dem Jungen die Technik der Oper.

Nach dem Ende seiner Schicht ging Lubomir in die Kantine. Im Dunkel sang er das Lied der Sirenen, mit dem ihn sein Großvater in den Schlaf gebracht hatte. Naht euch dem Strande. Die Kantine war fensterlos und erleuchtet. Er hörte nicht auf zu singen, bis er vor der Köchin stand.

Sie wünschen bitte?

Die Frau schaute neugierig, als sie Deutsch sprach. Sie war sich nicht sicher, ob sie verstanden wird.

Setzen Sie sich doch zu mir, sagte Lubomir.

 

Die Köchin kannte Tannhäuser.

Sie sagte: Mein Vater war ein Mörder und Bäcker. Deswegen kam er nach Südamerika. Er begegnete Nathanael, der schon früher aus Deutschland geflüchtet  war, um nicht von meinem Vater umgebracht zu werden. Sie spielten einmal in der Woche ein Kartenspiel, das beide aus ihrer Kindheit kannten. Nathanael brachte die Schallplatten mit den Wagner-Opern mit. Im Laden unten musste er niemals bezahlen.

Die Köchin machte Empanadas.

Mein Vater hatte eine Indianerin zur Frau genommen, rief sie vom Herd.

Die Eltern wurden vom Schamanen meiner Mutter verheiratet. Der glaubte an einen guten Wind.

Hier oben gibt es keinen Wind, sagte Lubomir.

Es gibt auch keine Indianer in der Wüste, sagte die Frau. Es gibt nur euch. Ich weiß nicht, wonach ihr sucht.

Ich auch nicht, sagte Lubomir.

 

Er hatte nicht gelogen. Darüber wurde er sich klar während der Dauer einer Zigarre. Die Lounge war gefüllt mit Techno-Lärm und betrunkenen Astronomen. Sie arbeiteten Programme ab. Sie arbeiteten für die, die sich Namen für neue Spiralnebel ausdachten.

Tannhäuser kam aus dem Berg. Er hatte mit der Göttin der Liebe geschlafen. Lubomir ging blind bis zum Billardraum und verstand auf dem Rückweg, dass der Ritter verbannt wurde, weil er kannte, wovon die anderen nur sangen. Eine Tür schlug hinter ihm zu. Sie ließ sich von innen nicht öffnen. Der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte über ausgefrästes Gestein.

Angst hatte Lubomir keine. Dieser Gang konnte zum Raum mit den Rechnern führen. Vorn sah er eine Biegung. Er legte eine Hand auf die trockene Felswand. Es war der Stoff des Universums. Hinter der Biegung verbreiterte sich der Gang zu einem Balkon. Über der Wüste brannte der Tag. Lubomir ahnte, wer der alte Mann in dem geflochtenen Sessel war.

Der Schamane regte sich nicht.

Sie ist ein gutes Mädchen. Ich habe ihren Eltern meinen Segen gegeben.

Es schien, als ob er bewusst langsam sprach.

Bestimmt, sagte Lubomir.

Aus dem trockenen Himmel fielen helle Frauenstimmen.

Naht euch dem Lande, sangen sie in dem Flugzeug, das Antofagasta anflog.

Es ist ein Zufall. Ich habe im Dunkel die falsche Tür erwischt.

Warum Zufall, sagte der Schamane.

Beim ersten Mal haben die Fremden nach Gold gesucht. Beim zweiten Mal waren sie auf der Flucht voreinander. Und nun, beim dritten Mal, suchen sie ein Wissen, das sie auf der Erde nicht finden wollen.

Lubomir vermutete, dass es noch einen anderen Zugang zum Balkon gab. Der Schamane saß mit dem Rücken zum Felsen. Über einen Tisch und die Wüste hinweg beobachtete er das Flugzeug.

Mein Rückweg ist versperrt.

Das Flugzeug über Antofagasta wollte nicht herunter. Auf den Tragflächen flimmerten Spektrallinien. Immer wieder flog es eine Schleife. Dann verlor es plötzlich an Höhe und konnte sich erst im letzten Moment abfangen.

Ich habe von der Göttin gelernt, die in diesem Berg wohnte, sagte der Schamane.

Sehen sie: Die Flugzeuge zögern immer, bevor sie schließlich landen.  

Er schenkte aus einer Karaffe eine braune Flüssigkeit in zwei Gläser.

Trinken sie diesen Tee mit mir. Ich zeige ihnen den Weg zurück. Sie werden schlafen bis zum Abend und sich danach an mich nicht mehr erinnern können.  

 

 

35. Dort, wo ein Land beginnt

 

 

Ich bin wieder in die Stadt gezogen, wo das Öl ankommt. Es ist nicht schwer, in den Blöcken eine Wohnung zu bekommen. Viele sind weggegangen. Elisabeth ist geblieben. Sie hat mir in der Kindheit oft die Mutter ersetzt. Wenigstens Elisabeth soll nicht in ein Heim müssen. Ihre Wohnung am Ring ist nicht weit von meiner entfernt, wir leben in Fünfgeschossern mit sechs Aufgängen.

Ein Mann im Werk gab mir die Stelle im IT-Bereich, um die ich mich beworben hatte. Sie sind überqualifiziert, sagte er, die Augen am Bildschirm. Wir wussten beide, dass das nichts bedeutete. Ich würde nicht davon laufen. Er würde nicht kündigen. Es war ein kurzes Gespräch.

Ich stand danach vor den Kolonnentürmen, in denen das Öl erhitzt und getrennt wurde. Unser Chemielehrer hatte uns einmal an dieser Stelle die Arbeitsweise einer Raffinerie erklärt. Ein Land beginnt dort, wo das Öl ankommt.

Das Öl kam aus einer Leitung, die hinter dem Ural gespeist wurde. Im Permafrost schlug ein steinernes Herz. Oben ertrank das karge Gras, beleuchtet von den Fackeln entzündeter Quellen.

So kam es zum Werk.

Ich habe eine Professur aufgegeben. Jede Frage nach Gründen ließ sich mit einem „Wechsel in die Industrie“ beantworten. Üblicherweise sind diese Wechsel mit einer erheblichen Einkommensverbesserung verbunden. Ich sagte niemandem, wie bescheiden mein Gehalt in der Raffinerie war. Ich erklärte auch nicht, dass mich das Gehalt nicht mehr interessierte.

Den Umzug erledigten einige Studenten. Ich reiste ihrem Truck mit dem Zug hinterher. Sie hatten meine Wohnungsschlüssel und sollten die Möbel so stellen, wie sie es für passend hielten. Ich fand eine eingerichtete Wohnung vor. Sie war mir fremd, auf keine störende Weise.  Für die Stadt, in der ich nun lebte, mag das auch stimmen.

Sie besitzt einen winzigen historischen Kern: Ein Museum mit Cafe, eine Buchhandlung mit Postkarten und Bürobedarf, einige sanierte Fachwerkhäuser.

Am Fluss döst der Binnenhafen, jenseits der doppelarmigen Flusslandschaft schläft oder wacht ein anderes Land. Man merkt an zweisprachigen Schildern, dass es nicht weit sein kann. Die Pipeline überquert das Wasser.

Sie endet im Werk, das für sie gebaut wurde. Aus den Barackenlagern der Arbeiter wuchsen Wohnkomplexe, errichtet mit angelieferten Betonplatten. Die Häuser standen, bevor sie durch feste Straßen und Wege miteinander verbunden waren. Ihre Bewohner trampelten durch den Schlamm.

 

An meinem ersten Wochenende hole ich Elisabeth ab. Sie mag den Rollstuhl nicht, aber außerhalb der Wohnung haben wir keine andere Wahl.

„Du kannst doch aufstehen, wenn wir uns etwas anschauen“, sage ich.

Sie spielt mit der Decke, die auf ihrem Schoß liegt, und nickt.

Wir sind so schnell wie das Öl in der Leitung. Es fließt in Schrittgeschwindigkeit, über 5000 Kilometer. Ich schiebe Elisabeth auf einem ordentlichen Weg zur Bushaltestelle. Die Gipfel der Straßenbäume sind weit über uns.

„Ich habe ein paar von den Bäumen gepflanzt“, sagt Elisabeth.

„Hier hat jeder alles gemacht damals. Wenn überhaupt jemand etwas gemacht hat.“

Die Bäume sind groß geworden und die Straßen befahrbar. Es gibt Blumenbeete, die die Blöcke auseinander hielten, bevor sie in den letzten Jahren einen Anstrich bekamen.

„Es ist jetzt so, wie wir uns das gedacht hatten“, sagt Elisabeth.

Der Busfahrer steigt aus und legt eine Rampe für den Rollstuhl an die offene Tür.

„Sehr freundlich“, bedankt sich Elisabeth.

Alles kommt dahin, wo es hin soll. Das Öl braucht drei Wochen, die Bäume fünfzig Jahre. Der Busfahrer braucht fünfzig Minuten, um eine Runde durch die Stadt zu fahren. An der vorletzten Station seiner Rundfahrt steigen wir aus. Wir sind am alten Bahnhof, der kaum noch gebraucht wird. Er ist eine Endstation, und die Bahnhofsgaststätte ist es auch. Ich bin mir sicher, dort den einen oder anderen alten Schulkameraden treffen zu können.

„Willst du hineingehen und ein Bier trinken?“, fragt Elisabeth.

„Soll ich?“, frage ich zurück.

„Männer trinken immer Bier.“

Sie kennt das aus den Baracken. Elisabeth hat irgendwo gekocht. Mein Vater sprach sie an, als meine Eltern jemanden für die Wohnung und für meine Betreuung suchten. Er muss schon geglaubt haben, dass sie auf sich aufpassen konnte.

„Diese Kneipe gab es damals schon. Wenn die Männer am Sonntagabend mit dem Zug kamen, sind sie erst einmal rein. “

Jetzt sitzen ihre Söhne in der Spelunke. Anders als die Väter werden sie morgen ausschlafen können. Ich schiebe den Rollstuhl durch kurze Straßen zur Innenstadt.

„Wollen wir zum Theater?“, fragt Elisabeth aufgeregt.   

„Sie haben uns manchmal die Schlagersänger aus dem Westen geschickt. Ist das heute auch  so?“

Katja Ebstein war hier und Peter Maffay. Damals. In dieser Stadt gab es kein Publikum für „Minna von Barnhelm“. Es herrschte eine proletarische Kultur. Öl im Werk und Schlamm vor der Haustür. Die Raffinerie versorgte ganz Berlin mit Kraftstoff, den Osten wie den Westen. Sie lieferte Kerosin für die Flughäfen.

Die Menschen sangen mit. „Wunder gibt es immer wieder“ oder „Das erste Mal im Leben“. Die Karten wurden unter der Hand gehandelt, weil das Theater nicht groß genug für alle war. Mein Vater bekam immer eine und gab sie Elisabeth. Manchmal war er einfach nur freundlich, auch dann noch, als meine Mutter ihn verlassen hatte. Er wollte das Sorgerecht und bekam es.

 

Damals ist für Elisabeth eine Zeit, die fünfzig Jahre und mehr zurück liegt. Damals ist auch ein anderes Land. Das weiß Elisabeth nicht. Wenn sie jetzt sagt, meint sie heute. Vielleicht noch Bruchstücke des gestrigen Tages. Diese Stunden sind ihre Gegenwart. Zwischen dem Damals und dem Jetzt gibt es nichts mehr.

Die Wege zum Theater sind kurz. Rudimentäre Gassen, übriggeblieben aus der Vorkriegszeit. Wenige Tage machten die verschlafene Kleinstadt zu einem hinterlassenen Schlachtfeld. Architekten bekamen Gelegenheit, eine neue Stadt zu planen. Tabula rasa. Auf der weißen Tafel. Sie entwarfen mit bunter Kreide und bekamen graue Betonplatten. Das Werk lieferte viel, nur keine Farbe für die Stadt. Später, hieß es, später.

Später ist jetzt.

Vor den farbigen Plattenbauten stehen die Reihen der Autos. Die Fassaden sind manchmal umgestaltet. Es gibt mehr von allem und weniger Menschen. 

Im Sommer kann man ohne Schuhe gehen. Der Ring und die Magistralen liegen auf der Landschaft wie eine bestickte Tischdecke.

Elisabeth betrachtet den hohen Bühnentrakt des Theaters. Ich entsinne mich an den Rohbau. Er war für mich als Kind die Entsprechung des Kommenden. Später schon heute. Die Bühne ließ ahnen, was möglich ist.

„Heute würde ich gern einmal in die Oper gehen“, sagt Elisabeth.

„Ich bin ja nicht mehr jung.“

Wir bewegen uns um die Schaukästen. Hinter Glas wird ein Gastspiel angekündigt.

„Die Zauberflöte“, lese ich laut vor.

„Das ist von Mozart. Siehst du.“

Elisabeth lacht. Ich lache auch.

„Ein schöner Tag ist das heute.“

Ich schiebe sie den Ring entlang, am Kaufhaus vorbei und einem Terrassencafe.

„Möchtest du ein Stück Kuchen?“, frage ich.

„Sind wir heute vornehm?“

Ich nicke. Wir bleiben.

„Wie gefällt es ihnen hier?“ fragt Elisabeth die Kellnerin.

Die junge Frau ist kurz überrascht und sagt dann:

„Ich habe mich eingelebt.“

„Das mussten wir alle“, erklärt Elisabeth.

„Es war nicht immer einfach damals.“

„Das glaube ich gern. Ich komme dann gleich mit dem Kuchen.“

Die Kellnerin hat gut zu tun. Auf der weitläufigen Terrasse verteilen sich die Gäste. Es sind Menschen, die übrig geblieben sind. Sie haben die Aufgabe, diese bunte Stadt zu bewohnen. Da, wo das Öl ankommt. Dort, wo ein Land beginnt.

 

 

 

 

36. Aurora oder Der Löffel und die Freiheit

 

 Oben an der Dachluke steht man wie ein Turmwächter. Wenn die Feinde nahen, kann man in den Keller flüchten. Sagen wir: Artur ist eingezogen. Ein Schritt zurück auf dem Weg nach Westindien oder sonst wohin, meinetwegen seitwärts. Er hatte die sicheren Mauern der Stadt verlassen.

Aus dem Stadttor ging er mit der Morgenröte. So riet es ihm der Schuster am Fluss. Gehe mit Aurora. Eine bessere Freundin wirst du nicht finden. Den Wachen war es egal. Sie ärgerten sich nicht über einen Verrückten, den sie nicht mehr bewachen mussten. 

Die Schwankungen des Gemütes; geht es mir womöglich zu gut, fragt sich Artur, wenn eine graue Hand nach ihm greift. Wäre ich hungrig wie ein schwaches Tier, wäre meine Sorge näher bei Gott:

Die Morgenröte lief ihm voraus. Sie machte den Weg hell, nasser Sand entlang des Waldes, der zwischen Weg und Fluss nach Norden zog. Ein sumpfiger flacher Himmel lag über dem meliorierten Land. Er wanderte den Weg, der gerade war und ohne Ziel. Da wurde ihm leicht. Er vertraute seiner Freundin, bis er an den letzten königlichen Posten kam.

Die Landsknechte schütteten sich aus vor Lachen. Sie ergingen sich in allen Arten der Heiterkeit, von wahrer Belustigung bis zur schieren Gemeinheit. Sehr lange musste Artur warten, stumm im rüden Gerede. Sie brachten ihn ins Quartier.

Wie heißt du, fragte der Hauptmann.

Artur Rogowski.

Polack, was?

Ich habe in Berlin studiert.

Na und? Bist du nun Polack oder nicht?

Meine Mutter war Polin. 

Ach so. Und der Vater? Das wusste die Mutter wohl selber nicht, was?

Jetzt hatte auch der Hauptmann etwas zu Lachen. Danach musterte er den Mann vor ihm. Es war Zeit, den Burschen einem Unteroffizier zur militärischen Ertüchtigung auszuliefern. Eine Sache ging ihm noch durch den Kopf.

Sprichst du also diese Polackensprache?

Ich spreche deutsch und polnisch.

Kannst du das auch lesen?

Ich habe studiert.

Du sollst nicht klug scheißen, Mann! Ob du das lesen kannst, war die Frage!

Ich kann deutsch und polnisch lesen.

Schon besser.

 

Polnische Briefe liegen auf dem Tisch.

Bei der Durchsuchung des Gepäcks hatten sie das Schreiben des Rittmeisters von Seydelwitz gefunden, in dem Artur der Fürsorge eines Offizierskameraden empfohlen wurde.

Du bist mir ein Bastard vom Feinsten, sagte der Hauptmann.

Er ließ den Mann in die Dachkammer bringen. Artur denkt an das Polnische seiner Mutter, seine Kindersprache, Sprache der Dienstmädchen, die keine Briefe schrieben. Aufgeschrieben hat Artur die Sprache noch nie gesehen. Jetzt soll er sie übersetzen. Das ist ein Geschäft, ein ernster düsterer Pakt, der ihn befreit und einsperrt.

In der Frühe, übernächtigte Müdigkeit. Den Kopf öffnen wie die Dachluke, die Seele kann dort hinaus, aber Artur nicht. Er wacht stumpf zwischen den Sprachen. Wenn er hier für dieses und jenes sein Auskommen hat, schreibt  er Schustergespräche. Erst einmal muss er runter zum Misthaufen.

Der da sitzt und scheißt ist der Hauptmann. Vom Thron seines Latrinengestühls schreit er nach Gras und Blättern. Artur rupft schnell etwas zusammen. Der Hauptmann grunzt zufrieden und steigt herab.

Komm nachher in die Küche, sagt er und geht zum Frühstück.

 

Die Bauersfrau schöpft schweigend Hirsebrei in eine grobe Schüssel. Dazu ein Stück Brot und Wels aus dem Fluss, in der Kammer geräuchert. Artur fragt nach einem Löffel. Wiederum bekommt er das Gelächter der Soldaten zu hören, vom gutmütigen Gekicher bis zum bösen Grölen. Der Hauptmann lächelt milde und will ihn nicht verhungern lassen.

Bring ihm einen Löffel, sagt er derb zur Bäuerin.

Die Frau verschwindet keifend und kommt mit einem Monstrum zurück, das kaum zwischen die Zähne passt.

Jeder Soldat hat seinen eigenen Löffel, sagt der Hauptmann. Immer am Mann. Such dir Holz und schnitze dir also einen Löffel, solange wir hier sind.

Artur muss Spott ertragen. Der Hunger ist stärker. Nachher kämpft er mit den Briefen, weil er zum Rapport bestellt ist.

 

Nun sag schon.

Der Hauptmann lehnt sich zurück, einen Krug Bier in der Hand.

Was haben sie vor?

Er glaubt, der Polenkönig Radziwill macht mit den Schweden gemeinsame Sache.

Der Kurier mit den Briefen, sagt Artur, war nur verliebt.

Der Hauptmann knallt unwillig den Krug auf den Tisch.

Artur muss Angst überwinden. Das Reden hat er geübt, jetzt kann er es beweisen.

Der da mit den Briefen unterwegs war stammt aus einem polnischen Dorf. Seine Verlobte ist zu den Schweden durchgebrannt, als Marketenderin. Alle möglichen Leute haben ihr geschrieben. Die Eltern, die geprellten Schwiegereltern. Ein Pastor. Es ging auch um die Mitgift. Es gab einen Vertrag. Wenn sie mich fragen: Die Braut wollte nicht heiraten. Aber der Bräutigam war verliebt. Er dachte, dass er sich zu ihr durchschlagen kann.

Was für ein Trottel, sagt der Hauptmann. Er trinkt und denkt nach.

Wir haben den Kerl übel zugerichtet. Er ist bestraft genug für seine Blödheit.  Soll er nach Hause.

Der Hauptmann lässt den Krug stehen und winkt Artur an seine Seite.

Du übersetzt das Nötigste.

Sie gehen auf den Hof. Der Hauptmann schreit ein paar Leute zusammen.

Wo ist der gefangene Polacke?

Im Stall.

Bringt ihn her.

Sie holen den Mann. Er war angekettet wie ein Stück Vieh, hinkt, reibt sich die Knöchel.

Sag ihm, dass er ein Idiot ist.

Artur spricht die Sprache der Gutsarbeiter.

Der Mann vor ihm verzieht das geschwollene Gesicht.

Sag ihm, dass er frei ist.

Der Gefangene versteht die Sprache, aber nicht die Mitteilung. Er war noch niemals frei.

Hatte er ein Pferd?

Die Landsknechte nicken.

Macht ihm den schlimmsten Klepper zurecht, der hier rumsteht. Dann hebt ihn in den Sattel.

Der vermeintliche Kurier schreit vor Schmerz, als ihn die Landsknechte auf das Pferd  setzen.

Gib ihm Brot und Speck!

Das geht an die Bauersfrau, die neugierig aus dem Haus gekommen ist.

Der Reiter schafft es, den Proviant in seiner zerrissenen Jacke unterzubringen.

Weg jetzt mit ihm! Macht dem Gaul Beine!

Die Landsknechte prügeln das Pferd. Das Pferd bewegt sich. Es weiß nur, dass es weg soll. Wie der Reiter weiß es nicht, wohin.

Genug jetzt.

Der Hauptmann hat Durst. Er geht zurück zu seinem Bierkrug. Zwei Gefangene, um die er sich kümmern musste. Was passiert mit dem anderen? Ein sentimentales Gefühl überkommt den Offizier. Einer von uns, fällt ihm ein, sollte sich um den Grünschnabel kümmern. Ich brauche einen Zahlmeister. Der Sold muss verteilt werden und die Beute nach des Königs Anteil. Inventur muss gemacht werden, wenn die Schweden ein Dorf aufgeben. Da kann er zeigen, was er studiert hat.

Der Krug knallt auf den Tisch. Einige Male. Sehr soldatisch. Ein wenig vormundschaftlich. So ein Bastard aber auch. 

Artur schaut aus der Dachluke und sieht weit entfernt noch Reiter und Pferd. Er war dem Polen nach seinem Aufbruch schnell nachgelaufen.

Nimm das.

In seiner ausgestreckten Hand war ein Medizinfläschchen mit dem Rest Laudanum, das er von der Apothekerin in der Stadt erhalten hatte.

Nun nimm schon. Es ist gegen die Schmerzen.

Der Pole schaute mit halbirren Augen hinunter und nahm die Medizin.

Der Gaul trabte langsam und der Kurier brachte es fertig, aus der Flasche zu trinken.

Artur lief zurück. Mittlerweile war es Fahnenflucht, was er machte. Einige Jahre hatte er kein Polnisch gesprochen. Er wollte dem Mann die Schmerzen nehmen. Wie war der überhaupt hergekommen? Irgendwo musste bei der Flussbegradigung eine seichte Stelle entstanden sein.

Artur sieht die Silhouette dort, wo er gestern selbst gewesen war. Der Pole kann nicht wieder in sein Dorf, denkt er. Was soll der Mann dort erzählen. Vielleicht hat er gelernt, im Wald zu überleben. Eine Weile. Als freier Mann. Zwischen den Fronten.

Artur weiß, dass er selbst kein freier Mann mehr ist. Bald wird er einen eigenen Löffel haben. Darum muss er sich kümmern. Er kann nicht vor und nicht zurück. Er bleibt bei den Landsknechten, aber einer von ihnen wird nur, wer seinen eigenen Löffel besitzt.

 

 

37. Steinschlag

 

 

Das Land sah müde aus, gebrechlich. Viel Dreck unter den Nägeln und die Knie verschorft. Die Windschutzscheibe vom Bandbus war kaputtgegangen. Steinschlag. Wenn der Bus steckenblieb, stiegen wir aus und räumten die Straße frei. Es war Winter und es gab keinen Straßendienst. Wir nahmen Schaufeln, die hinten zwischen den Kleidersäcken lagen. Kalle gab uns sein Sturmfeuerzeug. Er fuhr und wir rauchten. Lotte war Kalles Hund und wärmte jeden Kopf, der sich an ihr Fell legte. Sie schaute wachsam in Fahrtrichtung.

Ich werde ihr einen Pimmel schnitzen, sagte Okta.

Du kannst ihr den Arsch abwischen, sagte Kalle. Sie hat Durchfall.

Lotte wartete bis zum nächsten Halt. Wir schippten Schnee und fuhren wieder los.

Wo ist Lotte, fragte der Schlagzeuger nach einer Weile.

Ich kann nicht wenden.

Kalle fuhr eine halbe Ewigkeit im Rückwärtsgang. Lotte sprang ins Auto. Kalle war glücklich, nicht weinen zu müssen. Vielleicht weinte er doch. Die Tränen froren auf der Haut. Er konnte alles aushalten, aber keinen Kummer wegen Lotte. Sie hatte eine Decke auf der Bühne und vertrug sich mit den Schlangen. Ihr warmes Blut rauschte an meinem kalten Ohr.

Die Techniker mit dem LKW waren zwei Stunden voraus. Sie mussten irgendwie durchgekommen sein, wir wären ihnen sonst begegnet

Hans-Jürgen rauchte nicht. Er spielte Saxophon, zog an seinem Schal und dachte nach.

Wer soll denn zur Probe kommen?

Wir kannten die Nummern aus dem Showprogramm. Den Tellerjongleur und die Schlangentänzerin und den glatzköpfigen Geiger.

Leni Mayfahrt, sagte Kalle. Berliner Lieder.

Die ging mit meiner Oma zur Schule, sagte der Gitarrist.

Fragt mich nicht, warum sie Leni eingekauft haben. Kalle sah sich um.

Ich glaube, sie hat nur alte Klavierzettel.

Die Jungs waren nicht böse. Sie würden sich die Zeit schon vertreiben. Ich redete mit Lotte. Der schneeige Wind drückte das Auto bergauf. Lotte versuchte leise jaulend, sich wie ein ordentlicher Hund zu benehmen.

 

Niemand wusste, wie Leni Mayfahrt zum Auftrittsort gekommen war. Sie hatte zwei Koffer auf Rädern und eine silberne Handtasche. Wegen des Wetters kamen die Gäste in den Saal. Wir konnten nicht mehr auf der Bühne proben.

Mein Pianist ist gestorben, sagte Leni. Der hatte die Noten immer bei sich. Sie sind bestimmt irgendwo.

Wir gingen in die Garderobe. Auf dem Tisch standen ein Kasten Bier und ein Teller mit belegten Broten. Vor dem Spiegel waren Gläser und eine entkorkte Weinflasche.

Bring mir ein Glas Wein, Schatz.

Ich bediente Leni und untersuchte das verstaubte Klavier an der Wand. Der Tisch füllte sich mit merkwürdigen Kleidungsstücken.

Ziehst du das alles an?

Die Zeiten sind vorbei, wo ich’s ausgezogen habe. Schau, die Noten.

Sie drückte mir einen Stapel handgeschriebener Klaviernoten in die Hand.

Das haben die anderen gespielt? fragte ich entgeistert.

Nur mein Pianist, Schatz. Die anderen konnten es nicht. Ich fahre immer zu den Auftritten, und dann kann es niemand spielen.

Sie hatten mich mit einer Verrückten allein gelassen.

Was habt ihr gemacht, Leni?

Mäckie Messer.

Sie kramte in ihren Sachen.

Lili Marleen. La Paloma. Jede Band spielt das irgendwie mit.

Das war hoffentlich richtig. Okta am Bass und Freddy an der Klampfe kamen aus der Rockmusik. Ich hielt immer noch die Noten in der Hand.

Wollen wir probieren, Leni?

Ich hatte ihre Titel schon gesehen. Vor einigen Jahren schickte mich mein Vater mit zernagten Notenalben in das städtische Altersheim. Ich durfte nur nicht versuchen, alles genauso zu machen, wie es auf Leni’s Blättern stand.

Die Männer sind alle Verbrecher, trällerte sie nun und nippte am Weißwein.

Woher kannst Du das, Schatz?

Ich lächelte geheimnisvoll und nahm das nächste Blatt.

Wie bist Du hergekommen, Leni?

Mit dem Zug. Aber schon gestern. Ich wollte noch zur Festung.

Das ist doch ein. . .

Vor vierzig Jahren war es auch ein Gefängnis.

Leni sah, dass sich dieser Satz in meinem Kopf drehte. Ich fragte aber nichts. Ich wartete nur die Antwort ab.

Sie hatten mich zweiundvierzig für dreißig Monate dort oben eingesperrt. Ich war beim Kabarett, Schatz. Was ist das Nächste?

Untern Linden.

Mach eine lange Einleitung. Da muss ich mich umziehen.

Kalle kam in die Garderobe und übertönte das Klavier.

Im ganzen Saal sitzen nur Knastwächterinnen!

Die Wachteln tun dir nichts, zirpte Leni.

Kalle schüttelte den Kopf und verschwand. Der Conferencier und die Darbietungen trudelten ein. Die Garderobe war voller Schnee, Schlangen und Teller. Leni warf ihre Federboa um den Hals. Wir gingen an eine Bar, die offiziell erst nach dem Programm öffnete.

Die Künstler soll ich bedienen, sagte die Barfrau.

Ich bestellte Weißwein und Kaffee.

Bist du krank, fragte Leni.

Kein Alkohol vor dem Programm. Sag mal Leni: In deinen Noten steht so viel Zeug. Das ist doch gar nicht nötig, oder?

Es war einmal nötig.

 

Unser Publikum verliebte sich in die Schlangentänzerin. Sie mochten auch den Jongleur und fanden es komisch, wenn die Teller zu Bruch gingen. Der Showgeiger war für den Schluss gedacht. Jeder kannte ihn aus dem Fernsehen. Dazwischen kam Leni.

Sie hatte diese Lieder ewig nicht gesungen. Jetzt war sie oben in der Festung. Sie hörte Schritte und den Schlüssel und eine Stimme. Komm mit. Vergiss die Noten nicht.

Sie gingen durch viele Türen und Gänge, die niemals nach außen führten. Leni umklammerte ihre Notenblätter. In einem Raum standen ein Grammophon und ein Klavier. Der Mann, dessen Bild an der Wand hing, hatte Geburtstag. Kerzen brannten neben Likörgläsern. Die Frauen wollten in die Reichshauptstadt, um dem Jubilar näher zu sein.

„Das macht die Berliner Luft, Luft, Luft“, sangen die Aufseherinnen.

Leni spielte. Ich spielte. Leni kannte den Text.

Sie kannte auch „Bis früh um fünfe, kleine Maus“ und „Immer an der Wand lang“.

Ich durfte mich nicht verhaspeln, sonst bekam Leni auf die Finger. Eine der Wächterinnen war die Klavierlehrerin und schlug ihr im Takt mit einem Lineal auf die Hand. Die anderen kreischten:

„Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe, Liebe.“

Wenn Leni Lieder lernte, musste sie nicht in die Wäscherei. Sie saß am Klavier und vor dem Grammophon und schrieb Noten. Sie schrieb so viele Noten, wie auf das Blatt passten. Sie brauchte immer viel Zeit, bis alles fertig war.

Zehn Jahre später bekam die staatliche Künstleragentur dieses Landes den Auftrag, Leni gut mit Auftritten zu versorgen. 

 

Ein Stein flog gegen ein Saalfenster. Glassplitter fielen heraus und wir hörten eine Stimme: Ihr Scheißweiber! Ihr verdammten Scheißweiber!

Kalte Luft zog herein nach dem Steinschlag. Die Stimme wurde leiser und verstummte. Lotte hatte sich von ihrer Decke erhoben und neben Leni gesetzt. Sie schaute feindselig ins Publikum.

 Gehen wir uns umziehen, sagte Leni zu Lotte. Sie winkte und ich spielte eine lange Einleitung. Ich spielte fast alle Noten, die Leni einmal aufgeschrieben hatte. Die Kellnerinnen stellten frische Getränke auf die Tische. Jemand fegte die Scherben zusammen. 

Leni erschien mit Hut und Schirm und ging zwischen den Schließerinnen spazieren: Vom Cafe Bauer bis zum Pariser Platz. Danach wurde sie in ihre Zelle gebracht.

Eine Stimme hallte in den Gängen. Es war die Stimme des Conferenciers. Er  machte einen Witz über Handwerker und kaputte Fensterscheiben und schwedische Gardinen. Das Publikum lachte. Der Showgeiger trat auf und lachte auch.

Als mir Leni beim Finale ihre Blumen gab, sagte sie: Mein Pianist ist an dem Tag gestorben, an dem ich aus der Festung kam.     

 

 

 

38. Der Tag, an dem Frithjof seine Stiefmutter umbringen ließ

 

Erich Glatzel hält eine ausgebaute Klaviertaste in der Hand. Er hält sie waagerecht gegen das Licht. Im gelb gewordenen Elfenbein verläuft ein schwarzgeränderter Riss. Glatzel dreht langsam die Taste, bis der verlängerte Riss auf die Eingangstür seines Ladens zielt. Die Tür knarrt und öffnet sich. 

Glatzel erkennt Frithjof, der den Laden auf der anderen Straßenseite hat. Nansen-Elektronik steht über dem Eingang seiner Verkaufswerkstatt. Den Vornamen gab ihm der Klavierbauer. Erich Glatzel nimmt alte, untüchtige Klaviere entgegen. Er poliert das Holz und bringt ihr Innenleben in Ordnung. Seine Kunden kaufen die alten Instrumente vor allem zur Dekoration. Nun gut. Wer sich wirklich davor setzt, soll auch drauf spielen können.

„Ich war noch gar nicht im Laden“, sagt Frithjof.

Glatzel lässt die Klaviertaste sinken.

„Ja. Dieser Termin heute. Sind sie gekommen?“

„Überpünktlich“, sagt Frithjof.

„Der Arzt und der Anwalt. Sie waren schon vor mir da. Der Arzt hatte den Tropf aufgebaut und der Anwalt die Kamera.“

„Wie ging es Annegret?“

„Sie konnte es gar nicht erwarten.“

Beide schweigen einen Moment. Vor einigen Tagen hatten sie sich über Formalitäten unterhalten.

„Wenn Annegret nicht im Totenhemd im Sarg liegen will“, sagte Glatzel, „dann soll sie ein paar Sachen raus legen. Die gibst du dem Bestatter.“

„Schreib alles auf“, bat ihn Frithjof.

Glatzel hatte ihm eine Liste geschickt. Er setzt sich an eines der Klaviere und spielt Knocking on heaven‘s door. Frithjof singt einige Zeilen mit.

„Jetzt hat sie ihren Willen.“

„War die Polizei da?“

„Der Anwalt rief an. Sie machen das immer so.“

„Und?“

„Der eine Polizist sagte, dass es besser ist, als jemanden von den Schienen zu kratzen.“

Frithjof klopft mit dem Finger auf das Holz. Er war früher Seefunker. Während er morst, redet er weiter.

„Der Arzt zeigte ihr, wo sie raufdrücken muss. Der Anwalt sagte, dass sie jederzeit zurücktreten kann.“

Die Morsezeichen gehen über in ein konstantes Pochen. Wie Wassertropfen.

„Annegret hat gedrückt und gesagt: ‚Es passiert ja gar nichts‘.“

Die Tropfen stehen still.

„Danach schlief sie schon.“

 

Erich Glatzel hält die Töne aus. Der Arzt ließ den Tropf laufen, auch noch, nachdem er bereits den Tod festgestellt hatte. Das Narkotikum hätte für sieben Katzen gereicht. Frithjof muss die Wohnung auflösen. Er ist an schwere Wetter gewöhnt. Ein Funker bleibt immer ruhig, weil er Notrufe absetzt. Dann kommen Hubschrauber oder ein anderes Schiff.

„Ich bringe dir die Noten vorbei“, sagt Frithjof. „Sie spielte früher Klavier.“

„Hat sie dir etwas bedeutet?“, fragt Glatzel.

Frithjof bewegt den Kopf hin und her. Glatzel weiß nicht, ob das eine Antwort auf seine Frage ist. Er hat die Schlüssel von „Nansen-Elektronik“ seit langem in einer Schublade. Im letzten Jahr war Frithjof viel mit Annegret unterwegs. Er fuhr sie zu den Ärzten und besuchte sie im Krankenhaus. Ein schwarzer Zeh und eine Zyste im Bauch. Die Chirurgen freuten sich, Annegret helfen zu können.

„Sie war meine Stiefmutter“, sagt Frithjof und lächelt. „Ich mochte meine Mutter.“

„Ich weiß“, sagt Glatzel.

Die Mutter seines Freundes war mit ihrem Sohn ausgewandert und wieder eingewandert. Verstehe einer die Frauen. Sie machten die Passage nach Übersee auf einem Frachtschiff. Der Bordfunker brachte dem Jungen das Morsealphabet bei.

„Hättest du deiner Mutter auch geholfen?“

Frithjof versteht, wie das gemeint ist.

„Ich habe Annegret nicht geholfen. Ich habe es nur nicht verhindert.“

Er wartet. Der Akkord ist noch nicht verklungen.

„Meine Mutter hätte mich nicht in diese Situation gebracht. Annegret wollte nicht, dass man ihr beim leben hilft.“

Stille jetzt. Es gehört zum Ehrenkodex, sich um ein Schiff in Seenot zu kümmern.

Zwei Menschen miteinander sind wie ein altes Klavier, denkt Erich Glatzel. Außen kann es wieder schön werden. Ein Riss im Guss, der innen die Saiten hält, macht jede Stimmung kaputt. Die Chirurgen und ein Psychiater konnten nichts reparieren. Schwestern und Pfleger und dieser nette Junge von irgendeiner Sozialstation auch nicht.

„Du hast ihr noch die Wohnung renoviert“, sagt Glatzel.

„Wegen dem Dreck, als sie sich das letzte Mal umbringen wollte.“

„Da hast du den Notarzt gerufen.“

„Das habe ich damals gemacht, ja.“

 

Sie gehen über die Straße. Es ist gar nicht selbstverständlich, am Leben zu sein. Ein kurzer Traum vor dem Aufwachen. Annegret hat fast neunzig Jahre gelebt. Ihre Kunstbücher soll jemand aus dem Malzirkel bekommen. Frithjof überfliegt die Post und setzt sich vor sein Funkgerät.

Ein Frachter draußen ist immer noch sehr allein. Man kann ihn jederzeit sehen und hören, wenn man will. So, dass man glaubt, an Bord zu sein. In Wirklichkeit aber ist das Schiff entfernt wie der Mond. Frithjof nimmt Kontakt auf.

Erich Glatzel sitzt in der Ecke und schaut zu.

„Was funkst du die ganze Zeit?“ fragt er einmal.

„Ihre letzten Worte“, sagt Frithjof.

 

„Es passiert ja gar nichts.“   

Illustration: Die Gruppe, © 2021 Reiner Lietz

 

39. Die Gruppe

 

Die Kekspackungen im Versammlungsraum der Drogenberatungsstelle liegen in Reichweite der Stühle. Die Stühle sind besetzt von denen, die nichts mehr anfassen. Sie berichten über ein neues Leben. Es soll ihnen nicht aus den Händen gleiten.

Mathias möchte etwas Interessantes erzählen. Er ist gelernter Chemielaborant. Womöglich haben Friseurinnen die große Explosion in Helsinki verursacht. Ein Gemisch aus Blondierungsmittel und Nagellackentferner ergibt einen hochwirksamen Sprengstoff. Das Zeug kann aus Versehen explodieren. Er, Mathias, steht  jeden Abend vor dem Schaufenster eines Salons und beobachtet die Stylistinnen bei der Arbeit.

Der Gesprächsleiter heißt Bertram. Er möchte wissen, ob das irgendwas mit dem zu tun hat, was er „unser Problem“ nennt.

„Ja“, sagt Mathias.

Er schüttelt den Kopf.

„Ich weiß es nicht.“ Er lächelt.

Das kommt vor in dieser Runde. Bertram lächelt auch. Aber er wird es sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Später. Doreen erzählt, dass sie von der Kasse die Kostenübernahme für eine Einzeltherapie bekommen hat. Fred war im Krankenhaus. Er hatte einen Rückfall, während einer Familienfeier. Das ist „unser Problem“, und der Gesprächsleiter strafft sich. Er war einmal Pressesprecher eines Unternehmens. Fred ist wieder gekommen, das ist am Wichtigsten. Das ist am Wichtigsten an dieser Gruppe, dass jeder wieder kommen darf.

Die Keksschachteln knistern. Mathias will wissen, warum Fred überhaupt an Familienfeiern teilnimmt. Dieter weiß nicht, wie er anderen erklären soll, dass er keinen Alkohol trinkt. Bertram erinnert sich an Rollenspiele aus einem Seminar für Gesprächsleiter.

Die, die nichts mehr anfassen, leben mit der Angst vor einer Frage, die ihnen selten gestellt wird. Sie üben Antworten. Doreen erzählt von ihrem Vater. Mathias vermutet, dass die Schuld von Doreens Vater darin besteht, keine zu haben. Das sagt er aber nicht. Er sagt, dass es auch Schicksal sein kann, so zu sein, wie man ist. Nadja hält das für eine Entschuldigung. Sie machen eine Rauchpause.

„Schicksal ist ein blödes Wort“, sagt Mathias zu Nadja in der Pause.

Sie antwortet, dass sie gestern das Auto ihres Ex-Freundes gesehen hat. Dieter fragt rum, ob jemand Salami aus der Fleischerei seines Onkels kaufen will.

Nach der Pause reden sie über ein Medikament, das noch nicht klinisch erprobt wurde. Nadja erzählt jetzt allen, dass sie das Auto von ihrem Ex-Freund gesehen hat. Doreen sagt, dass ihr Therapeut ein Spezialist ist. Sie räumen die leeren Keksschachteln und Kaffeetassen zusammen.

„Ich glaube, wir nehmen alle etwas mit“, sagt der Gesprächsleiter.

 

 

 

 40. Der andere Trotzki

 

 

Einer der Freunde seines Vaters hieß Karl Stahl und wurde Stalin genannt. Als der Junge begann, die Freunde seines Vaters zu duzen, sagte er: He, Stalin.

Stalin lachte. Was macht die Revolution, Trotzki?

 

Gegen seine Absicht kam Trotzki nicht dazu, dem Kurier ein Trinkgeld zu geben. Es lag daran, dass ihm der Kurier das Päckchen am ausgestreckten Arm entgegenhielt. Trotzki rechnete damit, eine Unterschrift leisten zu müssen. So war es ihm mitgeteilt worden. Er wollte diese Unterschrift geben und gleich darauf ein kleines Trinkgeld. Der Kurier ließ das Päckchen los und lief davon.

Trotzki betrachtete das Bild eines Tapirs an seiner Kühlschranktür.  Der historische Trotzki gelangte nach Mexico. Mexico war ein Fluchtland. Dort gab es eine Malerin, die mit Leo Trotzki schlief. Er erzählte ihr vieles, was sie wieder vergaß. Wenn sie daran denken wollte, malte sie Tapire. Aus den kurzen Rüsseln kamen die Worte zurück. Grausame Worte, die eine Armee kommandiert hatten. Die Malerin verstand diese Scheußlichkeiten nicht. Sie konnte sie nur malen oder mit ihnen schlafen.

 

Trotzki wunderte sich, wie leicht sich das Päckchen öffnen ließ. Die Adresse mit seinem Klarnamen wies darauf hin, dass er nicht immer der andere Trotzki war. Es gab keinen Grund, sich dieses Zeug an eine konspirative Adresse schicken zu lassen. Alles war in Ordnung. Eine Apotheke in Amsterdam hatte ihn gut verstanden, als er schrieb, dass er die Farben der sprechenden Tapire benötigt.

 

Vor einigen Tagen war Stalin gestorben. Die alte Frau Stahl hatte angefragt, ob er ein paar Worte sagen würde bei der Beisetzung. Da musste Trotzki an die Frage von damals denken. Man konnte sie nicht völlig vergessen.

 

Illustration: Jazz, © 2021 Reiner Lietz

 

41. Jazz

 

Der Wanderprediger in der U-Bahn war ein dunkelhäutiger Mann im dreiteiligen Anzug. Er erklärte den Reisenden, dass sie mit dem Teufel im Bunde wären.

Holger mochte die Stimme und die sorgfältig geputzten Schuhe. So hatten sie Jazz gespielt.

 

Anzug und Schuhe bedeuteten Respekt vor der Musik. Die Töne kamen aus dem Nebenraum des Kellerklubs und kräuselten sich auf den Heizungsrohren. Holger hatte eine Pipette dabei und zählte die Tropfen, die ins Wasserglas fielen. Sie trafen sich, die Töne und Tropfen.

Später ging er tanzen mit der Tochter der Apothekerin. Sie tanzten nicht wirklich. Sie standen sich nahe. Ihre Haare lagen ineinander wie Schilfgras am Fluss. Der Schlagzeuger wischte damit über das raue Fell seiner kleinen Trommel. Holger hörte den Regen in den Rohren des Saxophons. Die Tiere des bunten Himmels atmeten den Rauch und tranken sein Wasser. Das Gesicht an Holgers Gesicht ließ ihn seine fremden Wangenknochen fühlen.

 

An die fremden Knochen lehnte sich ein Stück Haut. Der Versuch einer Transplantation. Mit Herzen geht das manchmal, mit Haut geht es nicht.

Sie lagen nachts eng beieinander. Auf dem Balkon standen die  Musiker. Holger erkannte ihre schwarzen Konturen vor der Nachtfarbe der Stadt. Am nächsten Tag lag ein Vogel auf dem verkrusteten Beton. Holger warf ihn über die Brüstung.

Die Tochter der Apothekerin hielt die Pipette. Sie nahm einen Schluck Wasser in den Mund und lehnte den Kopf zurück. Die Pipette bewegte sich über ihren geöffneten Lippen. Der fallende Tropfen verätzt die Schleimhaut, wenn er nicht trifft. Sein Flug endete in einem geräuschlosen Strudel, der beim Versickern den Körper überflutete. Auf der Netzhaut schimmerte weißes Porzellan.

Holger nahm ihr die Pipette aus der Hand.

 

In dem kleinen Flur der Wohnung schob er den Vorhang zurück, der das Laboratorium verbarg. Seine Finger spielten auf Kolben und Schläuchen.

Schimmernde Schwaden bedeckten die Stadt.

Es war wichtig gewesen, den Respekt vor der Musik nicht zu verlieren.

 

 

42. Der Tag der Befreiung

 

 

Im Arbeitszimmer des Vaters klingelte das Telefon. Es war früher Abend. Georg hörte ihn aufnehmen und mehrere Male „Ja“ sagen. Nach dem Gespräch kam der Vater zu ihm.

„Du sollst in Pionierkleidung und mit einem Schachspiel ins Stadtcafe kommen.“

Seine Mutter band ihm das Halstuch um.  Das zusammengeklappte Schachbrett diente als Behältnis für die Figuren. Sie klapperten unter dem Arm, als Georg sich auf den Weg machte.

Von der Siedlung aus ging er in Richtung Stadtmitte. Es war eine kleine Stadt mit Ruinen aus dem Krieg. In einem Garten spielte jemand Akkordeon. Das klang beinahe wie eine Fortsetzung des Konzertes, das Georg vorhin im Kino gehört hatte. Er kam an der Schule vorbei und am Ehrenhain mit dem Denkmal. Die Soldaten waren nicht mehr da.

Jedes Jahr am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, kamen sowjetische Soldaten aus einer 50 Kilometer entfernten Garnison in die Stadt. Einige Soldaten standen Wache im Ehrenhain und andere gaben später im Kino ein Konzert. Im Ehrenhain hielt der Bürgermeister eine Rede. Die Schüler waren da und Leute aus dem Rathaus und von der Kreisleitung. Die Soldaten rührten sich nicht. Ihre Gewehre glänzten. Der rote Stern auf dem Mahnmal glänzte auch. Der Hausmeister der Schule hatte ihn geputzt.

Vor 25 Jahren war der Krieg. Die Rote Armee gewann die Schlacht am Fluss. Ihre toten Soldaten wurden an dem Platz beerdigt, wo jetzt der Ehrenhain ist. Georg sah den Hausmeister. Er verkabelte zwei Scheinwerfer. Nach Einbruch der Dunkelheit sollten sie den roten Stern anstrahlen. Krasnaja swjesda. Die Soldaten trugen ihn am Käppi ihrer Uniform. Georg suchte noch nach anderen russischen Vokabeln. Beinahe drei Jahre hatten sie das Fach in der Schule gehabt. Vor dem  Kino blieb er stehen und sah auf die Einschusslöcher im Putz. Er redete Russisch mit ihnen. Die Löcher waren Augen und blinzelten. Wir haben verstanden, wer du bist. Geh weiter.

 

Der Rauch im Stadtcafe roch nach Machorka, dem russischen Tabak. In der Siedlung roch es manchmal so, wenn jemand Laub verbrannte. Der Qualm der Papirossi umgab als weiße Perücke den Kopf des Schuldirektors. Er winkte Georg heran und winkte auch noch in eine andere Richtung.

„Du stellst dich dem sowjetischen Offizier selbst vor“, sagte der Direktor.

So erfuhr der herangekommene Offizier Georgs Namen und auch, dass er ein Pionier war und Kreismeister im Schach in seiner Altersgruppe.

Der Offizier schob Georg in den Nebenraum. Die Soldaten saßen hier. Zwei oder drei Leute aus dem Rathaus leisteten ihnen radebrechend Gesellschaft. Sie brachten Trinksprüche aus, die niemand verstand. Die Kellnerin stellte neue Gläser auf den Tisch. Der Offizier machte Platz für das Schachbrett.

Georg stellte Figuren auf und hörte dem Direktor zu, der ihnen gefolgt war.

„Bestimmt spielen sie gut Schach. Es sind ja Russen. Du unterhältst dich doch mit ihnen? Zeig, was du gelernt hast.“

Der Offizier befahl einen der Soldaten an das Schachbrett. Der Soldat schwankte und grinste Georg unsicher an. Georg erzählte, dass er Geschwister hat und in der Schule Russisch lernt. Der Soldat spielte schlecht. Es fiel ihm schwer, die Figuren zu bewegen. Der Offizier lachte. Einen nach dem anderen kommandierte er die Soldaten zum Spiel.

„Sie sind betrunken“, sagte der letzte. „Ich heiße Kostja.“

Er hatte das Wort für  „betrunken“ mit einer erklärenden Handbewegung an den Kopf begleitet. Georg dachte lange nach, aber gegen Kostja verlor er zwei Partien.

„Weißt du was?“, sagte Kostja: „Ich trinke jetzt auch Wodka. Dann gewinnst du.“

So war es. Kostja freute sich über die Richtigkeit seiner Prophezeiung.

„Lass uns rausgehen. Es wird gleich Schluss sein.“

Sie konnten sich unterhalten in der warmen Nacht. Kostja sprach langsam und suchte einfache Worte. Georg hatte noch etwas auf dem Herzen.

„Ich habe gewonnen, weil du das wolltest“, sagte er.

„Ich wollte, dass du meine Kameraden verstehst“, sagte Kostja.

„Sie sind nicht anders als die, die damals hier gekämpft haben.“

Der Offizier kam mit den Soldaten aus dem Stadtcafe. Sie mussten ein Stück gehen zum Parkplatz des Mannschaftswagens. Georg holte das Schachspiel und ging mit Kostja hinterher. Die Soldaten stützten sich gegenseitig. Kostja legte einen Arm auf Georgs Schulter. Georg war sehr stolz. Sein Vater oder seine Brüder machten so etwas nicht. Darüber brauchte er nicht mehr traurig zu sein. Es war der Tag der Befreiung.

 

Georg fragte Kostja, ob er ihm schreiben kann. Am Mannschaftswagen kritzelte Kostja eine Adresse auf einen Zettel. Georg legte den Zettel zu den Schachfiguren. Er winkte dem Wagen hinterher, obwohl in der Dunkelheit kein Gesicht zu erkennen war. Auf dem Heimweg lieb er vor dem angestrahlten roten Stern stehen.

Sein Vater holte ihn dort ab. Der Direktor hatte angerufen und gesagt, dass Georg nach Hause kommt. Georg berichtete von seinen Erfolgen. Der Vater war nicht böse.

„Es ist spät geworden“, sagte er.

Georg ging zu Bett und überlegte, was er Kostja schreiben würde. Seine Brüder lagen in einem Doppelstockbett und redeten leise miteinander. Das Fenster war angeklappt. Frösche quakten und Georg gab sich keine Mühe, das Gewisper seiner Brüder zu verstehen. Er brauchte ihre Geheimnisse nicht mehr.

Den Brief beendete er am nächsten Tag in der Schule. Er hatte ein Wörterbuch eingesteckt und schrieb unter der Bank. Die Briefmarke holte er sich vom Schreibtisch des Vaters. Nach zwei Wochen bekam er eine Antwort.

„Ich spiele Fernschach“, erklärte Georg seinen Eltern.

Kostja schrieb, wie schön es ist, wenn ein Soldat einen Brief bekommt. Georg spürte wieder den Arm auf seiner Schulter. Seine Gedanken wurden zweisprachig. So war es jedes Mal, wenn er einen Brief von Kostja erhielt. 

 

„Sei mutig“, schrieb ihm Kostja, als seine Dienstzeit um war.

 „Nimm  Abschied von einem Soldaten“.

Georg versuchte, diesen Satz zu verstehen. Schließlich wurde ihm klar, dass es auch für Kostja einen  Tag der Befreiung geben musste.

 

 

43. Helsinki

 

Der Stoff, der Zweck, die Liebe. Irgendwas davon bringt jeden um.  

Al-Dschazira zeigt ein zerstörtes Haus in Helsinki. Die Kommentatorin rückt ihr Kopftuch zurecht. Sie wirkt entschlossen, einem Verdacht zu entgegnen.

Außer Holger sind fünf Menschen anwesend. Der Bestrafte sitzt ihm im Raucherzimmer gegenüber. Nebenan sind der Wirt und ein Pärchen und ein Trinker. Das Pärchen hat die Hände ineinandergelegt und wartet auf eine Bestellung. Der Trinker wartet nicht mehr. Die Kneipe ist ein ruhiges abgedunkeltes Zimmer. Das Telefon, das nicht klingelt, steht woanders.

Helsinki ist ein Ort mit vielen Verletzten. Krankenwagen rasen mit Sirenengeheul durch die Straßen. Niemand kennt die Anzahl der Toten.

Der Bestrafte entnimmt einem Karton bunte Glasscherben. Er zeichnet ihre Umrisse auf fleckiges Papier. Mit feinen Strichen schraffiert er die gezackten Ränder.

„Was wird das?“, fragt Holger.

„Ich habe in der Glaserei gearbeitet. Tiffany-Lampen für die Schließer gebastelt.“

„Jetzt bist doch draußen.“

„Es gibt in der Werkstatt keinen Nachfolger.“

In Helsinki sitzen Männer mit und ohne Uniform auf einem Podium. Vor ihnen baumeln Mikrofone. Minister benutzen grüne Dokumententinte. Die Fragen kommen aus dem Off. Die Finnen antworten in schleppendem Englisch. Ja, er war in psychiatrischer Behandlung.

Zwei Polizisten stehen vor dem einzigen unbeschädigten Gebäude der Stadt. Hinter ihnen erhebt sich die Statue der „Justitia“. Eine Menge singt ein Kinderlied. Die Waage schwebt über den Köpfen der Beamten. Sie schauen geradeaus. Zwischen ihnen zoomt die Kamera auf ein blasses Gesicht, das den Blick verwirrt und trotzig erwidert. Die Kamera bleibt lange auf diesem dünnhaarigen Menschenhaupt. Der Blick senkt sich zu weißen, gefesselten Händen.

Der Bestrafte fügt die Scherben mit Draht zusammen. Aus dem Mundwinkel fällt ihm Asche auf den Lötkolben. Atemrauch treibt sie in das Licht des Fernsehers.

Sie hatten beide etwas getan, der dünnhaarige Mann und der Bestrafte. Holger trinkt Kaffee und denkt daran, auch etwas zu tun. Der Kommentar im Fernsehen ist unverständlich. Man darf das Unverständliche nicht für sinnlos halten. Holger zieht einen Stuhl vor das leuchtende Bruchglas. Es schien ihm, als ob alles zum Greifen nah ist.

 

 

 

44. Salto mortale

 

Nur der Enkel. Der guckt manchmal wie die Oma. Ich war mit der Oma befreundet, aber sie ist gestorben. Der Enkel ist nicht begeistert. Sein Vater trägt die Schultüte. Es ist ein heißer Tag und viele Menschen mit verhüllten Gesichtern laufen über den Schulhof. Irgendwo soll es eine Videowand geben.

Ich sitze auf Treppenstufen vor einer Zahnarztpraxis. Es ist Sonnabend, keines der Kinder muss heute hierher. Die Oma hatte große Probleme mit dem Zahnarzt. Eine Dentistin erklärte mir, dass Angst vor dem Zahnarzt ein Zeichen von Intelligenz ist. Zu der ist die Oma dann gegangen.

Der Enkel verzieht sein Gesicht. Heute kommt vieles zusammen. Schule, Zahnarztschild und Familie. Die Kinder gehen mit den Eltern ins Gebäude. Im Haus wird es kühler sein. Das Gesicht trocknet unter dem Stoff. Die Haut wird salzig. Kinder aus der Schule singen ein Lied zur Begrüßung. Sie singen ein Lied zur Verabschiedung. Die Familienhaufen ziehen weiter, jeder für sich.

Wir essen im Hof eines Restaurants. Der Enkel sitzt an der Stirnseite der Tafel. Er ist kein Wortführer. Die Gäste unterhalten sich, aber sie achten auf den Jungen. Er packt einige Geschenke aus und isst Fischstäbchen. Der Kellner ist ein freundlicher Bursche. Er macht Faxen, wenn er Zeit hat und lässt einen Löffel verschwinden. Dann soll der Junge seinen rechten Schuh ausziehen. Dort findet sich der Löffel wieder an.

Hast du das in der Schule gelernt, fragt der Junge. Der Kellner stutzt einen Moment. Sie beginnen zu lachen und schütteln ihre Köpfe. Darüber lachen die anderen.

Ein Gemeinplatz kommt in den Kopf: Wenn die Oma jetzt hier sein könnte. Sie hatte lautes Lesen geübt. Auf der Bettkante saß sie; das Schneiderlein zog in die Welt hinaus, die Eigenwerbung um den hageren Körper gewickelt. Die Oma sah aus wie ein Junge, mit sauber gezogenen Nähten auf dem Oberkörper. Die Schultern krümmten sich ein wenig, wenn sich die Augen in altmodischen Illustrationen verhakten.  Die Rapunzelhaare fielen ihr nicht mehr ins Gesicht. Sie musste einiges geben für das Märchenbuch.

Ich hatte die Oma sehr gern in dieser Zeit. Wenn ich sie beschützte, dann auch mich selbst.

Wir wollen in den Garten. Die Eltern des Jungen haben eine Parzelle gepachtet, es sind zehn Autominuten. Alle verteilen sich auf drei Wagen. In irgendeinem Kofferraum liegt frischgebackener Kuchen. Der Junge trägt die Schultüte jetzt eigenhändig. Er berichtet, was sie enthält.  Die Geschenke, die zu sperrig für die Tüte waren, werden im Garten überreicht. Ein durchdachtes Sortiment: Kristalle kann der Junge nun züchten und Dinge durch ein Mikroskop betrachten.

Die kleine Schwester ist sichtbar geworden. Dort, hinter dem durchsichtigen Vorhang eines Trampolins. Sie springt in die Höhe und übt bedenkenlos Bewegungen in der Luft. Der Körper soll sich drehen oder überschlagen. Es gelingt nicht so, wie es geplant war. Das Mädchen fällt kreischend auf den Rücken und kommt wieder auf die Beine. Ihr Vater steht mit einer Gießkanne am Rande des Rasens. Die Beete brauchen Wasser und der Vater genießt die Stille des versickernden Wassers.

Die Oma hätte auch einen Kuchen gebacken, bestimmt. Die Schwester ruft nach ihrem großen Bruder. Der Junge verlässt Geschenke und nützliche Hinweise. Du hattest gar nichts von der Quarktorte, ruft eine Tante hinterher. Ich bleibe noch eine Weile am Tisch. Wir reden über die Tanks, in denen sich das Regenwasser sammelt. Das ist gut für den Garten. Die Neugier zieht mich zum Trampolin, Neugier und Suche. Sehnsucht ohne Schmerz, wenn es das gibt. Ich suche eine Geste oder einen Gesichtszug, der mir vertraut ist.

Der Enkel guckt manchmal wie die Oma. Ich sagte es schon. Was ist das für ein Blick? Die begründete Angst vor dem Zahnarzt und das Schneiderlein, das seinen Gürtel bestickt. Ich mache jetzt einen Salto, sagt der Junge und schafft die Drehung nicht. Noch einmal. Es wird kein Salto, es wird etwas anderes.

Das ist auch ein Kunststück, sage ich. Wie im Zirkus. Salto mortale.

Du musst alle holen, sagt der Junge. Ich will das vorführen.

Ich will auch vorführen, sagt die Schwester.

Erst bin ich allein dran, sagt der Junge. Dann kannst du mitmachen, okay?

Na gut.

Die Schwester krabbelt aus dem Rondell. Ich schlage den Vorhang zurück und rufe in Richtung des Gartentisches.

Meine Damen und Herren! Sehr versehrtes Publikum! Besuchen Sie die Vorstellung unseres einmaligen Überschlagartisten Lottipold Kopflos!

Die kleine Schwester kichert. Drüben werden sie aufmerksam und machen sich auf den Weg.

Treten Sie ein in den grandiosesten Zirkus der Welt! Gestern in New York! Vorgestern in Barcelona! Überall überschlägt sich Lottipold Kopflos, wie sich noch nie ein Mensch überschlagen hat!

Das Publikum staunt und nickt sich ernsthaft zu.

Ich will auch vorführen, sagt die Schwester.

Ich hebe das Mädchen hoch.

Zunächst aber möchte ich ihnen Liviana, die reizende Assistentin von Lottipold Kopflos, vorstellen!

Das Publikum applaudiert. Liviana ist zufrieden.

Siehst du das Blümchen im Gras dort? frage ich sie leise.

Hol das schnell. Für deinen Bruder.

Sie tippelt los. Ich imitiere einen Trommelwirbel und zähle langsam von Zehn rückwärts.

Der Junge versteht mich. Bei „Zero“ beginnt er zu springen.

Sehen Sie jetzt eine absolute Weltsensation! Den dreifachen Stoppelberger mit doppeltem Zwirbelwirbel!

Lottipold Kopflos macht noch einige Sprünge, um Höhe zu gewinnen.

Ich hab das Blümlein, flüstert Liviana.

Ihr Bruder überschlägt sich, landet schräg auf einer Seite, kommt auf die Beine und bemüht sich wieder um Höhe.

Nochmal, sagt der Junge.

Diesmal landet er auf der anderen Seite und lässt sich auf dem Trampolin hin und her federn.

Bring ihm die Blume, sage ich zu Liviana.

Sie bemüht sich wacklig, auf das Trampolin zu kommen, das Gänseblümchen in der ausgestreckten Hand.  

Das Publikum ist begeistert und Liviana fällt auf ihren Bruder.

Besuchen Sie auch den zweiten Teil unserer Vorstellung! In wenigen Minuten ist der Zirkus Zumparulli wieder für Sie geöffnet! Erleben Sie dann den verschraubten Salto Rigoletto und andere gewagte Kunststücke!

Die Menge zerstreut sich zum Tisch und zum Gemüsebeet. Die gelbe Blume lugt aus dem T-Shirt des Jungen.

Ich muss üben, sagt er ernsthaft. Den verriegelten Salto Rauboletto.  Ist das ein schwerer Name! Machst Du die Ansage noch einmal?

Raubetto, sagt Liviana.

Ich mache jetzt den Zirkus zu und nachher wieder auf, sage ich.

Die Kinder bleiben Silhouetten hinter dem Vorhang.

Auf dem Tisch steht Quarktorte. Kaffee ist auch noch da. Onkel Norbert guckt durch das Mikroskop.

 

 

 

45. Auf dem Weg

 

Die Szene hatte sich in den Osten Berlins ausgeweitet. Nicht lange nach der Maueröffnung okkupierten Hausbesetzer einige Gebäude in der Rigaer Straße. Heruntergekommene Domizile, von guten Geistern und ihren früheren Bewohnern verlassen. Ich wohnte in der Nähe und gewöhnte mich an die neuen Nachbarn. Ich lernte auch, die Fenster geschlossen zu halten, wenn Mannschaftswagen der Polizei in der Straße parkten. Es ist nicht schön, Tränengas in der Wohnung zu haben. Die Besetzer hielten die Stellung und ich besuchte sie manchmal, wenn ich nachts von der Arbeit kam. 

Ich trug einen Smoking. So ging ich aus dem Haus und so kam ich zurück. Dazwischen saß ich ein paar Stunden am Flügel eines Hotels in der Innenstadt. Das Land wechselte seine Besitzer. Eine neue Zeit war angebrochen. Jeden Abend spielte ich As time goes by, bevor ich in den Nachtbus stieg. 

Meine Arbeitskleidung war mir so vertraut, dass ich sie gar nicht mehr wahrnahm. Ich band nicht einmal die Fliege ab. Warum sollte ein Mensch nicht im Smoking durch die Nacht spazieren? In dem schwarzen Aktenkoffer befanden sich Noten, ein Kalender und ein Buch. An der Haltestelle nächst meiner Wohnung sagte ich „Gute Nacht“ zum Busfahrer.  Die Kneipe in einem der besetzten Häuser hatte sogar einen Namen.

Woina i mir war mit kyrillischen Buchstaben an die Wand gesprüht. Krieg und Frieden. In der ersten Nacht dort hatte ich irgendwem die Marx’ sche Mehrwerttheorie erklärt. Sie hielten den Smoking für Tarnung. Ich setzte mich an eine zusammengenagelte Bar und bekam eine Flasche Bier. So blieb ich sitzen, manchmal bis in den Vormittag.

Der weiße Flügel im Hotel hatte bekommen, was ich an Seele zu verschenken hatte. Es dauerte lange, bis die Gedanken zurückkehrten. Dann wollte ich bei ihnen bleiben.

Das Haus bekam häufig Besuch. Revolutionäre, entlaufene Kinder. Ich kannte den Inhalt der Verhandlungen nicht, die über ihr Bleiberecht entschieden.

Bei Francois halfen bestimmt die Sprachkenntnisse. Sie besaß einen kanadischen Pass und einen karibischen Vater. Ihre Klamotten waren einige Nummern zu groß. Auf dem Weg von Kanada in die Rigaer Straße hatte sie erheblich an Gewicht verloren.

Ich war fett, Mann.

So erklärte sie mir das.

Mein Onkel in Kingston gab mir nichts mehr zu essen.

Er gab ihr nichts, bis sie 70 kg verloren hatte und schlank genug war, um abhauen zu können.

Sag mal: Kann ich bei dir duschen?

Das kannst du, Francois. Es wäre schön, wenn du mir bei einem englischen Text hilfst.

Ja Mann.

Am Morgen gingen wir in meine Wohnung. Ich ließ den Song laufen, bei dem ich einige Worte nicht verstehen konnte.

Das ist Slang, Mann. Ich sag es dir.

Drei oder vier Worte. Sie lachte.

Meine Duschkabine stand in der Küche, ein Badezimmer hatte ich nicht. Ich stellte das Wasser an und holte Handtücher. Francois wusch sich die Haare und sang ein Lied.

Ich komme jetzt raus, sagte sie. Nicht erschrecken.

Die hellbraune Haut umhüllte sie wie eine Toga. Der Stoff hatte sich in Falten gelegt. Ein schmaler Kopf mit großen Augen lugte heraus. Ich gab ihr ein Handtuch und legte ein zweites über die nassen Haare.

Du hast immer noch deinen Anzug an, sagte sie. Ich sehe Scheiße aus.

Wir können frühstücken, sagte ich.

Das ist auch gut, sagte Francois.

 

Ab und zu trafen wir uns in der Kneipe. Francois hielt vorsichtig die Jungs auf Abstand. 

Ich bin fett, erklärte sie mir. Ich werde es einfach nicht los.

Die Haut bildete sich nicht zurück. Morgens um drei, wenn die Gedanken kamen, wurde mir klar, was sie alles mit sich herumschleppte. So schöne Haut. Nur zu viel.

Francois war unterwegs in der Stadt. Sie brachte Nathalie mit. Die beiden sprachen französisch miteinander. Eine Sprache, zwei Dialekte. Sie unterhielten sich nachts um eins, als ich von der Arbeit kam. Ich hörte ihnen hingerissen zwei Stunden zu, ohne ein Wort zu verstehen. Nathalie zog in das Haus und begann, den Nachtdienst in der Kneipe zu machen. Sie schleppte schweres Zeug und schrubbte den Fußboden. Manchmal, wenn sie sich reckte, hielt sie die Hände an die Brust. Mir schien, als ob der zarte Körper zu den Wölbungen unter dem T-Shirt ein besonderes Verhältnis hatte. Nathalie sah gut aus und wurde verlegen, wenn jemand ein Kompliment machte.

 

Sie möchte dich im Hotel besuchen. Was meinst du?

Francois fragte mich das, beim ersten schwachen Tageslicht.

Die Bewohner am Tisch planten ein Straßenfest. Eine Saftpresse musste besorgt werden und eine Band, die nichts kostete. Nathalie brachte ihnen Bier. Sie lächelte dabei.

Ich habe nichts dagegen, sagte ich.

Sie will üben, sagte Francois.

Ich ließ mir von Nathalie ein Bier geben.

Das geht schon in Ordnung. Ich zahle ihre Barrechnung.

Sie trinkt gar nicht viel. Ich bringe sie zu dir nach Hause, ja? Wir wollen duschen und Haare schneiden.

Ja gut. Aber erst am Nachmittag.

Francois wusste, dass ich mich nicht erschrecken würde.

Nathalie lief nach dem Duschen durch die Wohnung, das Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie federte zur Musik, die aus dem Rekorder kam. Ihr Busen wippte, und dann wippte noch etwas.

Francois saß im Sessel und sagte: Sie ist auch noch nicht fertig.

Die Hormone hatten ihren Körper geformt, aber sie konnten nicht operieren. Francois kümmerte sich um die Haare. Sie föhnte und drehte ein paar Locken.

Sonst weiß das keiner. Sie möchte eine richtige Frau sein.

 

Niemand hätte Nathalie für etwas Anderes gehalten, als sie in das Hotel kam. Sie stieg im Cocktailkleid die Freitreppe der Eingangshalle empor. Am Flügel blieb sie kurz stehen, nickte und wendete sich zur Bar. In der Spielpause ging ich zu ihr. Für den Barkeeper war es klar, zu wem sie gehörte. So hatte Nathalie es gewollt. Lass mich deine Freundin sein dort. Sie war eine Freundin, die mir Respekt verschaffte.

Ein Gast kam an den Flügel und gab ein Trinkgeld.

Sie ist doch Französin. Spiel La vie en rose.

Nathalie schaute herüber.

Siehst du, sagte der Gast.

Sie nippte an ihrem Sekt und spazierte zu den Auslagen des Juweliers. Es gab einiges zu betrachten im Hotel. Die Fahrstühle schwebten. Nathalie stand ganz oben auf der Galerie und winkte.

Alles war auf dem Weg. Wir nahmen zusammen den Bus und gingen in das besetzte Haus. Das Plenum war besorgt über einen angekündigten Polizeieinsatz. Das Straßenfest musste ausfallen.

Francois stand hinter der Bar und sagte:

So ein schönes Paar habe ich noch nie gesehen.

Ich glaube, die beiden wollen heiraten, rief sie etwas lauter.

Der Anführer der Revolutionäre legte unsere Hände ineinander. Das Plenum gab die Vorräte frei, die für das Straßenfest bestimmt waren. Francois drehte die Musik lauter. Sie kam hinter dem Tresen hervor und tanzte ein Hochzeitsritual kanadischer Indianer. Vielleicht war es auch etwas anderes. Am Vormittag versuchte eine Megaphonstimme vergeblich, die Besetzer hinter den rissigen Mauern zum Verlassen des Hauses aufzufordern. Als uns die Augen tränten, bewarfen wir die Polizisten mit Orangen. Danach entkamen wir durch Kellergänge. Francois kümmerte sich noch einmal um Nathalies Haare.   

 

 

46. Der Bunker

 

In der geöffneten Schere lagen nasse Haarspitzen. Es geschah schnell und endgültig. Die Stylistin spiegelte den Schnitt in den Spiegel vor den Augen der Kundin.

Jemand wird sagen, dass es zu viel war. Die Tochter der Apothekerin schnitt ihre Haare selbst. Sie schnitt sich in die Haare. Kastanien fielen an ihre verschorfte Tonsur.

Am Fluss waren die Schmerzen nicht mehr fühlbar. Ein Schiffer winkte den Kindern vom Lastkahn zurück. Die gingen, bevor man sie suchte. Der Geruch einer neuen Frisur. Bis in die Stadt und dann auseinander.

 

Zwischen den Alleebäumen huschen die Trikots von Radfahrern. Sie machen das seit Holgers Kindheit. Damals waren Männer gekommen, bevor die Radfahrer kamen. Die Männer stopften die Schlaglöcher vor dem Haus. Die Radfahrer stürzten erst auf der Zielgeraden. Holger sitzt in einem Zug. Die Alleebäume begrenzen den Horizont. Der Zug fährt den Radfahrern entgegen, bevor ein Wald die Stationen von den Orten trennt. Holger nimmt seine stille inhaltslose Tasche. Er steigt hinaus auf einen schmalen Perron. Der Bahnsteig läuft aus in die verfugten Betonplatten einer Panzerstraße. Holger geht auf ihnen in den Wald, in dem früher Soldaten wohnten. Schneereste liegen auf Warnschildern. Die Wandermönche Kyrill und Method hatten ihre Buchstaben erdacht. Das sind Dinge, die Holger weiß. Er wird nicht aufgehalten von Posten oder Tieren. Die Kommandantur ist mit Plattner Straßenbau beschildert.

 Das Haus ist das einzige Gebäude auf einer herausgeschlagenen Lichtung. Es sieht aus, als könne man hier die Zugfahrkarten lösen. Wie damals: Ein Sergeant verteilte Urlaubsscheine. Die Soldaten hassten den Allmächtigen. Sie krochen ihm zu Kreuze. Herr Plattner sitzt auf der hölzernen Veranda. Er hat ein fleischig markantes Gesicht. Holger erkennt die kleinen blauroten Punkte auf den Wangen. Die vollen Haare wechseln ins Grau. Das wird meine Farbe, denkt Holger. Er erfand dieses matte Silber auf der Suche nach einem Außenanstrich. Herr Plattner sagt, dass es früher leichter war. Seine Vertraulichkeit ist Distanz, eingeübt zwischen Arbeitern und Bürgermeistereien. Du bekommst den Mindestlohn für dreißig Wochenstunden. Aber das ist nur Papier. Den Rest regeln wir formlos.

Es gibt keine Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Herr Plattner redet nicht mehr.  Die Kommandantur bleibt geräuschlos.

Holger sieht das Haus, die Lichtung und einen Mann. Es wäre naheliegend, auch Fahrzeuge oder Hunde oder Telefone zu sehen.

„Wo kann ich arbeiten?“, fragt Holger.

Herr Plattner erhebt sich. Die Eingangstür des Gebäudes ist bemalt. Die Ornamente verschwinden im Boden. An der Frontseite des Flurs befindet sich ein Knopf mit einem nach unten gerichteten Pfeil. Im Seitengang steht der Sergeant mit den Urlaubsscheinen. Plattner bemerkt ihn nicht. Er drückt auf den Knopf und winkt. Sie stehen im Fahrstuhl und verlieren kurzzeitig ihr Gewicht.

„Die wollten schnell unten sein“, sagt Plattner.

„Hier war ein Sonderwaffenlager. Den Eingang siehst du nicht, wenn du vom Zug kommst.“

Das halbrunde Betongewölbe ist Plattners Garage. Sie gehen an den Baumaschinen und einer Privatlimousine vorbei.

„Ich habe eine Wand eingezogen. Dahinter kannst du machen, was du willst.“

Holger schaut in den abgetrennten Raum. Er ist leer.

„In drei Tagen stehen dort ein Tisch und ein Computer. Du überlegst dir, was du brauchst. Mach mir einen Kostenvoranschlag.“

„Ich brauche eine Kaffeemaschine“, sagt Holger.

„Sicher.“

„Welches Zeug ist wann und wo verbaut worden?“

„Rede mit den Leuten draußen.“

So verbleiben sie.

 

Auf der Rückfahrt sieht Holger die Möbellager der Vorstadt. Das Haltesignal vor dem Bahnhof. Tote Tintenfische auf dem Grund des Jurameeres. Das Öl verdampft in den Türmen der Raffinerie. Ein gewaltiges Besteck zerteilt den fossilen Nebel. Plattner kauft die verklebten Gräten. Bitumen.

Holger geht zu einem abgestellten Baufahrzeug. Der Kessel auf dem Wagen hat eine Heizung. Die Gräten müssen flüssig werden, bevor sie auf die Straße kommen. Sie kleben den Splitt zusammen. Weben einen Teppich aus Dreck, um nicht im Dreck zu versinken.

Holger legt die Hand auf den Kesselzylinder.

„Hast du was vor mit dem Ding?“, fragt jemand.

Holger schaut zur Stimme. Der Arbeiter sitzt mit dem Bier auf einer Bank.

„Feierabend.“

Vielleicht sagen sie das gleichzeitig. Fragend oder feststellend. Holger setzt sich dazu.

„Was habt ihr im Kessel?“

„Das Zeug? Polymerbitumen.“

„Wie es aus dem Werk kommt?“

„Wird wohl.“

Brandwunden halten die Bierflasche. Der Belag ist frisch. Die Autos fahren drüber. Der Splitt drückt sich in den Boden.

„Scheint zu halten“, sagt der Arbeiter.

„Das ist wohl nicht immer so“, vermutet Holger.

„Nee. Lass es regnen oder schneien.“

Der Regen spült das Gemisch aus Dreck und Klebstoff in irgendeinen Karpfenteich. Plattner bekommt Ärger mit Leuten, denen lebende Fische lieber sind als tote. Nicht das Gewöhnliche bedeutet Unglück. Eher die Suche danach.

 

„Guten Morgen“, sagt Herr Plattner.

Er sitzt wieder auf der Veranda. Eine abgetragene Wattejacke schützt ihn vor der Kälte. Auf dem Tisch steht ein Pappteller mit belegten halben Brötchen, daneben eine Kaffeekanne und eine schmale braune Metallflasche ohne Aufschrift.

„Dein Kaffee ist unten.“

Seltsamerweise verhalten sich beide so, als ob sie ein lange bekanntes Ritual vollziehen. Plattner nimmt einen Schluck aus der braunen Flasche, erhebt sich und sagt einiges auf dem Weg zum Fahrstuhl.

„Es ist Zeug unten. Richte dich ein. Zum Mittag kommt ein Catering-Wagen, ein paar Arbeiter machen hier Pause. Schau sie dir erst mal an, meine Leute. Danach reden wir über dein Labor.“

Plattner bringt Holger bis zu seinem Raum. In der Garage schlägt er auf eine Kühlerhaube.

„Was rollen kann, darf nicht rumstehen.“

Holger hat verstanden und sitzt vor dem Computer. Er findet einen Bekannten aus seiner Studienzeit, der in der düsteren Stadt M. einen Betriebsteil auflöst. Kolben, Trichter, Verdampfer. Spektrometer. Ich habe eine Farbe erfunden, jetzt erfinde ich einen Straßenbelag. Dann wird diese verrottete Gegend wieder passierbar.

Die Stimmen der Männer. Es sind die Stimmen vom Schulhof, nach beinahe dreißig Jahren. Holger hatte sie nicht vermisst. Er war fortgegangen und die Tochter der Apothekerin war fortgegangen. Die Stimmen gingen zum Straßenbau. Sie konnten Kastanien werfen und Steine schleppen.

„Wo iss’n der Fraß?“

Holger fürchtet fast, dass jemand an seiner Tür rüttelt.

Schau sie dir an, hat Plattner gesagt. Für heute dürfte es reichen, wenn er sie hört.

„Was war mit der Knochenkäte gestern? Bist du noch mit ihr mit?“

„Du warst doch da auch schon.“

Es sind nicht mehr die Knabenstimmen. Auf dem Schulhof erzählten sie dumpfe, irgendwo gehörte Geschichten. Heute haben sie ihre eigenen Abenteuer. Die Sprache ist geblieben. Sie erinnert an Brackwasser. Sachen, die sich auf der Straße festtreten. Holger zählt Schritte in seinem Raum. Das Spülbecken war beim ersten Mal noch nicht da. Zerkratzte Büromöbel, vielleicht aus der Kommandantur. Ein kleiner Tisch mit der Kaffeemaschine und einigen bunt bemalten Tassen. Der Kaffeedunst legt sich auf die Betonwände. Holger überlegt, ob er einen Geigerzähler bestellt.

Der Sergeant sitzt am Tisch.

Warum bist du geblieben?“, fragt Holger.

„Ich bin kein Verräter. Soll ich dir einen Geigerzähler holen?“

„Nein.“

„Damals, weißt du. Es gab Befehle.“

Er geht aus dem Raum. Holger folgt ihm, hat ihn aber gleich aus den Augen verloren. Am anderen Ende der Garage steht der Cateringwagen.

 

Holger schaut aus dem Zugfenster. Er versucht, die Straße zu entziffern.

Ein delirierter Sergeant war das. Mein Gott, ja. Soll doch vorbeikommen wer will im Bunker.

Der Sergeant wurde von einem schlechten Gewissen gequält. Er ist geblieben, um Buße zu tun. Die Risse der Allee wollen nicht zuwachsen. Das Erdöl wird anders verwertet heute. Die Rückstände sind schlechter geworden, die Plattner bekommt. Holger muss auch den Splitt untersuchen und den Boden. Soll der Sergeant sich um die Leute kümmern, die damals mit Kastanien warfen. Die Tochter der Apothekerin besuchte ihn während des Studiums. Sie kopierte Vorlesungen und sagte, dass sie ihm schreiben wird. Holger ließ Visitenkarten drucken: Chemischer Konsultant. Das war der Beruf, den er für sich bestimmt hatte, um eine Farbe zu erfinden.

 

Die kurzen Delirien kommen und gehen wie kleine Schlaganfälle. Holger weiß das. Ihm ist klar, dass er im Bunker keinen Sergeanten treffen kann. Es ist vernünftiger, den Arbeiter mit dem Bitumenkessel in der Nähe des Bahnhofs für real zu halten. Die Baustelle ist hundert Meter weiter gezogen. Holger folgt den dunklen Stellen des Straßenbelags.  Der Arbeiter hat sich mit der Bierflasche auf einen Fenstersims gedrückt.

Es ist keiner von Plattners Leuten. Er wird nicht erfahren, worum es Holger geht. Zusammen beobachten sie die Straße. Holger kennt das. Auf die Straße starren und warten, bis die ersten Motorräder kommen, die dem Hauptfeld vorausfahren. Er rannte mit seiner Mutter aus dem Haus. Sie hörten die Radfahrer atmen, für einen winzigen Moment. Später kam die Zielankunft im Fernseher. Niemals stürzte jemand vor dem Haus. Holger wäre es nicht im Traum eingefallen, dass er es einmal sein wird, der die Schlaglöcher repariert.

 

 

47. Fehlfarben

 

Wir tragen bereits die Kostüme, die man uns später aushändigen wird. Vor dem Film ist nach dem Film. Der Regisseur bestimmt die grauen Passanten. Grau meint nicht unbedingt die Bekleidung. Es ist eine Fehlfarbe im Kopf. Die grauen Passanten fahren umher. Sie-also wir-sind Passagiere. Alle haben einen Fahrschein. Fahren zur Arbeit, zum Amt, zum Bahnhof, nach Hause. 

Mehrmals am Tag werden wir angebettelt; in beweglichen, abgeschlossenen Räumen. Das schafft eine Stimmung der Ausweglosigkeit. Getäuscht sehen wir uns vom trügerischen Gefühl des Unterwegsseins. Eine archaische Geste hält uns fest. Bedrückend, aggressiv, musikalisch oder schweigend. Es betteln junge Menschen und alte Menschen. Dreckige Kinder, Rollstuhlfahrer. Mit sonorer Stimme beklagen sie ihr Schicksal. Die Bittsteller wünschen sich eine Spende für eine Tasse Kaffee oder eine Kleinigkeit zu essen. Sie bedauern lautstark, stören zu müssen. Uns liegt der Satz auf der Zunge: Wenn man jedem von euch etwas gibt, hat man schnell selbst nichts mehr.Natürlich sagt das niemand. Wir lassen uns nicht provozieren. Obwohl-oder besser: weil-wir nur Statisten sind, begreifen wir instinktiv, wenn uns der Regisseur zu Handlungen ermuntern will, die nicht durch unser bescheidenes Honorar abgedeckt sind. Er würde gratis eine Szene bekommen, die sich gut vermarkten ließe. Für uns blieben im besten Fall vorwurfsvolle Blicke.

Dieser Raum, Wagen eines Zuges meinetwegen, würde sich ohne uns nicht bewegen. Genau genommen würde er sich auch ohne die Bettler nicht bewegen. Der Regisseur beginnt nicht mit den Arbeiten, bevor alle Mitwirkenden eingetroffen sind. Schon sehr lange arbeitet er an diesem Film. Gut möglich, dass vor ihm ein anderer Regisseur den Anfang machte. Es gibt Aufgaben, für die ein Menschenleben nicht reicht. Jeden Tag nach dem Ende der Arbeiten bekommen wir in der Requisite die Kostüme für den nächsten Tag ausgehändigt. Es sind die, die wir bereits tragen. Die Bettler haben mehr Abwechslung. Der Regisseur ermahnt uns lächelnd, denn er hat keinen Grund zur Klage, am kommenden Morgen pünktlich zu erscheinen.   

 . 

 

 

48. Duhnerts Reich

 

Die Enkel wohnen in der Nähe. Duhnert besitzt teure Laufschuhe und eine Hobelbank. Morgens läuft er am Meer, durch den Kopf geht die Vorlesung, die er am Nachmittag halten wird. Manchmal gerät die Zeile eines Refrains in den technischen Vortrag. Wohin nehme ich dich mit? Beim Weiterrennen entsteht aus der Zeile ein Text. Er muss nicht grübeln, es ist ein unbewusster Vorgang. Ähnliches soll den Maschinen gelingen, die an seinem Institut erdacht werden. Sie bauen allein ihre nächste Generation, Zeile um Zeile, und zerfallen danach in verwertbare Rückstände.

Das Meer liegt grau vor Helsingfors. Duhnert las Shakespeare an der Oberschule und spielte labile Könige. Die Szenen tauchen immer wieder auf. In der Küche hat er seine Vorlesungen als Videos aufgezeichnet. Das waren verschiedene Monologe. Der Kühlschrank weiß jetzt alles über Robotik. Man kann ihn mit einem 3D-Drucker ausstatten. Die Enkel dürfen zugucken, wenn sich der Kühlschrank selbst nachbaut. 

 

Duhnert bleibt stehen, um ein Stück Bernstein aufzuheben. Das Stück kommt zu Hause in eine Schatulle. Die Schatulle steht in einem kleinen Raum, den er Bernsteinzimmer nennt. Am Abend zieht sich der Professor zurück und betrachtet seine Sammlung. Es gibt schöne Stücke unter den Funden. Verewigte Flügelschläge. Duhnert hört noch das Sirren des erstarrten Insekts. Er imitiert den hohen Ton auf einer elektrischen Gitarre. Harz tropft auf das vibrierende Tier. Abrupt ist der hohe Ton beendet. Duhnert spielt einen finalen Akkord.

Die Schatulle wird er mitnehmen. Der Kühlschrank bleibt hier und ersetzt den Professor Duhnert zur Genüge. Wohin nehme ich dich mit? Das ist die Textzeile im Kopf. Sie hat sich vermehrt. Duhnert improvisiert eine Melodie. Er kann das Lied noch aufnehmen für die Enkel. Wohin nehme ich dich mit? singt der Kühlschrank. Die Enkel werden rätseln, wen der Kühlschrank meint.     

 

Für die Enkel hatte er Holzspielzeug gebaut. Sie bekamen all die Fürsorge ab, die für die eigenen Kinder nicht verfügbar war. Duhnert versteht die Verschachtelung der Generationen. In der Vorlesung hat er sie als kybernetischen Holismus bezeichnet. Manchmal merken sich Studenten so einen Begriff und versuchen, ihn in einer Prüfung zu verwenden. Sie verstehen keinen höheren Blödsinn. Sie hatten kein Holzspielzeug. Duhnert arbeitet an seinen Vorurteilen.

Eine Gitarre kommt auch mit, aber keine von den elektrischen. Duhnert macht sich auf. Er ist der letzte König eines endlos großen Reiches. Hier wird er seine Reise beginnen, am westlichen Zipfel des Imperiums. Ihm ist klargeworden, dass es Ziel seiner Arbeit war, seine Präsenz überflüssig zu machen. Das Spielzeug liegt im Schuppen. Die Studenten finden es bequem, nicht in den Hörsaal zu müssen. Die Zeit hat ein wenig nachgeholfen. Er legt einen Spirituskocher neben die Gitarre.

Fahren wird er bis zum Ende des Meeres, das den Bernstein an Land spült. Für den Knick nach Osten hat sich Duhnert einige Visa besorgt. Sein Reich wird ihm nicht den Weg verstellen. 

Sie nannten es damals nicht Reich, sondern Weltsystem. Es erstreckte sich über den größten Teil des eurasischen Kontinents, verfügte über einige Häfen und einen Markt in Samarkand. Seine Bewohner waren physisch anwesend, das ist gut belegt. Sie besuchten die Schule, übten einen Beruf aus oder gingen der Arbeit aus dem Weg. Ihre Herrscher hatten keine gute Hand. Das Imperium zerbrach.

Es zerbrach, aber jetzt war es Duhnerts Reich geworden. Er weiß, was er hinter sich lässt.

 

In den letzten Wochen baute er viel am Transporter. Das fiel nicht weiter auf, weil Duhnert immer an etwas baute. Das Auto würde sicherlich eine königliche Karosse werden, aber auch das Gefährt eines besonnenen Mannes, in dem man schlafen konnte und Essen zubereiten.

Duhnert ist vorbereitet auf verschiedene Wetter und Landschaften. Er hat Gastgeschenke verstaut und sich in seltene Sprachen vertieft. Dafür verwendete er Technik, die es noch gar nicht gibt.

Ihn gibt es auch nicht mehr. Er geht durch den Garten. Einige Anpflanzungen tragen Früchte. Die Bäume sind mit den Kindern gewachsen.

Der Abschied von seiner Frau wird nicht schwer werden. Für beide nicht. Duhnert findet, dass die Vertrautheit einer langen Ehe überschätzt wird. Das Einvernehmen beruht auf Distanz.

 

Er verlässt sein Anwesen am frühen Abend. Diese Nachtfahrt scheint ihm ein geeigneter Auftakt zu sein für eine lange Reise. Der Professor fühlt sich frisch, sein Kopf hat kein Problem mit dem nachtaktiven Rhythmus. Der Körper ist trainiert und belastbar. Er wird einen Umweg fahren in dieser Nacht. Das war ursprünglich nicht vorgesehen. In den letzten Tagen erschien ihm der Umweg immer unvermeidlicher. Es ist ein Test. Eine Tatortrekonstruktion. Deswegen fährt er jetzt südöstlich eine Schleife durch die vorpommersche Gegend. Er fährt durch dunkel werdende Wälder. Im Radio stellt sich ein polnischer Sender ein. Duhnert denkt an einen Mann, der Radke hieß. Es mag sein, dass die korrekte Schreibweise des Namens Radtke war. Hätte ich diesen Namen jemals getragen, murmelt der Professor. So kam es nicht. Radke blieb sein menschlicher Erzeuger. Das Wort menschlich wird man bald betonen müssen. Nachdem er Radke zum letzten Mal sah, vor ungefähr dreißig Jahren, bestand Duhnerts Arbeit darin, die menschliche Biologie zu umgehen. Eine künstliche Intelligenz mit Armen und Beinen braucht keine Gene. Bald werden Menschen keine Menschen mehr brauchen.

Zwischen den Kirschbäumen der Straßenchaussee kann ein Tier auftauchen. Duhnert muss aufmerksam bleiben. Die Gegend ist so monoton wie die Fahrbahnmarkierungen. Ein wechselndes Tier kann man schnell übersehen, aber nicht die Stele, die irgendwo am Straßenrand steht. Einige Tonnen Granit sind das und Radke hatte damals direkt draufgehalten. Duhnert sieht das Ungetüm von weitem im Scheinwerferlicht. Er drosselt die Geschwindigkeit. Im Schritttempo fährt das einzige Auto weit und breit an der alten Unglücksstelle vorbei.  

 

Das Nachtprogramm spielt einen polnischen Schlager. Duhnert kennt das Lied aus der Kindheit. Radke hatte ihm die Schallplatte geschenkt. Sie pflückten Kirschen für einen Kuchen. In den Landgasthäusern gab es Fassbrause. Auf einem Moped fuhr Radke mit seinem Sohn nach Stettin. Es war die Strecke, die Duhnert jetzt einschlägt, um wieder an die Küste zu kommen.

Ein Imperium ist zerbrochen und ein Mann namens Radke. Ein Reich ist geblieben. Es ist jetzt Duhnerts Reich und es ist ein Reich voller Menschen.

 

 

49. Es ist alles relativ

 

 

Key Lorga ist eine schmale Insel, durch die sich längs der Highway A1 zieht, eine Autostraße, die unten in Key West beginnt und nach weit über hundert Meilen das Festland Floridas erreicht. Hier herrscht karibisches Klima. Es gibt einige Möglichkeiten, freie Zeit zu verbringen. In den 1990-er Jahren lebten unter den Männern auf der Insel einige Veteranen des Zweiten Weltkrieges. Barney hatte unter General Patton Wien eingenommen. Er bewertete seinen Anteil an diesem Sieg etwas höher. Vernon spielte Saxophon in der Navy-Bigband. Sie kamen mit ihren Frauen zum Dinner in die Pilotlounge. Nach dem Essen saßen sie an der Bar und ließen sich vom Pianisten Lilli Marleen und Marlene Dietrichs Falling in love again vorspielen. Der Pianist war ich. Barney übte ein paar Brocken deutsch, die er als Soldat gelernt hatte. Vernon redete mit dem Inhaber und brachte eines Abends sein Saxophon mit. Er legte ein altes Songbook aus der Navy-Zeit auf den Flügel. Dabei sprach er den einzigen deutschen Satz, den er konnte: Es ist alles relativ. Ab und an sagte er nun diesen Satz wie eine Formel.

Ich verstand nie, was er damit meinte. Ich verstand es nicht, wenn vor den geöffneten Verandatüren der Bar die Sonne im Atlantik versank. Ich verstand es auch nicht bei der traurigen Melodie von Boulevard of broken dreams. Vernons Frau war glücklich mit den gebrochenen Träumen. Er lächelte ihr zu und sagte: Es ist alles relativ.

Vernon nahm mich mit, um mir seine alte Firma zu zeigen. Die gehört mir nicht mehr, sagte er, aber sie verjagen mich nicht, wenn ich vorbeischaue.

Am Stadtrand von Miami standen ein paar Trucks mit Satellitenschüsseln. Die Firma kaufte Satellitenzeit im All und verkaufte die Nutzungsrechte an die Army. Die Anlage schickte Daten zu einer Zentrale, die militärische Operationen steuerte. Relativ waren Frieden und Krieg. Auf den Inseln blieb es windstill.  

 

An einem ruhigen Abend kam Vernon allein. Barney und die Frauen besuchten Kinder aus früheren Ehen. Wir saßen auf dem Bootssteg und warteten auf Gäste. Vernon bastelte an den Klappen des Saxophons. Er murmelte das unvermeidliche: Es ist alles relativ. Ich erkläre es dir, fügte er diesmal hinzu: Ich war achtzehn und bekam meinen ersten professionellen Job als Musiker. Die Kapelle spielte auf einem Ozeanliner, das Ding sah aus wie die Titanic. Es ging nicht um das Saxophon. Sie nahmen mich wegen der Geige. Du musst wissen, dass ich vom Land kam. Ich war also ein Hillbilly, und so hieß auch die Musik, die sie in den Kneipen dort spielten. Zum Hillbilly gehörte die Geige. Die Leute nannten sie Fiddle. Ich lernte als Kind von fahrenden Musikanten, wie man aus einer Geige eine Fiddle macht. Kein Konservatorium bringt dir sowas bei. Eine schräge Angelegenheit. Das Schiff fuhr die Linie von New York nach Antwerpen und die Europäer waren verrückt nach amerikanischer Tanzmusik. Swing vor allem, aber beim Hillbilly brachten sie das Schiff zum Schwanken. Wir führten das Zeug abends als Showeinlage auf. Und dafür brauchten sie den Fiddler.

Das war im Jahr 1933. Da gab es Deutsche an Bord, die weg wollten oder weg mussten. Einer war ein berühmter Physiker, aber woher sollte ich das wissen. Ein lustiger Bursche um die fünfzig, der wegen der Fiddle zu mir kam. Er spiele selber Geige. Nun würde er gern dieses Hillbilly- Zeug versuchen. Ich sollte ihm das zeigen. Okay. Das Problem war, dass wir Musiker keine Freizeit hatten auf dem Schiff. Unterhaltungsmusik am Tag, abends Tanz im ballroom. So erklärte ich ihm das. Er lächelte. Zum ersten Mal hörte ich dieses: Es ist alles relativ.

Ich glaube, er bestach den Bandleader. Mit seiner Geige kam er in den stickigen Bauch des Schiffes geklettert. In der engen Kajüte, die ich mit einem Kollegen bewohnte, brachte ich ihm Hillbilly bei. Das Spiel lebt von einfachen Effekten. Die richtigen Griffe, die dirty notes. Bogenhaltung. Wir standen da unten und spielten zu zweit, bis er es einigermaßen verstanden hatte. Zum Schluss gab er mir ein anständiges Honorar.

Ich werde in Princeton als Professor arbeiten, sagte er. Du kannst dich ruhig melden, wenn du in der Nähe bist.

 

Vernon schaute mich an.

Du bist jetzt bestimmt schon klüger, als ich damals war.

Wenn du den Professor meinst, bestätigte ich.

Das war der erste Teil der Geschichte. So kann sie nicht enden, oder?

Warum nicht? Es wäre kein schlechtes Ende.

Er nuschelte seinen Satz so leise, dass ich ihn kaum verstand. Lauter dann: Die nächsten Jahre sind schnell erzählt.

 

Ich wurde zur Navy eingezogen und kam bald in die Bigband. Diesmal als Saxophonist. 1945 musterte ich zusammen mit dem Bassisten in New York ab. Wir gingen nach New Jersey, wo er ein paar Leute kannte. Die Clubs dort auf dem Land wollten Countrymusic und Hillbilly, um Gottes Willen keinen Jazz. Wir fanden einen Drummer und einen Gitarristen, gesungen haben wir ja alle. Es konnte losgehen.

Der erste Job war in der Nähe von Princeton, diesem Universitätsdorf. Hört mal, sagte ich: Wir wissen nicht, was passiert. Ich kann nicht gleichzeitig Saxophon und Fiddle spielen. Sie verstanden das Problem. Vielleicht kann ich in Princeton jemanden auftreiben. Sie nickten.

Ich rief in der Universität an. Zwölf Jahre waren vergangen. Ich fragte nach einem deutschen Physikprofessor, der Geige spielt. Im Büro war klar, wen ich meinte. Zwei Stunden später rief er zurück.

Ja natürlich, sagte er. Ich höre im Radio die Hillbilly-Sendungen und spiele auf der Geige mit. Ihr seid in der Nähe? Ja, gern. Jemand wird mich fahren. Die Universität hat mir verboten, ein Automobil zu lenken. Er lachte. Sag mir, wo ich euch finde.

Seine Chauffeurin war Norma Baker, eine junge Schauspielerin. Unser Fiddler stellte sie vor. Er erklärte, dass sich Norma auf eine Rolle als Physikstudentin vorbereiten würde. Sie hätte in der Universität angerufen, genauso wie ich. Norma trug ein Kopftuch über brünetten Locken. Ich erinnerte mich, dass sie auf dem Cover eines dieser Army-Magazine gewesen war, als Mädchen aus der Munitionsfabrik. Vielleicht grübelte manch einer im Saal, woher er das Gesicht kannte. Gefragt hat niemand. Ich erklärte dem Professor das Nötigste. Norma bekam einen Drink und saß an unserem Tisch, ein bisschen weg von den Leuten. Eigentlich hatte ich erst Zeit, sie anzuschauen, als wir auf der Bühne waren. Sie lächelte hoch zum Professor. Dem gefiel der Job, und wenn er mit der Fiddle Pause hatte, nahm er Klapperzeug und unterstützte den Schlagzeuger. Die Leute hätten ihn für einen alten Farmer halten können, der in seinem Sonntagsanzug zum Tanz aufspielt. Unten saß Norma. Sie staunte und bekam den Mund nicht zu. Manchmal hielt sie ihr Kopftuch fest. Das war nicht gespielt. Irgendetwas schien völlig neu für sie zu sein. Für mich jedenfalls war die Welt plötzlich eine andere.

Vernon hatte eine Zeit halb über das Meer geblickt. Jetzt sah er mich direkt an. Ich nickte: Später wurde Norma blond und berühmt.

Ja, sagte Vernon. Aber da war sie nicht mehr Norma. Meine Kollegen trauten sich nicht, mit ihr zu reden. Der Professor war überhaupt nicht scheu. Er erzählte vom Fiddleunterricht auf dem Ozeandampfer. Die Jungs hörten das zum ersten Mal. Sie fanden, dass er gut aufgepasst hatte. Es ist alles relativ, sagte der Professor fröhlich. Norma zupfte einen Fussel von seinem Sakko. Sie machte das so nebenbei, als ob sie ihn schon ewig kannte und gab ihm einen kleinen Schubs, als wir wieder auf die Bühne gingen. Ich dachte: Schön, wenn man so ein Mädchen hat.

Nachdem ich in der Nacht mit dem Clubmanager die Abrechnung gemacht hatte, wollte ich unserem Fiddler die Gage geben. Teilt euch das auf, sagte er. Die Universität versorgt mich gut.

Ich sah ihnen nach. Sie gingen in der Dunkelheit die Dorfstraße runter, irgendwo dahinten stand das Auto. In der einen Hand hielt der Professor den Geigenkasten. Auf der anderen Seite ging Norma Baker. Ein Stückchen weg nahm Norma seine freie Hand. Vielleicht nur, damit er nicht verloren ging.

 

Vernon war am Ende der Geschichte. Ich wartete auf seinen obligatorischen Satz. Vernon sagte ihn aber nicht, und ich konnte nur ahnen, weshalb er ihn diesmal wegließ. Ich ging zum Flügel. In dem alten Songbook fand ich ein Lied, das Vernon später einmal nachgetragen haben musste. Ich begann zu spielen. Er lächelte. Es war traurig, dieses Lächeln, aber er kam mit seinem Saxophon zu mir.

Wir spielten I wanna be loved by you, für die Kellnerinnen und ein paar Seemöwen.

 

 

 

50. Eine Kirche, ein Bus & ein Lied

 

 

Blickte man vom Balkon aus nach rechts, sah man die Kirche. Schlecht reparierte Kriegsschäden konnten ihrer Würde nichts anhaben. Die anderen drei Seiten des Karrees bildeten mehrgeschossige Wohnhäuser. Ein Nachtbus hatte sich einmal zwischen den Blöcken verirrt. Die beiden, die mitfuhren, vertrieben sich die Zeit. So ähnlich ging es auch in einem Lied zu, das Philipps Mutter immer gesungen hatte. Philipp stand auf dem Balkon ihrer Wohnung. Sie war vor zwei Tagen gestorben. Ihre Gitarre lag im Zimmer.

Philipp saß noch lange am Bett der Mutter, nachdem das Herz aufgehört hatte zu schlagen. Er hielt die Hand der Toten und schaute auf das Marienbild über der Zimmertür. Die Schwestern der Station ließen ihn in Ruhe. Später musste er in die Wohnung, um Papiere zu suchen. Dort war er geblieben, bis jetzt.

Unten verliefen Constanzes Wege. Philipp nannte seine Mutter beim Vornamen, schon seit der Kindheit. Der Gang zum Supermarkt, die Runde mit dem Hund. Auf der Bank neben dem Mittelschiff der Kirche memorierte sie Texte, es hätte das Murmeln von Gebeten sein können.

Die Texte trug sie vor. Sie erzählte Geschichten oder sang russische Romanzen. Philipp half ihr oft mit dem Gepäck. Kostüme, Dekorationen. Er hatte seinen russischen Vater nie kennen gelernt. Das Lied mit dem verirrten Nachtbus stammte aus Moskau. Sein Vater war Geschäftsmann gewesen. Er hatte einen Autounfall.

Constanze sang ihre Lieder in Moll, begleitet von den immer gleichen drei Akkorden. Sie sollten nach dem Land klingen, das sie nicht kannte. Seltsamerweise blieb Constanzes Gesicht nahezu faltenlos. Als Philipp  ihr die Augen schloss, dachte er an seinen Vater.

 

Es klingelte. Philipp wusste, dass Raik vor der Haustür stand. Sie kannten sich seit der Schulzeit. Raik sollte helfen, die Wohnung aufzuräumen. Nein, das war nicht das richtige Wort. Oder doch? Raik fuhr mit dem Fahrstuhl. Er stand vor der Wohnungstür. Sie fielen sich in die Arme.

Kaffee. Oder Bier. Der Rest aus der Whiskyflasche. Hast du was zu rauchen? Philipp krümelte Cannabis in den Tabak.

In dieser Wohnung war ich nie, sagte Raik.

Philipp überlegte. Sie wohnte zehn Jahre hier. Wir waren zwanzig, als sie umzog.

Ist schon Scheiße, sagte Raik.

Sie gingen zusammen durch die Wohnung. Einige Male hatte Philipp hier übernachtet. Selten also. Wie läuft es bei dir?

Familie, sagte Raik.

Er hielt eine Büste in den Händen. Ist das nicht?

Der war ihr Großvater, erklärte Philipp. Die Bronze stammte von Cremer. Sie kannten sich aus dem Widerstand.

Was willst du machen mit dem Ding?

Keine Ahnung. Das ist Geschichte, oder? Constanze kam aus so einer Familie.

Raik stellte sich zu Philipp neben einen geöffneten Kleiderschrank.

Halte mich nicht für pietätlos, sagte Philipp. Wir bringen die Sachen weg. Ich hab drüber nachgedacht.

Sie verstauten das Zeug aus diesem und einem anderen Kleiderschrank in großen, blauen Müllsäcken. Die Säcke schafften sie zum nächsten Container für Altkleider. Er stand an einem von Constanzes Wegen.

Constanze kaufte ständig Klamotten, weil sie ständig zunahm, sagte Philipp. Alles ging runter im letzten Jahr. Gespenstisch.

Sie lehnten in der Dunkelheit an dem Container. Die Kirche bekam Licht von der Rückseite. Aus den halboffenen Fenstern der Wohnblöcke drangen Stimmen und Sprachen. Philipp hörte das Russische heraus. Er verstand es nicht. Seine Mutter hatte die russischen Geschichten auf Deutsch erzählt. Märchen für die Kinder, am Abend das Programm mit dem Nachtbus. Philipp lernte die drei Mollakkorde beim Zugucken.

 

In der Wohnung oben nahm er die Gitarre.

Constanze konnte ununterbrochen quasseln, begann er. Der erste Mollakkord stieg auf mit dem Rauch des Joints, den Raik anzündete.

Einmal hat sie mich nach einer Stunde gefragt:  Worüber habe ich geredet? Sie war nüchtern. Ihr war nicht nach Spaß. Sie redete, um zu reden. Es war nur aufgeschnapptes Zeug. Sie hörte sich selbst nicht zu.

Raik reichte ihm den Joint. War das nicht anstrengend?

Ja. Sie hörte nicht zu. Anderen auch nicht. Sowas nervte.

Philipp zupfte langsam die Töne des zweiten Akkordes. Mehrmals. Sie kifften. Alles brauchte seine Zeit.

Ihr Großvater hatte Haus und Grundstück. Der große Schriftsteller sollte vernünftig leben nach den harten Jahren. Er war sehr kinderlieb. Er baute einen Sandkasten für die Enkelin. Der war gut geschützt, hinter allerlei Büschen und Gesträuch. Da also spielte der Großvater mit der Enkelin.

Philipp suchte nach dem dritten Akkord.

Ist schon Scheiße, wiederholte Raik nach einer Weile..

Es kam ihr komisch vor. Mehr sagte sie nicht. Wir gucken, was von den Medikamenten weg kann.

 

Sie sortierten im Bad und gingen an den Computer im kleinen Arbeitszimmer, wenn sie keine Beipackzettel fanden. Bücher und Papiere stapelten sich auf einer Truhe an der Schmalseite des Raumes.

Da müssen wir auch noch ran, sagte Philipp.

Sie waren aufgekratzt von der Kramerei und von Cannabis, Whisky und Kaffee. Raik hielt einen Tablettenstreifen in der Hand. Er schaute in den Computer: Das sind Spaßmacher.

Ja dann, sagte Philipp und nahm Zeug von der Truhe.

Von innen leuchteten bunte Stoffe. Raik griff hinein und zog vorsichtig. Er stand auf und hob die Arme. Der Stoff fiel nach unten. Er war besetzt mit glänzenden Knöpfen und Schnallen.

Eines ihrer Bühnenkleider! Philipp ging zurück, um besser zu sehen. Das Kleid war weit geschnitten, der dunkle Stoff sollte die Figur darunter verbergen. Pailletten und Schmuck fingen die Blicke.

Bleib so stehen, sagte Philipp. Ich will das anprobieren.

Er ging nach nebenan und kam in Shorts zurück.

Na los. Irgendwie muss man doch reinkommen.

Raik half ihm. Das Kleid endete in Höhe des Knies. Philipp suchte einen Schal in der Truhe und verwendete ihn als Gürtel.

Schau mal in den Spiegel, sagte Raik.

Im Flur sang Philipp das Lied vom verirrten Nachtbus. Hinter ihm stand Raik, der sich ein Tuch als Stirnband umgebunden hatte. Große und kleine Sterne tanzten darauf.

Dein Kopf steckt in irgendeinem kosmischen Nebel, sagte Philipp.

Die Sterne von Buchara, erklärte Raik.

Wollten wir nicht auf Eseln dorthin reiten wie Hodscha Nasreddin?

Ja, sagte Raik. Ich werde dazu diese Bluse hier anziehen.

Er schaffte es, seine Arme in den weiten Ärmeln unterzubringen. Die Bluse spannte im Rücken, aber der Stoff hielt. Das weiße Leinen war nach russischer Art bestickt.

Raik stand gerade und legte die Hände in die Hüften: Nu pogodi, sajaz!

Das hat der Wolf gesagt.

Ja. Jedes Mal, wenn ihm Häschen entwischt war.

So haben wir das gelernt.

Man schafft es nicht immer, sagte Raik. Nicht immer schnell genug, nicht immer klug genug.

Ein Märchen, sagte Philipp.

Reiten wir nach Buchara, sagte Raik.

 Arm in Arm taumelten sie wiehernd und kichernd auf den Balkon. Mitten in der Nacht hörten sie sich singen, dreimal gebrochen durch die Wohnblöcke. Die Stimmen verfingen sich erst in den Rundbögen der Kirche.

Die Fenster waren dunkel und die Kirche schimmerte violett. Als sich Busscheinwerfer über die Straße tasteten, sagte Philipp: Es gibt hier weit und breit keine Haltestelle. 

 

 

 

 

51. Der Satz

 

Mir geht vieles durch den Kopf, aber der Satz geht noch anders, der Satz, den ich jetzt lesen möchte: Voll dunkler Poesie, nicht ohne eine Spur gerade noch wacher Vernunft.

Ich kann mir vorstellen, dass der Satz von einem Mann gesagt wird, der auf einem sonntäglichen Markt ein Sofa verkaufen möchte. Inmitten der Händler und Besucher, zwischen Buden und Teppichen, vor einer Kirche unter einem kalten klingenden Winterhimmel.

Oder es spricht ihn ein geflohenes Mädchen. Der Satz ist eine Währung, und das Mädchen hat lange graben müssen, um ihn zu finden. 

Ein Astronom liest den Satz in einer entfernten Galaxie. Eine Frau mit einem  Geheimnis erblickt ihn in einer ungewaschenen Hand.

Der Satz steht auf der Brücke und sieht, wie Laub die Schienen verweht.

Er hält sich fest am Geländer, das beidseitig abfällt. Die Automobile auf der Fahrbahn halten sich an Regeln, sie sind die Orthografie ihrer Bewegung.

Hier kann der Anfang sein: Der ungeografische Punkt also, von dem aus jeder eingeschlagene Weg auf die nicht gewählte Möglichkeit hinweist.

 

An der Tankstelle neben der Brücke.

Das ist keine Adresse, sagt die Taxidispatcherin.

Ich gehe um die Tankstelle herum und entdecke ein altes Straßenschild.

Brückenstraße, rufe ich ins Telefon.

Welche Nummer?

Eins, sage ich, ohne zu überlegen.

In fünf Minuten.

Sie legt auf, ohne den Satz zu beenden. Jenseits der Straße befindet sich eine Galerie. Dort sind Bilder ausgestellt, die eine Künstlerin mit ihrem Menstruationsblut gemalt hat. Die Bäume haben weiße Ringe. Zwei Männer kommen aus einer Wärmestube. Weit über ihnen pinkelt jemand aus dem Fenster des Treppenhauses.

Überall bilden sich Buchstaben. Im Staub des Gehweges, auf den Bildern der Galerie. Sie könnten verschiedenen Alphabeten entstammen. Die Schriftforscher entdecken gelegentlich Zeichen, die nur noch von wenigen Menschen verwendet werden. Die Bäume haben ihr Laub verloren. Die Farbe der weißen Ringe ist porös. Man kann mit einem Taschenmesser leicht etwas hineinschneiden, eine Bestätigung des Gewesenseins oder ein Fruchtbarkeitssymbol. Ich gehe näher heran. Das Weiße verliert seine Geschlossenheit, es löst sich auf in flatternde Endlosbänder.  

Von Schweinen gezogen

kann ich lesen, wenn mein Blick die richtige Distanz findet. Die Schrift ist kraklig auf dem unruhigen Transparent, das sich um den Baum windet. Ich folge der Krümmung des Stammes;

wird das Schiff aus Pergament

schließt der Satz. Das Ende des Bandes verbindet sich mit dem Anfang.

Hatten Sie ein Taxi gerufen, fragt ein Mann neben mir.

Ich folge ihm zu seinem Wagen.

Im Fond der Limousine sitzend bemerke ich, dass der Fahrer ununterbrochen und leise redet. Seine Lippen vibrieren. Sie kommen gut durch den Verkehr, sagt er nun etwas lauter und offenbar an mich gerichtet.

Ich schaue nach vorn und sehe, dass unser Wagen von einem Schweinegespann gezogen wird. Acht Tiere bringen uns voran. Sie machen das so geschickt und selbstverständlich, dass ich den Eindruck bekomme, alle anderen Automobile würden stillstehen.

So geht es auch, sagt der Fahrer.

Sie brauchen viel Futter, nicht wahr?

Wie die Verpflegung, so die Bewegung.

Der Straßendreck und ihr eigener sind grün schimmernde Panzer auf den Körpern der Tiere. Sie schnüffeln Auspuffgase und reiben sich gegenseitig die Haut. Mir fällt ein, dass ich für diese Fahrt kein Ziel angegeben habe. Die Schweine biegen von der Hauptstraße ab. Sie jagen über eine stopplige Wiese. Die Hände des Fahrers liegen ruhig auf dem Lenkrad.

Ich lasse sie laufen, sagt er. Sie haben wohl Freude daran. Nehmen sie bitte ein Stück Schokolade.

Mit der rechten Hand reicht er, ohne sich umzudrehen, eine geöffnete Tafel nach hinten. Ich breche ein kleines Karree aus dem Silberpapier.

Diese Schweine, sagt er, wissen immer, wo der Fahrgast wohnt. Sie haben einen Sinn dafür. Sie müssen sich also keine Sorgen machen.

Wenn ich aber gar nicht nach Hause will, protestiere ich schwach.

Warum sollten sie woanders hinwollen, sagt der Fahrer. Ohne Gepäck an der Tankstelle.

Ich kann seiner Logik keineswegs folgen. Meine Hände liegen auf dem weichen Bezug der Sitzbank. Die Farbe des Bezuges ähnelt dem Weiß der Baumrinde.

Es ist ungegerbte Schafshaut, sagt der Fahrer. Auf Rahmen getrocknet: Pergament. Als man es beschrieb, vor langer Zeit, brauchte man ein Lamm für jede Seite eines Buches. Sind sie berühmt? Dann hinterlassen sie bitte ein Autogramm. Ich gebe ihnen einen geeigneten Stift.

Ich bin nicht berühmt, sage ich.

Den Schweinen ist das egal. Sie ziehen ein Schiff über Land. Weil sie wissen, wo die Menschen hingehören.

Wir fahren wieder durch eine bebaute Straße. Manchmal bleiben Kinder stehen und schauen uns nach. Ich sehe sie durch das Heckfenster. Nichts erinnert mich an die Gegend, in der ich wohne. Allerdings erkenne ich im Hintergrund die Umrisse einer Kirche. Die Schweine laufen darauf zu. Auf dem Platz vor der Kirche bleiben sie stehen. Im Auto hört man ihr Schnaufen.

Sie schwimmen auch, wenn es sein muss, erklärt der Fahrer. Es sind schon famose Tiere. Sie können aussteigen.

Gern, sage ich. Aber meine Adresse ist das hier ganz und gar nicht.

Wollen wir mit den Schweinen diskutieren? Der Fahrer lächelt. Das ist sinnlos. Sie schulden mir nichts.

Ich steige aus, der Fahrer fügt hinzu: Das Pergament ist unbeschädigt.

Der Platz ist beinahe menschenleer. Bei der Abfahrt sind die Schweine erstaunlich schnell, und dort, wo der Wagen in die Hauptstraße einbiegt, sind sie plötzlich verschwunden. Ich sehe nur noch das kleiner werdende Taxi.

Langsam verfliegen Dunst und Geruch der Schweine. In der Mitte des Platzes wird ein Sofa sichtbar, es erscheint so normal wie die Bänke am Rand. Vor dem Sofa steht ein Mann in orientalischer Kleidung. In den Händen hält er ein Fernrohr. Gelegentlich hebt er dieses Fernrohr gegen die grau werdende Sonne. Ich gehe auf ihn zu. Er fragt: Sie haben sicher auch von der Sonnenfinsternis heute gehört?

Nein, sage ich.

Dann haben sie jetzt Glück gehabt. Ein seltenes Naturschauspiel. Es wird gleich beginnen.

Ich bemerke, dass der Mann nicht allein ist. Auf dem Sofa sitzt eine alte Frau. Vor ihr steht ein halbwüchsiges Mädchen. Die alte Frau hält die rechte Hand des Mädchens. Sie schaut auf den Handteller.

Der Bezug des Sofas ähnelt dem Bezug im Fond des Taxis. Ein schwach gepunktetes, grauweißes Material.

Ein ungewöhnliches Sofa, sage ich.

Man sollte gar nicht darauf sitzen, sagt der Astronom. Ich nehme das Sofa sonst mit, weil ich es verkaufen will. Aber heute ist kein Markttag. Mich interessiert, ob es auf die Sonnenfinsternis reagiert. Ungegerbte Schafshaut, wissen sie.

Ich denke nach und mache dem Mann einen Vorschlag.

Da sie das Sofa verkaufen wollen, können sie es doch heute mir verkaufen.

Warum nicht, sagt der Mann. Ich bringe es ihnen nach Hause, wenn sie wollen. Aber erst nach der Sonnenfinsternis.

 

 

 

52. Ein Meister seines Fachs

 

 

Eines Tages rief er mich an. Die Telefonnummer hatte er noch aus der Zeit, als sie für den Sohn einen Klavierlehrer suchten. Der Junge war einige Male bei mir. Es blieb eine Episode.

Er rief mich an, weil er selbst Stunden nehmen wollte. Es war nicht einfach, einen Termin zu finden. Der Doktor musste viel operieren. Er war ein Spezialist für Gefäßchirurgie, behandelte Krampfadern und legte Zugänge für die Chemotherapie. Sein Wartezimmer war voller alter und krebskranker Menschen.

Als er am Klavier saß, fielen mir die weißen Hände auf. Ich überlegte, wie oft er sie im Laufe des Tages waschen musste. Die kurz geschnittenen Fingernägel waren auch weiß. Seine Haare wechselten gerade die Farbe. Er hatte das Alter, in dem ein Arzt begann, Klavierstunden zu nehmen. Ich vermutete, dass es an der Angst vor Demenz lag. Eine medizinische Studie empfahl das Klavierspielen gegen Vergesslichkeit. Der Doktor allerdings führte noch einen anderen Grund an. Er besaß einen prachtvollen  Flügel, den er für die Kinder gekauft hatte. Nun wollte er die Anschaffung nutzen, auch wenn er selten Zeit zum Üben fand. Ich quäle Sie, sagte er manchmal. Brauchen sie etwas zur Beruhigung?

Tatsächlich waren, wenn überhaupt, die Entschuldigungen anstrengend.  Auf der Straße stand eine seiner großen Limousinen. Ich hätte dieses Leben nicht eintauschen wollen. Wir verabredeten uns von Stunde zu Stunde, mit Rücksicht auf seine Dienste und Verpflichtungen.

Ich nähe den ganzen Tag im Kreis, sagte der Doktor einmal.

Der Kreis ist ein mythisches Symbol, Klavierspielen eher einer Spirale. Eine Bewegung ohne festgelegten Abschluss. Zu dieser Zeit suchte meine Frau einen Chirurgen auf, um sich den Port für die Chemotherapie legen zu lassen. Ein Jahr darauf starb sie. Ich redete mit dem Doktor nicht über solche Dinge. Wir übten Champs Elysees, weil er zu einem Kongress nach Paris wollte. Nachdem er zurück war, erbte er einen Wald. Ich schenkte ihm ein altes Jägerhandbuch, das ich auf dem Trödelmarkt gefunden hatte. Es sollte helfen, die Prüfungen für den Jagdschein abzulegen. Diese Prüfungen waren wichtig. Er bestand sie und verschickte Einladungen für ein Jagdwochenende. Wir sahen uns in der folgenden Woche.

Etwas kokett streckte er die Hände. Etwa so, als ob er eine Schwester mit den Handschuhen erwartete. Ich sah die Naht an der linken Hand. Sie war schmal und gerade, man hätte sie für ein Fadenstück halten können. Die Naht zog sich von der Daumenwurzel zum Handgelenk. Ich erkannte schwach die Punkte, an denen die Nadel durch die Haut gegangen war.

Bis auf den Knochen, sagte der Doktor. Beim Abschärfen.

Ich verstand, dass er mit dem Jagdmesser ein Tier zerlegen wollte.

Können Sie spielen?

Er setzte sich an das Klavier und spielte nicht schlechter als sonst. Für mich soll’s rote Rosen regnen. Ich hatte ein einfaches Arrangement geschrieben. Damit wollte er seine betagte Mutter an ihrem Geburtstag überraschen.

Sie müssen sich kein neues Geschenk überlegen, Doktor. Wer hat denn erste Hilfe geleistet?

Ich habe das selbst genäht. Gleich vor Ort.

Ohne Anästhesie?

Es musste schnell gehen.

Das ist heldenhaft, sagte ich.

Wir konnten noch vieles an seinem Klavierspiel verbessern. Als Chirurg war

er ein Meister.

 

 

Illustration: Ein Meister seines Fachs, © 2021 Reiner Lietz

 

53. Die Hochzeit

 

Die Frau gegenüber schreit ins Telefon, wer alles zur Hochzeit eingeladen werden soll. Es scheint schwierig, zwei Familien zusammen zu führen. Auf ihrem Schoß liegt eine billigbunte Zeitschrift, auf deren Titelblatt ein glamouröses Paar abgebildet ist. Die Frau schreit durch einen Stofffetzen, den sie hinter den Ohren befestigt hat. Tanten, Onkel, Cousins. Die verfeindeten Schwestern  dürfen nicht nebeneinandersitzen.

„Verstehst du?“

Ich bin eine Station zu weit gefahren, weil ich mich nicht losreißen konnte. Jetzt warte ich auf einen Zug der Gegenrichtung. Der Kioskbetreiber auf dem Bahnsteig hat einen Zeitungsständer neben die Verkaufsluke gestellt. Es ist schwer zu erkennen, wo sich der Mann befindet. Ich muss mich bücken und meinen Kopf in die Luke stecken. Faltig und abgerückt sitzt der Verkäufer im Hintergrund.

„Bitte“, sagt er.

„Entschuldigung“, sage ich.

Der Zeitungsständer ist drehbar. Ich lese die Schlagzeilen. Jemand kommt in einer leuchtenden Arbeitsjacke, mit Besen und langstieliger Kehrschaufel. Ich nehme eine Zeitung und lege abgezähltes Kleingeld in die Luke. Eine Verkehrsstörung wird durchgesagt.

Der Mann, der den Bahnsteig reinigt, hat einen Rollwagen dabei mit Hilfsmitteln für schwierige Stellen. Verschüttete Flüssigkeiten oder Zeug, das sich vorher in einem menschlichen Körper befand. Er streut langsam und sorgfältig Sand darüber. Die leeren Flaschen stellt er extra. Ich höre einen Klingelton, und der Mann redet vor sich hin, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

Mit der Zeitung stehe ich am Fuß der Treppe. Absätze klacken, eine Frau steigt herunter. Sie trägt ihre Tasche und einen mäßig gefüllten Kunststoffbeutel. Die Frau geht langsam. Sind es die Füße oder die Müdigkeit? Als sie kurz ins Stolpern kommt, spüre ich ein plötzliches Ziehen im Oberkörper.

„Mir ist beinahe das Herz stehen geblieben“, sage ich zu ihr.

„Ja“, erwidert sie mit einem unsicheren Lächeln.

„Das ist irgendwie,…, ja danke.  Ich,…, ich gebe ihnen etwas. Warten sie. Wir hatten doch gerade Feierabend, und dann,…, wir dürfen dann die übrig gebliebenen Fischbrötchen mitnehmen. Schauen sie.“

Sie holt ein locker verpacktes Brötchen aus dem Beutel.

„Nehmen sie das. Sie waren so,…, freundlich. Bitte.“

Ich nehme das Brötchen, weiß einen Moment lang nicht, was ich damit machen soll und lege es schließlich in die Zeitung, die ich mit mir herumtrage.

„Ich bin froh, dass nichts passiert ist“, sage ich.  „Vielen Dank. Eine richtige Überraschung.“

„Ja“, sagt sie. „Ich hoffe, dass…“

Sie geht weiter, den Bahnsteig entlang, ohne sich umzudrehen. Der einfahrende Zug nimmt sie mit. Ich gehe die Treppe hoch, weil ich mich entschlossen habe,  diese eine Station zurück zu laufen. Dabei kann ich das Brötchen in die Hand nehmen. Es ist eine ganz fremde Gegend. Ich suche einen Instrumentenbauer. Für heute habe ich mir nur vorgenommen, die Adresse zu finden. Es gibt geheimnisvolle Gewerbe, die sich gut verstecken. Zwischen den beiden Hälften des Brötchens befindet sich paniertes Fischfilet. Etwas Sauce und Salat. Es lässt sich gut essen im Gehen. Ein Vogel folgt mir, dem ich einige Krümel abgebe.

„Zeige mir den Weg“, sage ich zu dem Vogel und schlage die Richtung ein, in die er davon fliegt. Wegen eines Bauzaunes muss ich nach links ausweichen. Ich balanciere über holprige Bretter, den Blick nach unten. Als ich aufschaue, schwimmt mir ein Fisch entgegen. Tatsächlich stehe ich vor einem Aquarium, das sich in einem geschlossenen Seafood-Schnellrestaurant befindet. Die Auslagen sind leer. Der Fisch schaut mich an. Ich möchte nicht, dass er mich als Feind betrachtet.

„Wir haben eine gemeinsame Bekannte“, sage ich

Er schwimmt zurück. Ich gehe weiter auf dem Bretterpfad, der an der Baustelle vorbei führt. Dieser Pfad endet in einer Seitenstraße. Hier ist alles ruhig und normal. Nach einigen Metern befindet sich linkerhand das Schaufenster eines Ladens.  Auf weichem Stoff liegen Flöten und Klarinetten in verschiedenen Größen. „Historische Instrumente“ steht auf einem Schild. Darunter: „Termine nach Vereinbarung.“ Ich notiere die Telefonnummer und vertiefe mich in ein Gemälde, das den Hintergrund der Dekoration bildet.

König Friedrich II. spielt Flöte anlässlich einer Hochzeit bei Hofe.“

Ich interessiere mich für das Instrument. Es ist wahrscheinlich eine Traversflöte, die von seinem Lehrer Quantz gebaut wurde. Ich hole ein Etui aus der Innentasche meines Mantels und öffne es. Vor mir habe ich Kopf-, Mittel-, und Fußstück einer alten Querflöte, acht Grifflöcher ohne Klappen. Das Instrument ist aus dunklem Holz gearbeitet und ähnelt sehr der Flöte, die der König in seinen Händen hält.

Ich bekam meine Flöte von der alten Frau Fredersdorff. Das kann ich dem Instrumentenbauer berichten. Der Name wird ihn aufhorchen lassen. Ein Michael Gabriel Fredersdorff war des Königs Minister, Kammerdiener und Partner beim Spielen von Flötenduetten. Sie schliefen in benachbarten Zimmern mit Verbindungstür. Geboren wurde Michael Fredersdorff 1708 in dem gleichen vorpommerschen Kaff, in dem wir die alte Frau Fredersdorff 300 Jahre später beerdigten. Seitdem habe ich die Flöte. Die alte Frau hatte sie mir vermacht, weil sie mich seit der Kindheit kannte.

„Du bist doch Musiker geworden“, sagte sie, und es war ihr egal, dass ich trotzdem nicht die geringste Ahnung vom Flötenspiel hatte. Die eigentlichen Erben rückten die Flöte ohne weiteres heraus. Was war eine alte Flöte, mit der nicht einmal die Kinder etwas anfangen konnten.

 

Auf dem Rückweg  beginne ich zu glauben, dass die beiden Männer auf dem U-Bahnsteig die Ehemänner der verfeindeten Schwestern sein mussten. Sie gingen sich aus dem Weg, weil sie nicht über ihre Frauen reden wollten. Nun aber hatten sie die Einladung zu dieser Hochzeit bekommen. Eine Absage war gar nicht möglich. Ein hoher Gast hatte sich angekündigt, und es war zu erwarten, dass dieser Gast einen Beitrag zur allgemeinen Unterhaltung leisten würde. Vielleicht konnte man ein Autogramm bekommen.

Fredersdorff hatte das organisiert. Sie spielten zu dritt als Kinder und hänselten den hübschen Fredersdorff wer weiß wie oft, wenn er auf der Flöte übte. Jetzt lag er beim König im Schloss. Die Weiber waren eifersüchtig.

Die Fischverkäuferin würde es gerade noch schaffen, sich zu Hause umzuziehen. Am Abend steht sie hinter dem Buffet und nimmt mit der Zange Austernhälften vom Eis. Sie frittiert langschwänzige Langusten und dünstet Filets vom Havelzander. Fredersdorff leitet die Kapelle. Später kommt ein Solist. Erst einmal spielen sie Tischmusik. Die Gesellschaft sitzt an einer U-förmigen Tafel. Die verfeindeten Schwestern wenden sich die Rücken zu. Darüber blicken die Männer  aneinander vorbei.

Ist die Vergangenheit eine Wiederholung der Gegenwart? Etwas Gegenwärtiges landet im Gewesenen. Der Instrumentenbauer beim König: Er hört, wie die beiden ein Duett spielen, Fredersdorff und die Majestät. Zu zweit, vorm Schlafengehen. Mit den Flöten könnte man einiges machen, Klappen auf den Grifflöchern würden einen besseren Ton ermöglichen. Er hat das schon ausprobiert. Wenn er Fredersdorff überzeugt, hat er den König überzeugt.

Das Instrument in meinem Mantel ist klappenlos. Mag sein, dass die Flöte bei Fredersdorff blieb, nachdem sich der König für ein modernes Instrument entschieden hatte. Der Kiosk auf dem Bahnsteig ist geschlossen. Das Reinigungszeug ist verschwunden. Ich setze mich auf eine sauber abgewischte Bank. Sie sind unterwegs zur vergangenen Hochzeit. Wie mag die Flöte zur alten Frau Fredersdorff gekommen sein? Der Kämmerer Fredersdorff hatte keine Kinder. Ich sollte mich erkundigen, ob es Geschwister gab, die geblieben waren im Ort der Kindheit. So käme der Nachlass zurück in die kleine Stadt. In diesen alten Zeiten wurde nie etwas weggeworfen. Entweder es war noch zu etwas gut oder es taugte für den Misthaufen. Erinnerung, Andenken. Nie verwendetes Spielzeug. Gegenwart der Vergangenheit oder umgekehrt.

Es klackt auf der Treppe. Die besetzten Schuhe gehören dem König. Er schreitet herab, im königlichen Rock, mit dem königlichen Hut. Seine Schritte sind sicher. Er schaut kurz auf die Zuganzeige und setzt sich zu mir auf die Bank.

„Majestät“, sage ich.

„Ich mische mich gern unters Volk.“

„Hat dich eine Agentur gebucht?“

Ich frage frech, als ob ich im König einen Kollegen vermute. Einen verkleideten Musiker.

„Ich habe kein Auto“, erklärt er mir: „Man weiß auch nie, ob es eine Garderobe gibt.“

„Worum geht es heute?“

„Eine Hochzeit ist das wohl. Ich bin eben der König. Ehrengast. Ein Ständchen auf der Flöte für das junge Paar. Das Instrument passt in die Jacke.“

Er klopft mit den Händen auf seinen Oberkörper.

„Heute Abend soll eine Kapelle vor Ort sein. Kein Halb-Playback. Die Agentur hat sich Noten schicken lassen.“

“Schau mal.“

Ich hole das Etui aus dem Mantel.

Er betrachtet die drei Teile im Futteral.

„Das sieht richtig alt aus. Darf ich?“

Er nimmt die Teile heraus und setzt sie zusammen. Sehr langsam macht er das, die Fingerspitzen am Holz. Er schaut auch hinein, bevor er das Kopfstück aufsetzt.

„Das Holz hatte keine Risse, glaube ich. Ich probiere mal.“

Er spielt ein Menuett von Bach. Eine Bahn kommt und fährt wieder ab.

„Das ist ein schönes Stück. Ich fühle mich entschieden königlicher. Vielen Dank, mein Freund.“

Nun steigt er in den haltenden Zug, die Fahrgäste schauen auf. Ich muss in  die Gegenrichtung und trockne die Flöte mit einem Stofftuch.

Der König, denke ich, spielt einen Musiker, der den König spielt. Von solchen Kunststücken bin ich immer beeindruckt. 

 

 

54. Auf der Ladefläche

 

Der Mann, der neben dem Lokaleingang stehen bleibt, sieht nicht nur aus wie ein Lehrer. Er arbeitet für einen Verein, der Nachhilfeunterricht anbietet. Mathematik und Physik, hoffnungslose Fälle. Verständnisvolle Eltern hinterlassen ihm gelegentlich einen Briefumschlag. Weniger verständnisvolle Eltern drohen dem Verein mit Kündigung.

Der Mann trägt einen Straßenanzug, Brille und Aktentasche. Ein Hemd, an das sich niemand erinnern würde. Er hat dieses Hemd schon recht lange. In meinem Alter, denkt er, kauft man neue Hemden erst, wenn die alten fadenscheinig werden. Sein Hemdenvorrat reicht für eine Woche. Er macht die Wäsche allein. Die Hemden sehen sich ähnlich und passen zu allen fünf Anzügen, die in seinem Schrank hängen.

Der Mann ist stehen geblieben, weil vor dem Lokal ein Lieferwagen parkt. Der Wagen steht auf der Straße, natürlich hätte der Mann weitergehen können. Es interessiert ihn aber, wie diese Lieferung abläuft. Das ist eine Schwäche von ihm. Der Fahrer hat bereits die Seitenklappe des Wagens heruntergelassen. Die Ladefläche des LKW ist vollgestapelt mit Getränkekästen. Der Fahrer nimmt einige Kästen herunter, um auf der Ladefläche Bewegungsfreiheit zu haben. Er schaut auf einen Zettel, der in seiner Jackentasche steckte.

Wir sind immer zu zweit gefahren, erinnert sich der Lehrer. Es ist lange her. Vor Beginn seines Studiums und in den Semesterferien hatte er in einer Brauerei gearbeitet. Als Beifahrer: Zuständig für die Abrechnung und das, was jetzt der Fahrer vorhat.

Der Fahrer nimmt die Sackkarre aus der Halterung. Er kippt einen der Getränkestapel an und schiebt die ungefähr kastengroße Transportplatte der Karre unter den Stapel. Er muss jetzt Karre und den Stapel aus sechs Kästen zu sich heran kippen, dem ganzen Konstrukt dabei aber einen Impuls in die gewünschte Bewegungsrichtung verleihen. Es wirken entgegengesetzte Kräfte. Der Stapel ist instabil. Eine Hand hält die Kästen, die andere die Karre. Beide Hände schieben. Der Körper des Transporteurs hält den Stapel, sich selbst und die Karre in Balance. Er steuert die Bewegungsenergie dieser Einheit aus Mensch, fester und flüssiger Materie.

Der Fahrer blickt kurz zu dem Beobachter seiner Arbeit.

Ich will ja auch rein, sagt der Lehrer.

Er folgt dem Transport und befindet sich im Halbdunkel des Lokals.

Wir haben geöffnet, sagt eine weibliche Stimme.

Die Frau steht rechts hinter einem hölzernen Tresen. Der Lehrer findet einen Platz, von dem aus er die Straße und das Innere der Kneipe übersehen kann. Er bestellt ein Glas Bier. Seit Jahren hat er um diese Tageszeit kein Bier mehr getrunken. Damals in der Brauerei war das anders. Er nimmt den Geruch von Holz wahr, in das viel Flüssigkeit gesickert ist. Dort hinten muss die Kellertreppe sein. Licht scheint aus einer geöffneten Tür.

Der Fahrer bringt Leergut mit auf dem Rückweg. Der Stapel klirrt auf der Treppe.

Kraft ist an der Karre nur nötig, um sie in Bewegung zu setzen. Der Rest ist Gefühl. Gefühl für die Höhe der Stufen. Der Transporteur kontrolliert wenige Punkte. Die Punkte kontrollieren den Rest.

Draußen schmeißt der Fahrer die leeren Kästen auf die Ladefläche und steigt hinterher.

 

Die Ladefläche ist ein rechteckiges Schachbrett. Der Lehrer hat auf den unsichtbaren Feldern gestanden, bevor er Lehrer wurde. Damals kannte er die Anzahl der Längst- und Querreihen. Der Truck stand neben dem Brauereigebäude. Aus dem Keller ragte ein Transportband bis zur Höhe der Ladefläche. Unten schmiss der Kollege die Bestellungen auf das Band. Pilsner, Helles, Cola, Brause, Wasser. Bock und Schwarzes. Fünfhundert Kästen und noch einmal fünfhundert, wenn sie mit Hänger fuhren. Oben stand er, die Lieferliste aus der Expedition im Kopf. Es war morgens um fünf. Sie hatten eine lange Tour vor sich. Kleine Kneipen, Kellertreppen. Verkaufsstellen. Mal vorne rein, mal hinten ran. Ein Bier bei der Abrechnung. Unterwegs nahm der Kollege die Kästen vom Wagen. Der erwartete, dass er nicht bei jedem Kunden die ganze Ladung umräumen musste. 

Warum bleibst du nicht und machst den Schein für den Truck, fragte der Fahrer in der Kabine. Jetzt, wo du eingearbeitet bist. Bezahlt die Brauerei. Scheiß auf das Studium.

 

Das ist lange her. Er hat das Studium gemacht und Schach gespielt in einem Verein. Beim langen Nachdenken verschwamm ihm das Schachbrett. Es wurde zur Ladefläche, die Figuren waren Kästen mit bunten Etiketten. Erstaunt betrachtete er seinen Gegner. Der sah nichts.

Manche sehen nichts und manche sehen etwas anderes. Seine Frau sah ihn niemals als Lehrer. So denkt er: Ich war der Junge geblieben, der in der Expedition die Bestelllisten abgeholt hat. Kurz vor fünf in aller Frühe. Die alten Fahrer maulten nicht mehr und die Arbeit verschaffte mir einen anderen Gang. Jeden Tag tausend Kästen rauf und runter. Ich war schüchtern und sie saß hinter ihrem Schreibtisch. Jemand verriet mir, dass sie manchmal die Schicht tauschte für diesen flüchtigen Morgengruß. Der Kollege sagte: Du bist blöd, wenn du jetzt nichts machst.

 

Er machte etwas für eine Ehe, die weniger unglücklich wurde als andere. Der Tod ist keine Erlösung. Eher eine Tour, die nicht mehr gefahren wird. Die Aufgaben, die er seinen Schülern stellte, waren Transport-  oder Verpackungsprobleme. Er stellte sie auf die Ladefläche. Er schickte sie los, aber sie begriffen das nicht.

Die Frau hinterm Tresen zapft ein neues Glas an. Das leise Klirren von der Kellertreppe schlägt plötzlich um. Der Krach der rollenden und splitternden Flaschen hallt von den Wänden.

Polterabend, sagt die Frau. Ich hol mal den Besen.

Der Fahrer erscheint in der Kellertür.

Scheiße. Bin ausgerutscht.

Diese Treppen sind unberechenbar. Der Lehrer weiß, dass er die wichtigen Dinge in der Brauerei lernte. Später kam nicht viel dazu. Das macht ihn nicht traurig. Er findet, dass er alles gehabt hat.

 

 

 

 

55. Cori

 

Ich bemerkte den Blick, mit dem sie kurz das Publikum ansah. Sie wusste, was sie bedeutete. Den Eltern, dem Lehrer und der Schule. Voller Ernst bemühte sich das Mädchen, niemanden zu enttäuschen.

Corinna verbeugte sich nach dem Vortrag. Die eine Hand hielt die Violine, die andere den Bogen. Sie hatte ihr Programm absolviert: Zwei Stücke, die als sehr anspruchsvoll für diese Altersgruppe galten. Am Flügel begleitete die Frau des Geigenlehrers.

Im Rathaussaal gab es starken Applaus. Licht blitzte über die historischen Wandgemälde. Die Mitglieder der Jury nickten sich zu. Ich wehrte mich gegen leichte Übelkeit: Eine physische Beklemmung, wenn Kinder um die Wette Musikstücke aufführten. Zu diesem Ausscheid war ich gegangen, weil ich Corinna sehen wollte. Vor zwei Jahren kam sie gelegentlich in meinen Unterrichtsraum. Nach ihrem Geigenunterricht wollte sie Klavier spielen. Die Eltern buchten ein paar Stunden, sie planten ohnehin einen Schulwechsel. Cori war fünf Jahre alt. Sie kam in den Raum und lachte. So blieb es.

 

Ich war, bevor ich an diesem Sonntag zum Konzert ging, auf dem Markt gewesen. Manchmal fand ich dort alte Noten oder eine Schelllackplatte mit legendären Aufnahmen: Caruso, Furtwängler, Rubinstein. Ich wollte bezahlen und fühlte mein Portemonnaie nicht mehr. Mir wurde sofort klar, dass es meine eigene Schuld war. Als ich mich umdrehte, sah ich den Jungen in sicherer Entfernung warten.

Hör zu, sagte ich. Ich habe mein Portemonnaie verloren. Zwanzig Euro, wenn du es gefunden hast.

Der Junge schüttelte den Kopf. Ich ging auf ihn zu. Der Junge lief zum Stand seines Vaters.

Ich ging hinterher und redete mit dem Mann.

Mein Portemonnaie ist weg. Wenn der Junge etwas hat, bekommt er Finderlohn.

Mein Sohn hat nichts gefunden, sagte der Mann.

Es war, wie gesagt, meine eigene Schuld. Ich fuhr zum Konzert ohne Geld, Ausweis und Fahrkarte.

 

Cori weiß und sie weiß nicht. Auf den Jungen vorhin mag das auch zutreffen. Es gibt viele Altersstufen, nicht nur die U 10. Die Älteren werden nicht schlechter. Wenn du einmal anfängst, um die Wette zu spielen, wirst du früher oder später verlieren. Du wirst dein Instrument verlieren. Spielst du noch Klavier?

Ich hätte sie das gern gefragt. Nach dem Konzert gingen viele Menschen zu Cori. Einige wollten ein Autogramm. Die Kleine wird bestimmt ein Star, sagte eine Besucherin zu ihrem Begleiter. Die Mitglieder der Jury redeten mit den Eltern.

 

Ich ging nach Hause, ein langer Spaziergang lag vor mir. Ohne Geld, ohne Fahrkarte. Soll der Mann doch besser aufpassen, wird der Vater zum Sohn gesagt haben. Die Bahnhöfe der Stadtbahn fielen ins Dunkel. Blumenverkäufer winkten mit den Sträußen, der letzte Versuch, das Tagesgeschäft zu retten.

Corinna dachte sich ihre Stücke selbst aus.  Was anderen Kindern unfrohe Mühsal war, brachte sie zum Lachen: Sie lachte, wenn sie spielte und sie lachte, wenn sie sich verspielte. Ich musste nicht viel sagen. In diesen Wochen damals freute ich mich auf die Stunden, in denen sie zu mir kam. Sie füllte den Raum und den Tag. Die Welt war sehr heiter.

 

Eine Blumenhändlerin schenkte mir einen Strauß. Nehmen sie das mit für ihre Frau.

Vorhin hätte ich ihn dir auf die Bühne geworfen, Cori.

Wer etwas verliert, hat nicht gut aufgepasst.

 

 

 

56. Aurora oder Die Beute

 

Der Hauptmann hat befohlen, dass Artur am Drill teilnimmt, wenn das Nachladen der Gewehre geübt wird. Sie schießen in zwei Gruppen jeweils abwechselnd Salven aus zehn Läufen. Der Pulverdampf liegt über der Wiese hinter dem Quartier. Die Männer stehen in Doppelreihe, ihnen gegenüber steht der Feind, gedeckt durch hochgewachsene Heidesträucher. Sollte er heraustreten, wird er dasselbe wie sie machen. Schießen und Nachladen. Die Treffgenauigkeit der Musketen ist nicht besonders hoch. Deswegen schießen sie in zwei Gruppen. Einer wird irgendwen treffen, wenn zehn schießen. Die anderen stopfen Pulver in den Lauf, lassen eine Kugel hinterher fallen, legen noch ein wenig Pulver auf die Zündpfanne. Drüben steht der Feind und lädt ebenfalls nach. So ist es in einer offenen Feldschlacht. Kugeln fliegen, und wenn eine trifft, dann besser gleich ins Herz.

Die Posten bringen zwei Weiber auf den Hof, eine zeternde Alte und eine junge Frau, deren zerlumptes Kleid keineswegs abschreckend wirkt.

Weiber bringen Unglück, sagt der Hauptmann.

Wir verstehen ihre Sprache nicht, sagt einer der Posten.

Rogowski! schreit der Hauptmann.

Artur legt das Gewehr auf eine Astgabel, die im Boden steckt.

Die Alte kreischt in dem wilden polnischen Dialekt, den er in seiner Kindheit von einer herumziehenden Wahrsagerin gehört hat. Artur übersetzt. Die beiden Frauen sind aus der Stadt gejagt worden, die seit Wochen belagert wird.

Irgendwer hat sein Mütchen an den Frauen gekühlt. Sie sind vogelfrei und hungrig. Die Landsknechte starren auf die junge Frau. Es ist eine heikle Situation.

Waffenreinigen! schreit der Hauptmann. Ich will blanke Läufe sehen und keine blanken Schwänze!  Wenn einer durchdreht, lass ich ihn Spießruten laufen!  

Er geht hinüber und vergewissert sich, dass alle putzen wie die Teufel.

Wir müssen mit den Weibern reden, sagt er zu Artur. Weil sie gerade aus Stettin kommen.

Sie gehen in den Stall, in dem die Kuh steht, die nicht geschlachtet werden darf, solange sie Milch gibt. Der Hauptmann beginnt seine Befragung, und wenn Artur die Antworten der Frauen nicht richtig versteht, ergänzt er sie eigenmächtig.

Die Stadt wird immer noch von der Seeseite versorgt. Man kann sie nicht aushungern. Viele Soldaten, Pferde, Kanonen, Predigten, Saufereien. Dreck und Gestank, der allen egal ist. Hier im Stall ist er auch egal.

Warum soll ich die Weiber nicht behandeln wie Kriegsbeute? fragt der Hauptmann die Kuh.

Artur weiß, was er meint. Es gibt hier weit und breit keine Marketenderin. Kein Weib, das für ein Silberstück die Röcke hebt. Die Männer sind unruhig.

Kannst du zaubern? fragt Artur die Alte. Verhexen oder Besprechen? Sie wollen sich deine Tochter nehmen.

Die Alte schaut zu dem Mädchen und dem Hauptmann und der Kuh. Gib mir etwas aus Eisen, flüstert sie. Ich lege Hand darauf, dann fliegen Kugeln vorbei.

Das klingt brauchbar.

Herr Hauptmann, meldet sich Artur.  Die Alte erzählt von einem Zauber, den sie beherrscht.

Ach was.

Es ist eine Art umgekehrter Magnetismus. Die Männer tragen doch meistens ihre Blechlöffel vor der Brust. Die Alte legt eine Hand auf den Löffel und überträgt ihre abstoßende Kraft. Der Löffel stößt dann die Kugeln ab. Sie fliegen vorbei.

Wenn das kein fauler Zauber ist, nörgelt der Hauptmann.

An der Universität habe ich von solchen Dingen gehört, beharrt Artur.

Na gut. Der Hauptmann grinst. Dann probieren wir es aus. Soll sich die Alte selbst beschützen lassen.

Er holt seinen Löffel aus der Tasche und hält ihn der Alten entgegen.

Na los! Mach deine Sprüche.

Die Alte wartet, bis Artur genickt hat. Das Muhen der Kuh übertönt ihr Gemurmel. Sie hat die dünn geschmiedete Laffe des Löffels zwischen ihre schmutzigen Handflächen genommen. Der Hauptmann verzieht das Gesicht.

Fertig, sagt die Frau. Fliegt alles vorbei jetzt.

Das werden wir sehen, sagt der Hauptmann.

Er zerrt am Kleid der Alten und stopft ihr den Löffel in den Halsausschnitt.

Ab zum Schießplatz! Pfui Teufel, ist das Weib dreckig.

Die Alte folgt Artur. Der Hauptmann ist schneller bei der Mannschaft.

Fertigmachen zur Exekution!

Die Männer sind froh, dass sie nicht mehr putzen müssen. Sie laden ihre Waffen.

Der Hauptmann geht mit der Alten und Artur ins Feld. Etwa dreißig Schritt weiter bleibt er stehen.

Du bleibst hier, sagt er zu der Alten. Schau dort rüber. Die Männer werden auf dich schießen. Mein Löffel wird dich beschützen.

Artur übersetzt und die Frau zuckt mit den Schultern. Auf dem Rückweg sieht Artur die Tochter, abseits und reglos wie eine Pflanze. Sie muss denken, dass ihre Mutter erschossen wird. Artur denkt das auch. Den Rest will er sich nicht vorstellen. Artur gönnt den Kameraden das Mädchen nicht.

Die Hände sind ruhig beim Anlegen. Neunzehn Paar Hände, gedrillt auf dieselben Bewegungen. Nach dem Feuerbefehl ziehen sie gleichmütig die Abzüge durch.

Gelächter dringt in die schmerzenden Ohren. Es kommt aus der Pulverwolke.

Teufel aber auch, sagt der Hauptmann.

Die Alte kommt langsam zurückgeschlurft.

Die Männer starren sie an, wie sie vorhin die junge Frau angestarrt haben. In der ausgestreckten Hand hält die Alte den Löffel. Den gibt sie dem Hauptmann wieder. Du dreckiger Hurensohn, sagt sie dabei, aber Artur übersetzt etwas anderes.

 

 

 

 

Die Firma Apple Computer wurde 1976 von Steve Jobs, Steve Wozniak und Ron Wayne gegründet. Sehr früh trennte sich der ältere Ron Wayne für 800 Dollar von seinen Anteilen. Die Haftpflicht machte ihm Sorgen. Er soll danach unter anderem ein Münz- und Briefmarkengeschäft in Pahrump/ Nevada betrieben haben.

 

57. Der Apfel und die Sünde

 

Das Bemerkenswerteste, was sich über Pahrump/Nevada feststellen ließ, war die legale Prostitution in der Stadt.

Ron mietete ein flaches, nahezu quadratisches Haus. Die beiden vorderen Räume nutzte er fürs Geschäft. Hinten waren ein Bad und eine Wohnküche eingerichtet.

In dieser Stadt am Rand der Wüste konnte sich niemand verirren. Die Straßen und Avenues schnitten sich rechtwinklig. An den Wochenenden kam reichlich Kundschaft und interessierte sich für Sex und den Laden von Ron. Tatsächlich mussten die meisten der Kunden ihr Interesse an den Münzen und Marken nicht heucheln. Sie landeten bei Ron, vor oder nach ihren Abenteuern. Das Entgegenkommen der Frauen bot keinen Platz für ihre Gefühle. Die Münzen ließen sich zärtlich zwischen die Finger nehmen.

Ein oder zwei Männer saßen meistens auf dem Ecksofa, gegenüber vom Verkaufstisch. Sie blätterten in Alben und tranken Coke oder Bier. Ron hatte genug vorrätig. Er betrachtete die Autos auf dem Parkplatz vor seinem Haus. Die Sonne beschien ihre Dächer. Ron redete manchmal über Klimaanlagen und andere Dinge, mit denen er sich früher beschäftigt hatte. Nach einigen Jahren kamen seine Kunden auf die Vergangenheit zu sprechen.

Weißt du, wie weit Steve & Steve jetzt sind?

Diese Frage war rhetorisch. Der angebissene Apfel war überall zu sehen. Ron hatte das Logo gezeichnet. Er schrieb das Benutzerhandbuch für den ersten Personal-Computer der Welt. Eine verdorrte Palme stand jenseits des Parkplatzes. Sie stand bereits in der Wüste und trug keine Früchte. Ein Kunde hatte ihm vorgerechnet, wie viel seine Anteile von damals heute wert waren.

Ich wäre der reichste Mann auf dem Friedhof, sagte Ron.

Nach einer Weile: Lass es gut sein, Georg.

Während sie redeten, blätterte Georg in einem dieser Vordruckbücher, wie sie in Europa in den 1930-ger Jahren für Briefmarken hergestellt wurden. Die Sammler befestigten mit einem Klebefalz die Marke an dem dafür vorgesehenen Platz. Eine Menge dieser Alben kam 1945 nach Amerika. Die GI‘s hatten sie gefunden bei ihren Eroberungen oder eingetauscht gegen ein paar Zigaretten. Georg mochte die Alben. Er sprach auch viel über den angebissenen Apfel.

Wie war es bei den Mädchen, fragte Ron.

Es ist immer die Gleiche, sagte Georg. Eigentlich kann ich auch zu Hause bleiben. Weißt du: Steve & Steve werden dir den Laden ruinieren. Ich sehe das voraus.

Lass es gut sein, Georg. . 

 

Eric Clapton landete nach dem traurigen Unfall seines Jungen bei ihm. Er bestellte Grüße von Steve & Steve. Ron gab ihm kartonweise Briefmarken zum Sortieren. Eric saß meistens hinten und versuchte, nicht verrückt zu werden. Kam er nach vorn und legte etwas hinter den Tresen, rieben sich die Kunden die Augen. Nach einigen Wochen holte Eric seine Gitarre. Ron hörte die leise Stimme und gezupfte Akkorde. Tears in heaven. Er stapelte Taler, alte deutsche Münzen. Die Welt blieb sich gleich, auch wenn sie ständig neu erfunden wurde.

Der Tod konnte durchaus ein Freund sein. Ron klapperte die Veteranenheime in der Umgebung ab. Herrenlose Hinterlassenschaften. Alte Soldaten, die noch lebten, wollten verkaufen, was sich verkaufen ließ. Der Einkauf war so günstig, dass Ron seinen Laden halten konnte. Er fuhr zu Beerdigungen und sprach manchmal ein paar Worte. Er sagte dann, dass die Veteranen Amerika groß gemacht hätten. Er dachte: Steve & Steve machen es noch größer. So groß, bis es vielleicht platzt und ausläuft und sich über die Welt legt wie Tortenguss.

 

Cynthia kam in den Laden. Sie stellte ein Holzgehäuse mit Tastatur auf den Tresen.

Ich weiß, dass du dich damit auskennst. Ein Kunde hat’s mir in Zahlung gegeben.

Und?

Hör zu, wir sind Nachbarn. Leben doch von der derselben Kundschaft. Der Mann hatte einen Herzinfarkt. Konnte nicht mehr bezahlen. Alles, was ich von ihm habe, ist dieses Ding. Will’s versilbern.

Ron betrachtet den Computer, für den er einmal das Benutzerbuch geschrieben hatte.

Ich handele mit Münzen und Briefmarken. Tut mir Leid.

Georg saß auf dem Sofa und hatte mitgehört.

Wie viel ist dir der Kunde schuldig geblieben?

200 Dollar.

Georg grinste. Er kannte die Tarife.

Na gut. Ich kaufe das Gerät.

Es war ein schneller Deal. Cynthia ging und Georg fuhr nach Hause. Keiner konnte wissen, dass er den Computer einmal für 1,5 Millionen Dollar weiterverkaufen würde.

 

Als Ron von dieser Versteigerung las, hatte er sein Geschäft bereits verkleinert. In einem der vorderen Räume arbeitete eine Prostituierte. Im anderen saß Ron gelegentlich vor einem Bildschirm. Ab und zu erhielt er eine Bestellung. Einmal in der Woche kam das Mädchen rüber und verpackte die bestellten Münzen und Briefmarken in Schmuck-oder Kosmetikschatullen. Ron sah ihr gern dabei zu. Sie gingen spazieren, ein paar Schritte in die Wüste und zurück. 

Stell dir vor, erzählte Ron: Vor vielen Jahren kam eine Kollegin von dir in meinen Laden und hat für 200 Dollar einen Computer an einen Kunden verschachert. Ich wollte ihn nicht haben. Genau dieser Computer wurde gestern für 1.5 Millionen Dollar versteigert.

Das ist eine seltsame Geschichte, sagte das Mädchen.

 

 

 

 

58. Einer von beiden

 

Die Nähmaschine steht am Fenster, das Licht fällt von links auf den Arbeitstisch. Irene überblickt den ganzen Raum. Das war wichtig, als die Zwillinge kleiner waren. Die beiden konnten sich schon im Krabbelalter nicht ausstehen. Edu versuchte, das Spielzeug seines Bruders zu erobern. Carsten wehrte sich mit lautem Geheul. Später, als sie sprechen konnten, ging das Geheul über in bittere Anklagen. Carsten versuchte nie selbst, etwas zurück zu bekommen. Er wandte sich mit verschnaubter Nase an Irene. Irene ging in die Hocke und diskutierte mit Eduard. Während dessen suchte sie nach einem Taschentuch. Carsten schrie, wenn man versuchte, ihm die Nase zu putzen. Dabei vergaß er sein Spielzeug.

Irene liebt ihre Enkelkinder.

Sie akzeptiert die Lösung, die in der Familie beschlossen wurde. Die Zwillinge mussten getrennt werden. Sie sind in ihrem vierzehnten Lebensjahr und kräftig genug, sich gegenseitig zu verletzen. Ihr Geschrei ist eine Zumutung, auch wenn Irene dieser Meinung heftig widersprach. Wenigstens wohnt Carsten bei ihr. Irenes Mann hat ein Zimmer in der Wohnung renoviert. Eduard pendelt zwischen seinen Eltern. Sein Vater ist Irenes Sohn. Sie hält ihn für einen Trottel, der einer Frau verfallen ist, die nichts mehr von ihm wissen will. Seine Leistung sind die Zwillinge. Dagegen lässt sich nichts sagen.

Irenes Mann ist tagsüber in der Werkstatt. Sie fallen sich nicht auf die Nerven. Irene sitzt an der Nähmaschine, der Fernseher läuft. Carsten kommt ins Zimmer. Er trägt Unterhosen und ein T-Shirt und hat einen eigentümlich wiegenden Gang. In den Händen hält er eine Hose.

Ich muss noch etwas ändern. Lässt du mich an die Maschine?

Gern. Irene räumt ihren Platz. Vor einigen Monaten begann Carsten, sich für das Nähen zu interessieren. Irene zeigte ihm einiges. Sie beobachtet den Jungen bei der Arbeit an den aufgesetzten Taschen.

Carsten probiert die Hose gleich an.

Die sitzt. Sie sagen es beide.

Carsten versucht, über die Schulter nach unten zu schauen. Er läuft in den Flur und zieht flache Schuhe an.

Fällt am Fuß genau richtig, freut sich Irene.

Ich brauche keinen Gürtel, stellt Carsten fest. Er geht im Zimmer hin und her. Der Leinenstoff ist gegen die gängige Mode geschneidert.

Irene bemerkt die Konturen des zum Jüngling gewordenen Kindes. Carsten hat für seine erste selbstgenähte Hose ein altes Schnittmuster verwendet.  Seine Oma fühlt sich in ihre Jugendzeit versetzt.

Ich gebe dir einen Gürtel von mir. Nur als Schmuck, verstehst du?

Hol mal, sagt Carsten.

Der Gürtel gefällt ihm.

Strass und Glitter. Schimmerndes Metall.

Zeigst du mir deinen Kleiderschrank? fragt Carsten. Die alten Klamotten. Ich kann mir Hemden aus den Kleidern machen.

Irene nickt. Sie weiß, dass Carsten schreit und weint, wenn er etwas nicht bekommt.

Wow.

Carsten hebt die Arme und legt die Handflächen über dem Kopf zusammen. Er steht da wie ein Ballettänzer auf der Bühne. Irene hat niemals ein Ballett gesehen, trotzdem denkt sie so. Ein Jüngling, ein Prinz in enggeschnittenen Hosen. Bald wird er Hemden aus Brokat tragen. Ein Medaillon braucht er noch. Ein Medaillon an einer Halskette mit einem Bild darin. Eines meiner Jugendfotos, denkt Irene. Für einen Moment hat sie Carstens Bruder vergessen.

 

 

59. Bluhme & Damerow

 

Sie sind immer zusammen unterwegs. An den Wochenenden findest du sie morgens am Bahnhof, noch vor der offiziellen Öffnungszeit des Marktes. Sie drehen ihre Runde und ziehen weiter. Zur Rennbahn oder zum Rathaus. Überall dort, wo Händler herumstehen. Jetzt verrate ich dir etwas, was ohnehin kein Geheimnis ist: Die beiden sind Bullen. Falls man sie noch nicht rausgeschmissen hat. Kripo P., irgendein Dezernat. Betrug oder Diebstahl oder beides.

Bluhme ist der Kleinere. Bluhme mit „h“, falls du ihm schreiben willst. Außerdem erkennst du ihn am Schnauzbart. In den letzten Jahren ist Bluhme dicker geworden und Damerow dünner. Den siehst du kaum noch. Das macht der Kummer.

Sie sind auf der Jagd. Ist so eine Polizistenkrankheit, nicht wahr. Die einen suchen einen Mörder und die anderen irgendein verschwundenes Zeug. Das Blöde an der Sache ist nur, dass Damerow es selbst verschusselt hat. Kommt später. Erst mal will ich dir sagen: Die Zwei kennen sich wirklich aus. Am Anfang hatten sie eine Arbeitsteilung. Einer machte Münzen, der andere Zinn, der erste Gemälde, der zweite Briefmarken, und so weiter. Im Laufe der Jahre war alles Eins geworden. Frag Bluhme & Damerow, sagen die Händler, als ob sie von siamesischen Zwillingen sprechen. Die beiden geben manchmal Tipps: Die Fahndungsliste, verstehst du? Sie können dir sagen, ob das Eiserne Kreuz von deinem Opa original ist.

 

Im Laufe der Jahre sind sie selbst zu Händlern geworden. Händler und Sammler. Also alles: Händler, Sammler und Bullen. Die Wohnungen voll, die Keller voll. Die Asservatenkammer wohl auch. Jetzt kommt die Geschichte mit der Zigarettenspitze. Das Teil selbst spielt gar keine Rolle. Audrey Hepburn hatte sie verwendet, bis sie an Lungenkrebs gestorben ist. Es gab ein Foto, Audrey mit ihrer Zigarettenspitze, und dieses Bild sollte auf einer Briefmarke der Deutschen Post erscheinen. 2001 war das.

Die Marken waren schon gedruckt, da kam ein Auslieferungsverbot. Audreys Erben hatten erwirkt, dass das Foto nicht gezeigt werden durfte. Wegen der Werbung fürs Rauchen. Die Marken wurden eingestampft. Aber irgendwas rutscht immer durch.

Einige Jahre später tauchte eine Marke mit dem Bild bei einer Auktion auf und erzielte einen sechsstelligen Preis. Damerow sah das und begriff, dass er die Marke einmal besessen hatte. Jedenfalls eine aus dem eingestampften Druck. Er ahnte damals nicht, dass die Audrey-Hepburn-Marke niemals in Umlauf war. Nicht offiziell. In einem Riesenramschpaket hatte er sein Stück verkauft. Seitdem suchen Bluhme & Damerow. Alle anderen, die die Geschichte kennen, natürlich auch. Es tut weh, wenn du das Ding schon einmal hattest.

 

Mein Standnachbar hatte mir diese Geschichte erzählt. Ich erkannte Bluhme und Damerow von weitem. Damerow sah mit der Lupe in der Hand aus wie Sherlock Holmes in einer frühen Verfilmung. Sie schlenderten heran und beäugten die Ware. Ich hatte Bücher und Schelllackplatten auf dem Tisch. Einige Platten befanden sich in einem alten Lederalbum.

Tolles Leder, sagte Bluhme. Wirklich gute Arbeit. Gibt es heute nicht mehr.

Ich verkaufe es mit den Platten, erklärte ich. Wer alle nimmt, hat das Album dazu.

Na ja, sagte Damerow.

Briefmarken? fragte Bluhme.

Nein, sagte ich. Was du siehst.

Und zu Hause?

Ich wollte sofort verneinen, aber das wäre nicht ganz richtig gewesen.

Ich hebe ein paar Alben von meinem toten Onkel auf. Der hatte immer die neuen Sammlermarken zugeschickt bekommen. Von der Bundespost. Außerdem riss er aus jedem Briefumschlag die Marke raus.

Das hast du noch? fragte Bluhme.

Ich schmeiß es aus Pietät nicht weg. Ist doch wertloses Zeug.

Na ja, sagte Damerow.

Er inspizierte mit der Lupe einen Buchdeckel. Bluhme atmete tief durch.

Wann ist dein Onkel denn gestorben?

Ja wann? Muss zwanzig Jahre her sein. 2002. Ganz richtig. Das war so eine symmetrische Zahl.

Bis zum Schluss hat er die Marken bekommen?

Klar. War schwierig, das Zeug abzubestellen.

Ich würde vielleicht was kaufen. Wenn alles so stimmt, mindestens einen Jahrgang.

Ich bringe die Alben mit, sagte ich. Nächste Woche.

Nicht vergessen, sagte Bluhme. Wir sind dann wieder hier.

Sie sahen sich an, Bluhme und Damerow. Damerow hielt die Lupe vor die Augen. Ein ungeübtes Lächeln verschob die Falten in seinem Gesicht.

Es soll schönes Wetter werden, sagte er.

Hoffentlich. Sonst muss ich eine Bude mit Dach bezahlen.

Wäre auch nicht schlimm, sagte Bluhme. Wir sehen uns. 

Sie gingen zum nächsten Stand und redeten dort lange über Zirkusplakate. Mir schien, dass sie es an diesem Tag nicht mehr so eilig hatten.

 

 

60. Himbeereis zum Frühstück

 

Ich muss dieses Haus beschreiben, gleich am Anfang. Es ist ein alter Plattenbau im Osten Berlins. Die Wände sind unverputzt und bis Mannshöhe mit obszönem Graffiti beschmiert. Auf den Böden der Fahrstühle liegen Zigarettenkippen und Bonbonpapier. Vor dem Haus befindet sich die Endhaltestelle einer Straßenbahnlinie.

In jedem der sechs Aufgänge stehen halbvolle Farbeimer und Tapetenrollen, die niemals abgeholt werden. Die Farbe ist eingetrocknet. Manchmal werden abgerissene Tapetenstücke als Fußabtreter benutzt, wenn es draußen regnet. Die Fahrstuhltüren befinden sich im Hochparterre. Wer in den achten Stock will, muss vom siebten aus laufen.

Dort oben habe ich Räumlichkeiten gemietet, die ich hochtrabend als „Studio“ bezeichne. Ein großer Raum, eine Toilettennische mit Tür, eine Abstellkammer. Eine Küchennische mit albernem Perlenvorhang. Der Raum liegt an der verglasten Schmalseite des Gebäudes, wo man tagsüber ohne Beleuchtung auskommt. Die Tür zum Etagenflur ist matt und undurchsichtig und sieht aus wie der Eingang zu einem Dentallabor. Ich hatte STUDIO auf die Rückseite eines Tapetenstücks geschrieben und das Stück auf das Glas geklebt. Später kritzelte ich coaching production performance darunter, in violetter Farbe.

Im Studio steht ein Flügel, der sich nicht mehr stimmen lässt. Der gusseiserne Rahmen hat einen Riss. Als Freddy Mercury den Anfang von Bohemian rhapsody einspielte, klang sein Flügel genauso. Mama, just killed a man. Schlechte Stimmung war angesagt.

Ich habe zwei Klavierschüler. Manuel kommt fast jeden Tag. Ein herumstreunender Junge von zehn Jahren. Er will Chopin spielen. Seine Mutter gibt ihm manchmal ein paar Euro mit. Ich weiß, dass sie in irgendeinem Krankenhaus die Fußböden wischt. Der andere Schüler ist Bernhard. Früher war er Betriebsarzt. Hinter dem Haus gab es ein Werk. Kann sein, dass Bernhard deswegen hierher gefunden hat. Er glaubt, dass Klavierspielen gegen Alzheimer hilft. Nach jeder Stunde will er mich für den ganzen Monat bezahlen. Ich verrechne das mit Manuels Schulden.

Der Junge spielt alles nach, was ich ihm zeige. Noten lernt er nicht. Jetzt habe ich Zeit für Chopin. Gerade bin ich fertig geworden mit der Produktion eines Jingles für den Makler, der das Industriegelände verkaufen soll. Ich sitze am Flügel und spiele. Ein Mann kommt herein, den ich nicht kenne.

„Ich war gestern Abend schon einmal hier, um zu sehen, ob es dieses Studio wirklich gibt. Sie haben ja inseriert.“

„Schön, dass Sie raufgekommen sind.“

„Wird das Haus gerade renoviert?“ 

„Nein.“

„Ich habe in einigen Wochen ein Klassentreffen. Da möchte ich singen.“

Er ist ein schmaler Mensch und legt einen Stapel Noten auf den Flügel. Die Sache scheint ihm wichtig zu sein. Er wäre sonst gestern Abend nicht hochgekommen. Die Etagenflure des Hauses haben viele verschlossene und unbeschriftete Türen. Ich lege keinen Wert darauf, das hiesige Nachtleben kennenzulernen. 

Derr Mann möchte „Lucille“ singen.

„Das war ein großer Hit in meinem Abiturjahr.“

Alle diese Lieder. Er hat die Texte auswendig gelernt, aber die Verse haben nicht immer die gleiche Silbenzahl. Manchmal muss man einen Ton hinzufügen oder weglassen. Das ist nicht seine starke Seite.

Lucille will abhauen, aber es passt gerade nicht. Der Flügel schnarrt in den Tiefen. Wir üben die Silbenaufteilung. Nach einer halben Stunde besprechen wir das Geschäftliche.

 

Der Makler hat nachbestellt. Er braucht Musik für eine Videopräsentation. Ich lege ein Keyboard auf den Flügel, verbinde das Gerät mit meinem Laptop und produziere. Der Staub glüht auf den ungeputzten Fensterscheiben. Ich bleibe abends länger im Studio.

Herr Peter, so nenne ich den singenden Mann, kommt zweimal in der Woche nach Dienstschluss. Ich weiß nicht, ob Peter sein Vor- oder Nachname ist. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug. Ich drücke ihm ein Mikrofon in die Hand.

„Sie brauchen das, wenn sie Schlager singen“, erkläre ich. „Es geht mehr um den Sound als um die Lautstärke. Diese Lieder sind keine Opernarien.“

Herr Peter hält das Mikrofon in den Raum und singt.

„Singen sie bitte in das Mikrofon“, sage ich. „Ganz dicht ran.“

Jetzt hört er seine Stimme aus den Boxen.

„Das klingt ungewohnt“, beruhige ich ihn. „Am Anfang ist es komisch, sich selbst zu hören.“

Manuel kommt herein, setzt sich in die Küchennische und wartet.

Ich versuche, Herrn Peter die praktische Seite seines Vorhabens zu erläutern.

„Sie benötigen eine kleine Gesangsanlage für ihren Auftritt. Jemanden, der sie begleitet, wenn sie nicht halbplayback singen wollen. Das Instrument läuft auch über die Anlage. Eher ein elektrisches Klavier als irgendwas anderes.“

„Sie werden mir sicherlich behilflich sein“, sagt Herr Peter.

 „In diesem Haus liegt lauter Zeug rum!“, ruft Manuel.

„Wie meinst du das?“

Manuel kommt aus seiner Ecke. Die Perlen klimpern.

„Hier sind viele Lager. Die gehören den Leuten, die Wohnungen leer räumen. Wenn jemand tot ist oder pleite.“

„Das ist salopp formuliert“, moniert Herr Peter und schaut unglücklich auf den Jungen. „Es gehört zu meinen Amtspflichten, solche Räumungen gelegentlich anzuordnen.“

„Hier hat keiner was dagegen“, stellt Manuel fest.

Bernhard steht plötzlich neben uns. Er hat sich im Tag geirrt.

„Tut mir Leid. Ich gehe wieder.“

„Bleib ruhig hier“, sage ich.

„Wir machen ein Konzert. Auftrittstraining. Das ist vor allem für Herrn Peter wichtig. Gibt es in der Nähe eine Bäckerei, die noch geöffnet ist?“

„Fünf Minuten“, sagt Manuel, „wenn ich laufe.“

Ich gebe ihm Geld für Kuchen. Kaffee habe ich da.

„Frage mal, ob sie dir Pappteller mitgeben.“

„Das machen sie bestimmt.“

Manuel hat einen Kindercharme, dem jede Bäckereiverkäuferin erliegt. Ich fülle den Wasserkocher.

„Den Kaffee gibt es türkisch. Ich habe keine Maschine.“

Die beiden fragen nicht nach Milch oder Zucker. Draußen verfärbt sich der Himmel. Der Raum bekommt einen rötlichen Schimmer.

„Es hat einen Grund“, sagt Herr Peter.

„Mein Vorhaben. Ich war damals in ein Mädchen aus meiner Klasse verliebt. Sie bemerkte mich gar nicht. Ich sah, dass sie irgendwelche Sänger anhimmelte. Mittlerweile singe ich auch, im Chor der Senatsverwaltung.“

„Sie haben das Mädchen nicht vergessen!“ sagt Bernhard erstaunt.

„Wie das manchmal so ist.“

Herr Peter scheint etwas verlegen zu sein.

„Ich suchte nach Liedern, die ihr damals gefielen. Das kann sie bestimmt nicht ignorieren.“

Ich bekomme eine Vorstellung von meinem Job. Manuel bringt Kuchen und verteilt ihn in der Küche auf Pappteller. Er legt Plastikgabeln dazu, Servietten und für jeden ein Schokoladenstückchen. Sie hatten ihn gut ausgestattet in der Bäckerei.

Ein Tapetentisch aus der Kammer ist die Ablage für das Kaffee-und-Kuchen-Zeug. Manuel futtert, was übrigbleibt und setzt sich an den Flügel. Er hat kein Lampenfieber. Bei ihm wirkt das Gegenteil. Die Anwesenheit des kleinen Publikums berauscht ihn. Die schwierigen Passagen laufen besser. Er könnte Noten lernen und weit kommen in der Welt. Der Gesichtsausdruck stimmt auch. Wir applaudieren.

„Da kann ich nicht mithalten“, sagt Bernhard.

„Du spielst hier nicht um die Wette.“

„Der Junge macht das toll.“

Bernhard geht zum Instrument.

„Ich bin allerdings sehr nervös.“

„Immer weiter spielen“, sage ich. „Niemals Scheiße schreien. Die Leute merken weniger, als du denkst.“

Bernhard spielt eine Klavierversion von Dylan`s Mr. Tambourine Man. Vergesst die offizielle Geschichte zu diesem Lied. Tambourine Man ist ein Wort für den Drogendealer aus der Nachbarschaft.  Mir schien immer, dass der Text niemanden sonst meinen konnte. Bernard spielt sein Stück über Erinnern und Vergessen. Zweimal stockt er und schaut mich an. Ich nicke. Er spielt weiter bis zum Ende. 

Manuel ist ein unruhiger Zuhörer. Ich gehe mit ihm zum Mischpult. So und so und so. Darauf achtest du, wenn Herr Peter singt.

Die Stimme hat jetzt etwas Hall und mehr Fülle.

Herr Peter ist überrascht und singt „Himbeereis zum Frühstück“. Ein später Wunsch. Bernhard ist nicht mehr nervös und wippt mit.

“Reden sie bitte zwischen den Titeln“, sage ich zu Herrn Peter. „Eine kleine Moderation. Bestimmt fällt ihnen eine lustige Geschichte von damals ein.“

„Wenn er redet“, instruiere ich Manuel, „nimmst du den Hall raus.“

Herr Peter kann sich an keine lustige Geschichte aus seiner Schulzeit erinnern.

„Erzählen sie einen Beamtenwitz“, schlage ich vor.

„Ich werde mich bei Kollegen erkundigen“, sagt Herr Peter.

Einige Regentropfen wehen ans Fenster. Ich spiele die Einleitung von „Lucille“ und Manuel schiebt den Hallregler hoch.

Bernhard ist ein dankbares Publikum.

61. Symposion

 

Als alle gestorben waren, begann er zu kochen. Am Anfang das, was man nur ins Wasser zu werfen brauchte. Dann lernte er, ein Steak zu braten. Er probierte Gewürze aus, nicht nur Salz und Pfeffer. Überall lagen Lebensmittel herum. Die Tiefkühltruhen waren voll. Die Menschen starben mit gefüllten Tiefkühltruhen. Auf den Verpackungen fand man oft ein Rezept. Er wagte es jetzt, den Ofen seines Herdes zu nutzen.

Draußen stand noch ein Häuserblock, so wie einer vor Moskau stand oder Paris, wo die Städte übergingen in karge, gegen sich selbst rebellierende Landschaft. Auf freiem Feld wirkte der Bau fremd und vergessen. Er musste üben, bis ihm feine Pasteten gelangen. Alle waren gestorben, deswegen lud er niemanden ein. Er hörte Musik und trieb leichten Sport.

Die Straßen waren leer. Wenn er durch die Nacht lief, sagte zu den Sternen: Ich bin nichts anderes als ihr.

62. Aurora oder Die Nachtwache

 

Die Wände des Schuppens bestanden aus gemauerten Feldsteinen, das Dach aus einer Holzabdeckung und geteertem Segeltuch. Ich vermutete, dass hier eine kleine Kirche entstehen sollte für die Gehöfte in der Umgebung. Der grob gezimmerte Altar diente als Ablage für die Pulversäcke, die keine Bodenfeuchtigkeit ziehen sollten. Der gesamte Raum war ein Lager. Sie hatten zwei Kanonen hineingeschoben und Proviant gebunkert, Heringstonnen, eingelegten Kohl und Speckschwarten. Mit einem Kameraden war ich zur Nachtwache eingeteilt. Gottfried richtete vor der Tür eine Feuerstelle ein. Darauf verstand er sich. Wir sammelten Reisig und achteten auf den Wind und den Funkenflug. Die Funken flogen ins Land wie Glühwürmchen. Dort, wo das Feuer kein Licht mehr spendete, herrschte vollkommene Dunkelheit.

Beinahe konnten wir uns als Landsleute betrachten. Gottfried hatte in den oberschlesischen Silberminen gearbeitet. Ihm war das Dunkel vertrauter als der Tag.

„Das ist ein Tier“, sagte er.

Ein Tier also, nicht der Wind oder ein Mensch. Als es noch einmal knackte, sagte er:

„Ein Reh.“

Wichtig war, sich nicht vom Hauptmann übertölpeln zu lassen, der einer schlafenden Wache gern die Flinten klaute und einige unkomfortable Tage bereitete.

Ich entzündete eine Tranfunzel und ging auf Patrouille.

Hinter dem Haus sah ich die Schatten der Rehe. Sie suchten Nahrung auf dem Stoppelfeld, wie Gottfried an die Nacht gewöhnt. Im Berg hatte er gelernt, gefährliche Geräusche zu fühlen. So musste man es wohl nennen. Das Kratzen auf dem Dach kam von einem anderen Tier. Es war alles in Ordnung.

Ich beendete meinen Rundgang und setzte mich wieder ans Feuer.

„Ich will nach Amerika“, sagte Gottfried. „Habe ich hier Silber gefunden, kann ich dort Gold finden.“

„Das ist bestimmt richtig“, erwiderte ich.

Wir machten lange Pausen. Sie hatten Platz in der Nacht.

„Wenn wir den Krieg überleben, reicht das Abschiedsgeld für die Überfahrt.“

Diesmal hatte Gottfried „wir“ gesagt. Er schaute ins Feuer

 

Das Tier auf dem Dach musste eine Wildkatze sein. Die Katze kam zu den Mäusen, und die Mäuse waren vom  Proviant angelockt worden. Die Rehe fanden nicht mehr viel, die Menschen waren verschwunden. Weiß der Teufel, wohin. Wir belagerten immer noch Stettin.

„Die Stadt muss fallen“, sagte ich. „Allein schon wegen dem Hafen.“

„Würdest du mitkommen?“

Nach einer Weile fügte Gottfried hinzu: „Ich kann nicht lesen. Bin schon als Kind in die Mine.“

Er war ein kräftiger Bursche, bestimmt ein paar Jahre älter als ich. Es machte ihm nichts aus, mit den Landsknechten herumzuziehen. So kam er schneller weg, eventuell. Das Leben hier zählte nicht mehr viel für ihn.

Ich ging zum Schuppen, öffnete die Tür einen Spalt und zwängte mich mit der Flinte hindurch. In dem Raum fand ich mich auch ohne Licht zurecht. Auf einer Heringstonne konnte man gut sitzen. Der Geruch der unverdorbenen Nahrung vertrieb die Müdigkeit. Ich war in meiner Kathedrale und suchte einen Weg. Man konnte ihn finden durch denken oder durch fühlen. Das Gefühl vermochte zu warnen. Es ermutigte auch. Ich hatte verstanden, dass es ein wortloser Vorgang war, der die Nerven anregte wie der Geruch in diesem Raum.

Das Denken unterschied Ursache und Wirkung. Hielt eine lautlose Rede. So saß ich auf der Heringstonne und die Katze hatte im Gebälk eine Maus gefangen. Es war ein sehr angenehmer Moment. Ein Stück Silber in der Dunkelheit. Der Gedanke kam mir, es auch mit Gold zu versuchen. Ich ging zurück zu Gottfried.

Er schaute ins Feuer und ich schaute in sein Gesicht. Die Jahre im Berg hatten alle Angst in Aufmerksamkeit verwandelt. Er besaß eine andere Art, die Welt zu erkennen. So, wie die Männer auf dem Gutshof in meiner Kindheit. Sie fällten Bäume und befahlen den Pferden. Ich fühlte mich sicher bei ihnen. Manchmal läuteten Glocken, die Herzschlag und Gedanken zusammenbrachten wie das Laudanum von Frau Kiebelworn.

 

Es knackte im Gebüsch, das einige Meter entfernt den Rand eines Feldes markierte.

„Das war ein Mensch“, sagte Gottfried.

Er wies mit dem Kopf in die Richtung des schwarzen Strauchwerks.

Ich stand leise auf und stopfte meinen Vorderlader. Wir hatten das auch bei Nacht geübt. Mit dem Gewehr im Anschlag ging ich einige Schritte auf das Gebüsch zu.

„Wer auch immer dort ist! Ich zähle bis drei und schieße.“

„Rogowski, du Hundesohn“, sagte der Hauptmann. „Du wirst mich doch nicht abknallen wollen.“

Er trat heraus und ging zu Gottfried, der mit der Flinte auf den Knien sitzen geblieben war. Ich sah, dass der Hauptmann eine Pistole in der Hand hielt, die er jetzt wegsteckte. Die Hand legte sich auf Gottfrieds Schulter.

„Das ist dein Mann, Rogowski. Du bist abkommandiert. Er wird dich in die Stadt bringen.“

Ich nahm den Finger vom Abzug, viel zu spät. Sie hatten es beide nicht bemerkt. 

„Wir haben den Pulverturm in Brand geschossen. Muss ganz schön gerumst haben. Jetzt läuft die Übergabe. Danach wird Inventur gemacht. Zählen, schreiben, rechnen. Also, Rogowski: Du wirst schön aufpassen,  wenn es um unseren Anteil geht.“

Der Hauptmann war in Siegerlaune. Er nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche. Es roch nach Branntwein und das Feuer flackerte heftiger.

„Ihr geht zum Quartier, nehmt eure Sachen und schlagt euch zum Obersten durch. Ich warte, bis die Ablösung kommt. Ist ja `n schönes Plätzchen.“

Gottfried erhob sich.

Dem Hauptmann gefiel es, noch etwas zu sagen.

„Hör zu, Rogowski: Hast den richtigen Freund gefunden. Ab Marsch!“

 

In der Nacht verschwindet der Staub, und der Atem und die Beine haben es leichter. Die Flinten waren im Quartier geblieben. Der Feldwebel hatte uns mit Dolchen ausgerüstet, die wir am Gürtel trugen. Mir schien, als ob wir mittlerweile der Straße folgten, auf der ich einst von Berlin nach Stettin gelangen wollte. Diesmal ging ich ohne Empfehlungsschreiben. Der Wald zur rechten Seite bot uns Deckung, wenn es nötig war. Auf der anderen Seite schimmerten die Meliorationsgräben. Sie zerschnitten rechtwinklig das Land, und der Teufel konnte mit dem Mond Schach auf den Feldern spielen. Gut möglich, dass sie irgendwas spielten.

„Hörst du was?“, fragte ich Gottfried.

„Hinter den Bäumen sind Fischer auf dem Fluss. Sie rudern. Weiter nichts.“

Wir fielen zurück in den Rausch des Schweigens. Es erzeugte ein Echo im Kopf und im Körper. Ich verstand die Mystiker, von denen ich auf der Universität gehört hatte. Sie glaubten dann an ein göttliches Zeichen. Ich weiß nicht, ob das stimmte, aber man konnte stundenlang marschieren. Ich spürte keine Erschöpfung.

Der Tag kündigte sich an. Aurora kam hervor. Sie war es, der ich folgen sollte. Diesen Rat hatte ich nicht vergessen.

„Wir müssen an den Fluss“, sagte Gottfried. „Vorn ist eine kleine Bucht. Dort liegt ein Boot im Schilf. Hoffentlich.“

Mit den Dolchen kämpften wir uns durch das Unterholz. Dahinter verlief ein Wildwechsel. Hier gingen die Tiere zur Tränke. Wir folgten der Spur, bis mich Gottfried plötzlich zur Seite zog. Dort standen wir hinter hochgewachsenem Schilfgras und hatten einen guten Blick auf die Bucht. Von der anderen Seite waren zwei Mädchen aus dem Wald gekommen.

„Hast du Feuer gemacht?“, fragte die eine.

„Hast du die Kuh gemolken?“, fragte die andere.

Sie kicherten. Es klang wie ein Spiel. Sie warfen ihre Kleider ab und sprangen ins Wasser. Es muss recht kalt gewesen sein, aber mir schien, dass sie daran gewöhnt waren. Die Mädchen versuchten, sich gegenseitig unter Wasser zu drücken. Miteinander verschlungen blieben sie plötzlich stehen und küssten sich.

„Machen wir Frühstück“, sagte die eine.

„Aber erst für die Herrschaften“, sagte die andere.

Sie kamen Hand in Hand aus dem Wasser. Aurora schien sie zu mögen. Ihr Licht legte sich behutsam um die nackten Körper.

Jetzt glaubte ich auch an ein göttliches Zeichen.

 

63. Besuch

 

Sie standen zu dritt vor Cantian‘s Tür, zwei Frauen und ein Mann. Die Frauen waren zu jung, selbst wenn man ihnen einen ausgeprägten Vaterkomplex unterschob. Das sah Cantian sofort. Ein Reflex. Der Mann stellte die Abordnung kurz vor, unter Hinweis auf Cantian‘s Webseite. Cantian konnte sich nicht daran erinnern, jemals seine Wohnanschrift veröffentlicht zu haben. Nun ja. Sie waren jung und beweglich. Sie fanden heraus und kamen vorbei.

Cantian navigierte die drei in sein Wohnzimmer. Sie lehnten Kaffee ab und holten Wasserflaschen aus ihren Rucksäcken. In dieser Zeit gab Cantian ihnen Codenamen. Anna, Bertha, Cäsar. Anna hatte ein einigermaßen intelligentes Erstsemestergesicht. Etwas blass und spitz noch, die Brille schien sie tatsächlich zu brauchen. Bertha trug einen strengen Seitenscheitel. Mag sein, dass sie eifersüchtig wurde, wenn Anna von einem Freund erzählte. Cäsar war das wahrscheinlich nicht. Er steht eher auf leicht nuttige Blondinen, dachte Cantian. Wenn was läuft, beschwert er sich über ihre Blödheit. Na gut. Das werde ich dem Anführer durchgehen lassen.

„Können wir uns auf eine Anrede verständigen?“ fragte Cäsar.

Cantian amüsierte sich über die bewusst neutrale Form der Frage.

„Bloß nicht förmlich.“

„Darf ich Genosse sagen?“ fragte Bertha.

„Auch das ist möglich. Es wäre allerdings das erste Mal, dass ich so angesprochen werde.“

„Ich finde ‚Genosse‘ ganz gut“, entschied Anna. „Wir wollen doch kämpfen zusammen.“

Cantian war durchaus gerührt.

„Also, Genossinnen und Genossen. Was führt euch zu mir?“

„Wir haben deine Seite gelesen“, sagte Cäsar. „Irgendwer hat uns darauf gebracht. Ich vermute, dass hinter den Autorennamen eine einzige Person steckt.“

„Das spart Honorare.“

Cäsar bemühte sich um ein Lächeln. Kein Grinsen, nur eine deutliche Reaktion. Er stand auf und ging zu einem Bücherregal an der Wand. Dort musste ihm schon vorher etwas aufgefallen sein. Er griff ohne Suche ein Buch heraus, Erinnerungen von Inge Viett, die sie im Gefängnis geschrieben hatte.

„War das nicht eine Terroristin?“

„Richtig“, sagte Cantian. „Sie hat ihren Namen reingeschrieben. Ein dekonspirativer Akt des Vergessens.“

Cäsar zog die Augenbrauen zusammen. Bertha ließ einen Zeigefinger über ihren Seitenscheitel wandern. Anna fragte:

„Wie meinst du das?“

„Warum sollte die Erinnerung an die wahre Identität nicht ein Akt des Vergessens sein?“, fragte Cantian zurück.

 „Aber nimm das nicht so ernst. Ich bin Literat. Ich sage Sätze, weil sie gut klingen.“

„Uns fehlen Sätze“, erklärte Bertha. „Vor allem solche, die gut klingen.“

„Na, das trifft sich.“

 Im gleichen Moment fand Cantian seine Bemerkung unpassend. Er wollte nicht ironisch sein. Dieser Besuch war besser als gar kein Besuch.

Cäsar schüttelte seine Wasserflasche. Er stellte das Buch zurück.

„Hast du alles gelesen?“

„Nein. Der erste Teil schildert ihre Kindheit. Das ist bedeutende Literatur. Was danach kommt, muss nicht stimmen. Sie hat niemanden verraten.“

Cantian schaute zu Anna und hinter ihre Brillengläser. Die Augen waren feucht. Sie schien beeindruckt zu sein von dieser Frau, die niemanden verraten hatte. Das war wichtig. Dahinter und davor verschwamm alles andere.  

„Sie war lesbisch, oder?“

Berthas Stimme. Cantian nickte und fand zurück.

„Die Liebe hat es nicht leichter gemacht.“

„Wieder so ein kryptischer Satz, Genosse“, sagte Cäsar.

Du verstehst ihn auf deine Weise, dachte Cantian.

Laut erklärte er: „Eine Meinung, die zu einer Handlung aufrufen soll, muss nicht stichhaltig sein. Logik ist selten motivierend.“

„Logik klingt nach Mathematik“, sagte Anna vorsichtig. „Mathematik kann nicht lügen, nicht wahr? Ich frage mich, ob es auch ohne Lügen geht, und dann nicht gleich Mathematik ist. Verstehst  du, was ich meine? Das ist der Punkt, an dem ich mich ständig verheddere.“

Sie schwiegen einen Moment. Der alte Rat, wenigstens gut zu lügen, stand nicht zur Debatte. 

„Hast du jemals Reden geschrieben?“, erkundigte sich Bertha.

„Grabreden“, sagte Cantian. „In meinem Alter kommt man gelegentlich in diese Situation.“

„Wenn du das machst“, spekulierte Cäsar, „versuchst du doch, jemanden in ein gutes Licht zu rücken. Aber so, dass niemand dabei denkt: Was für ein Schwachsinn. Dieser Mensch war ganz anders.“

„Das ist zweifellos richtig“, bestätigte Cantian.

„Du erwähnst auch die schwachen Seiten?“

Annas Worte wurden beinahe von den Geräuschen der Welt verschluckt. Vogelstimmen. Fließendes Wasser. Die Worte klangen eher wie ein Wunsch. Weniger wie eine Frage.

„Stärken und Schwächen sind bei einem Menschen oft genug dasselbe“, dozierte Cantian. „Diese Aussage ist allerdings eine Banalität. Nun nimm aber mal einen Menschen und einige  Handlungen von ihm, die sich gegenseitig bedingen. Sie sind einerseits stark. Andererseits schwach. Wenn man in beiden Fällen die gleiche Intensität unterstellt, haben sich Stärke und Schwäche neutralisiert. So ist es aber nicht. Es bleibt ein Überhang.“

„Du hast also Übung darin“, sagte Bertha.

„Worin, Genossin?“

„Den Überhang zu formulieren.“

Cäsar verständigte sich per Blickkontakt mit den Frauen und versuchte, grundsätzlich zu werden.

„Wir fangen von vorn an. Wir wollen kämpfen. So, wie Anna das sagte.

Unsere Toten sind vielleicht schon sehr lange tot, aber niemals vernünftig beerdigt worden. Selbst, wenn man ihnen jedes Jahr eine Demonstration widmet. Ist nur ein Beispiel. Es gibt vieles, wofür wir nicht die richtigen Worte haben. Du bist weiter. Kann man so sagen, oder?“

„Mach mich nicht verlegen.“

Cantian hob die Schultern und korrigierte sich.

 „Vielleicht doch. Einer meiner Lehrer sagte einmal, dass falsche Bescheidenheit auch eine Art von Überheblichkeit wäre. Wer kämpft, ist so unbescheiden wie sein Ziel.“

„Es tut dir Leid“, sagte Bertha, „in deinem Leben bescheiden gewesen zu sein.“

Cantian versuchte, sich diese Feststellung  einzuprägen. Er fragte nach, worauf sie sich gründete.

Bertha schaute sich um.

„Du bist kein Angeber.“

„Ich habe mich zu oft entschuldigt“, sagte Cantian.

Ihm war klar, dass es nichts mit Bescheidenheit zu tun hatte, auf Luxus verzichten zu können.

„Lenin“, stellte er fest, „beanspruchte im Kreml lediglich zwei Zimmer zum Wohnen.“

„Das wäre der erste Satz“, sagte Bertha. „Wollen wir zusammenarbeiten?“

„Warum nicht“, sagte Cantian und gönnte sich die heimliche Freude, über diese Antwort nicht nachgedacht zu haben.

Bertha holte ein Laptop aus ihrem Rucksack. Nach wie vor hatte Cantian keine Ahnung, was die Besucher eigentlich wollten. Das heißt: Ahnen konnte er natürlich vieles. Seine Zustimmung galt dem, was von der Gewissheit zerschlagen wird. Einer Möglichkeit demzufolge. Sie warteten noch, bis auch die Maschine bereit war, sich etwas merken zu können.

 

64. Servietten

 

Seife, immer wieder Seife. Es gab noch nicht so viele Shampoos damals. Höchstens für die Haare. Ins Badewasser kam Fichtennadelextrakt. Die Regale erschienen ihm hoch, er war ein Kind. Hinter Wundertüten und Fleckenentferner stand der Vater an der Kasse und unterhielt sich mit Kundinnen. Er und das Geschäft gehörten zusammen wie die Stadt und das alte Rathaus. Jeder kannte die Klingel an der Tür, war schon einmal die Stufen zur Drogerie hinabgestiegen. Neuerdings führte sie auch Schreib- und Papierwaren.

Der Vater brachte dem Sohn bei, die Stammkundinnen an den Schuhen zu erkennen. Man sah die Schuhe durch die Fenster, die in Höhe des Bürgersteiges das Tageslicht herein sickern ließen.  Ein wenig dämmrig blieb es immer, ganz egal, ob Frau Pywodda oder die Lehrerin oder die Frau des Bürgermeisters hereinkamen. Frau Pywodda trug feine Schuhe mit hohen Hacken, die Lehrerin flache Halbschuhe mit silbernen Schnallen, und die Frau des Bürgermeisters lief meistens mit Lederstiefeln herum. Der Junge prägte sich alles ein. Farben, Absätze, Schnallen und Schnürsenkel. Er tat das für seine Schwester. Sie war zwei Jahre älter als er und blind.

Ganz genau musste er der Schwester berichten. Er erzählte vom Laden und den Leuten. Vor allem von den neuen Waren, die der Vater bestellt hatte. Ein Federhalter war dabei, der mit Tintenpatronen funktionierte. Der Junge lernte Schreiben mit diesem Werkzeug. Er legte den Patronenfüller in die Hand des Mädchens. Langsam führte er die Hand in einer Schleife über ein Blatt Papier.

„Das ist der Buchstabe ‚e‘.“

Das Mädchen bemalte das ganze Blatt mit Schleifen. Sie achtete darauf, nicht über den Rand zu schreiben. Ihre Buchstaben überschnitten sich manchmal. Sie bildeten ein eigenartiges Muster, wie auf den Handtüchern, die es unten gab. Ach wo, viel schöner. Der Junge nahm das Blatt und ging zur Mutter.

„Das hat Clara gemalt.“

„Du sollst mich nicht veralbern.“

„Komm mit.“

Sie gingen zu Clara und er legte ein neues Blatt Papier auf die Unterlage.

„Malst du noch einmal die Buchstaben?“

„Nein“, sagte Clara.

Da war nichts zu machen. Die Mutter lachte und legte eine Hand auf den Kopf des Jungen. Als sie abends in ihren Betten lagen, fragte der Junge:

„Warum wolltest du nicht mehr schreiben?“

„Nicht immer den gleichen Buchstaben. Zeig mir einen anderen.“

So lernte Clara schreiben. Sie konnte nicht sehen, was sie schrieb und sie konnte die Buchstaben nicht fühlen wie die Brailleschrift.

Beim Abendbrot dachte der Vater über Tischservietten nach. Tischservietten waren gerade in Mode. Der Vater überlegte, welches Material sich am besten falten ließ. Darauf kam es an. Die Frauen der Stadt übten das Falten der Servietten unter Anleitung von Frau Pywodda, die einmal in einem großen Hotel gearbeitet hatte. Sie falteten Bischofsmützen, Pyramiden, Fächer und Lilien.

„Ich weiß nicht, ob ich noch welche da habe“, sagte der Vater.

„Im letzten Gang“, sagte Clara. „Rechts unten.“

„Woher weißt du das?“

„Mein Bruder hat gestern nachgeschaut. Ich hatte ihn darum gebeten.“

So sprach Clara, wenn es schwierig wurde. Sie vergaß die Namen.

„Wozu sollte das gut sein?“

Eben. Wozu? Nein, sie wollte nichts stehlen. Nur falten. Sie hörte ständig davon.

Der Vater bestellte einen Karton extra für die Tochter. Er wählte einen feinen Stoff, den er sonst nicht im Angebot hatte. Clara lernte von ihrer Mutter die Handgriffe, die Frau Pywodda ihren Schülerinnen beigebracht hatte. Sie dachte sich eigene Motive aus. Für ihren Bruder faltete sie eine Tasche, die man verschließen konnte wie einen Briefumschlag. Dort hinein legte der Junge einen flachen, scharfkantigen Feuerstein. Einmal ließ er die Schwester die scharfe Kante befühlen. Clara schnitt sich, um ihr Blut zu kosten. Sie schnitt sich noch einmal für den Bruder.

In jenem Jahr wurde ein Internatsplatz für Clara frei. Sie war nur noch an den Wochenenden zu Hause. Der Vater dachte daran, immer einen Vorrat feiner Stoffservietten zu bestellen. Er hatte im Laden jetzt einen schmalen Glasschrank, in dem wechselnde Ausstellungen mit Claras Kreationen zu sehen waren. Ansonsten standen die gefalteten Servietten auf einem Regal über Claras Bett. An jedem Wochenende befühlte sie ihre Schöpfungen und strich mit dem Finger über die Kanten. Dem Jungen war der Anblick von Claras Körper so vertraut, dass er die Veränderungen erst bemerkte, als er sich selbst veränderte. Das begann im Kopf. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte er immer nur auf die Schuhe der Kundinnen geachtet. Mittlerweile schaute er weiter. Vor allem versetzten ihn die Beine von Frau Pywodda in große Unruhe. Manchmal erhaschte er das Glitzern ihrer Unterwäsche. Der Vater war angetan von der Bereitschaft seines Sohnes, ihm im Laden behilflich zu sein.

Kam Clara nach Haus, schliefen sie immer noch im gleichen Zimmer. Es gab nur einen Unterschied: Der Junge vergaß manchmal, das Licht auszumachen.

„Gut“, sagte Clara an einem Abend. „Aber wenn nun jemand hereinkommt. Knips die Lampe aus und leg dich zu mir. Sie werden denken, dass wir schlafen.“

So war es immer gewesen. Die Mattglasscheibe in der Kinderzimmertür zeigte den Eltern, wann der Junge im Bett lag. Sie waren froh und hatten keinen Grund, zu stören.

Clara hörte den Klick des Schalters und spürte ihren Bruder. Er folgte ihren Bitten, seit sie denken konnte. So hatten ihn die Eltern erzogen, aber er war auch glücklich, wenn sich Clara freute. Er vertraute ihr wie dem Serviettenumschlag mit dem Feuerstein. Er hatte ihr Blut gekostet.

Claras Hand tastete ihn ab. Sie spürte das Relief seines Körpers und blieb in der Mitte. Mit dem sanften Druck der Fingerspitzen las man die Brailleschrift.

Jetzt war es auch so: Das Muster unter den Fingern änderte sich ständig. Clara konnte einen Text hinein fantasieren, mehr als nur eine körperliche Vorstellung. Sie glaubte nicht, dass es besser wäre, etwas zu sehen.

Ihr Bruder kam ihr nahezu regungslos entgegen. Sie hielt ihn fest. Nur einmal zuckte sie kurz mit der Hand, das war ein Reflex. Sie hatte die warme Feuchtigkeit erwartet. So sollte es sein und so war es.

„Es wäre dir sonst im Schlaf passiert“, sagte Clara.

„So war es bestimmt besser“, sagte der Junge.  

Clara berührte mit den feuchten Fingern ihre Lippen.

„Jetzt will ich dich putzen“, sagte sie, „und habe kein Taschentuch.“

Sie waren beide ein wenig träge. Clara ließ sich Zeit.

„Aber ich habe Servietten“, flüsterte sie plötzlich. „Blumen, Schiffchen, Pyramiden. Fächer und Brücken. Ein Schiffchen nehme ich. Lassen wir es schwimmen. Und dann, schwupp . . . geht es unter. Wie die Titanic.“

„Ohne Tränen“, murmelte der Junge.

„Ja “, sagte Clara. „Das ist ja das Schöne.“

 

 

65. Der Gegner

 

Siegfried hatte auf allen denkbaren Frequenzen drei Tage nach dem Signal gesucht. Jetzt war er nicht mehr auf Empfang. Abgeschaltet. Nur noch ein großes Rauschen im Kopf. Drei Tage kein Zeichen von Douglas bedeutete, dass er nicht mehr am Leben war. Sie hatten sich dieses Procedere ausgedacht, um sicher sein zu können. Sie waren Profis. Niemand konnte sie abhören. Wäre Douglas noch auf der Welt, hätte er etwas absetzen müssen. Das war so sicher gewesen wie sein Herzschlag.

Nachdem Siegfried die Kopfhörer abgenommen hatte, ging er auf den Balkon. Im Dunkeln sah er die Silhouette des Mies-van-der-Rohe-Hauses. Früher gehörte hier alles zur Dienststelle. Sie nutzten das Haus für Seminare oder als Lager. Manchmal stand ein Posten davor. Natürlich in Zivil. Niemand dachte an den berühmten Architekten. In gewisser Weise passte das Haus zur Umgebung: Im äußeren Habitus verleugnete es seine Identität.

Solche Gedanken wären Siegfried damals nicht gekommen. Er wohnte hier mit seiner Familie und bekam genug praktische Aufgaben. Für die Kinder hatte die Dienststelle eine eigene Schule eingerichtet. Sie waren geschützt und konnten sich nicht verplappern. Douglas fand das vorbildlich. Besser als in Langley. Sie hatten schon damals über solche Dinge geredet.

Douglas Stewart. Das war sein Klarname. Siegfried kannte diesen Klarnamen und den Amateurfunk-Call. Umgekehrt war es genauso. Sie hatten schnell raus, dass sie Kollegen waren. Ingenieure für Abhörtechnik. Der Funk war eine Freizeitbeschäftigung. Es war der einzige Ort, an dem sie nicht belauscht werden konnten. Beruflich waren sie Gegner. Auch deswegen brachten sie füreinander viel Verständnis auf. Douglas erzählte vom Kauf eines neuen Rasenmähers. Siegfried berichtete, dass er als Kind gelernt hatte, mit einer Sense umzugehen. Manchmal ist der Rückschritt ein Fortschritt, hatte Douglas gesagt. Am Anfang behalf sich Siegfried mit einem Buch, das Englisch für Funkamateure hieß. Später nahm er Unterricht bei einem Amerikaner, einem desertierten GI, der jetzt für die Dienststelle arbeitete. Siegfried bestellte in der Beschaffungsabteilung einige englischsprachige Fachbücher, um sein Interesse glaubhaft zu machen.

 

Wie lange war das her? Die Verbindung mit Douglas bestand wohl vier oder fünf Jahre, bevor sich Siegfrieds Dienststelle auflöste. Ein anderer Nachrichtendienst suchte das Gespräch mit ihm. Es waren höfliche Menschen, voller Respekt vor seinen Leistungen. Siegfried berief sich auf etwas, für das sich mittlerweile niemand mehr interessierte: Einen Eid. Er war Offizier, daran hatte er selten gedacht. Der Verrat ist gern gesehen. Der Verräter nicht. Das sagte Siegfried und lächelte schüchtern. Die Herren verstanden, aber Siegfried wusste, dass sie ihn immer im Blick behalten würden. Im Blickwinkel besser gesagt, ganz weit außen, aber niemals völlig weg.

Zu dieser Zeit war Douglas damit beschäftigt, hinter seinem Haus einen kleinen Sportplatz anzulegen. Die Kinder wollten Basketball trainieren und das Einputten beim Golf üben. Douglas  war stolz auf den akkurat geschnittenen Rasen. Der Golfball kullerte geradlinig seinem Ziel entgegen. Siegfrieds Kinder fragten nach seiner früheren Arbeit. Er war Funkingenieur gewesen und geblieben. So sagte er. Nunmehr führte er ein Geschäft für Sicherheitstechnik. Manchmal buchte man ihn als Berater. Er ging durch Räume und zeigte auf die versteckt installierten Mikrofone und Kameras. Die Dinger wurden immer kleiner, aber Siegfried sah sie in einem Hemdknopf. Er hatte gelernt, das Unmögliche für wahrscheinlich zu halten und wunderte sich nicht, als Douglas seinen Laden betrat.

Siegfried besaß eine gewisse Vorstellung vom Aussehen seines Kollegen in Langley. Douglas war unauffällig, ein wenig langweilig sogar. Der Bauch setzte an und er war auf gar keinen Fall sportlich. Seine Haare gingen zurück. Ein oder zwei Stiftzähne. Er trug Discount-Poloshirts unter einer Windjacke. Ein Basecap auf dem Kopf (aber nicht falschrum), wenn er den Jungen zum Spiel fuhr. Er sah aus wie ein Freizeitangler, dessen größtes Abenteuer darin bestand, eine Nacht im Zelt zu verbringen. Kurz gesagt: Er sah aus wie Siegfried.

Er-Siegfried-sah sich selbst den Laden betreten. Douglas sah sich selbst hinter dem Verkaufstisch stehen. Er hielt kurz seine Hände an die Ohren. Eine Geste, die auf Kopfhörer hinweisen sollte. Es gab überhaupt keine Zweifel.

Mein Freund, sagte Douglas mit starkem Akzent. Sie legten die Hände übereinander, einen Moment lang. Es wäre seltsam gewesen, in diesem Laden voller Abhörtechnik ein vertrauliches Gespräch zu beginnen. Douglas legte ein Album auf den Tisch und schlug es auf.

„My family“.

Die Tochter war mittlerweile verheiratet und der Junge studierte Physik. Siegfried blätterte durch die Seiten. Es waren Bilder, wie sie auch in Deutschland Familienväter ihren alten Freunden zeigten. Man machte dann einen Spruch über die Zeit, der ausgebeult war wie die Windjacke.

Kann sein, dass die beiden etwas murmelten.

Die Fotos im Album waren mit Anmerkungen versehen.  Nancy beim Highschool-Abschlussball oder Jonathan nach dem Gewinn von irgendwas. Nancy war sehr schön und Jonathan sehr stolz. Die Schrift war sauber und mehrfarbig. Wer auch immer geschrieben hatte: Die Hand musste von einem kreativen Impuls geleitet worden sein. Anfangsbuchstaben hatten dekorative Schnörkel. Die Jahreszahlen waren mit kalligraphischer Hingabe gemalt. Siegfried ahnte das Muster. Bestimmte große Buchstaben und Zahlen konnten in der Kombination  eine Funkadresse ergeben. Wahrscheinlich deuteten die Farben darauf hin, was zusammen gehörte.

„ I’ll put it together“

Natürlich. Er setzte immer Dinge zusammen. Douglas nickte erleichtert. Ein Kunde, der sich verstanden fühlte. Siegfried gab ihm einen Pappbecher mit Kaffee. Sie vermieden eine zusammenhängende Unterhaltung. Siegfried setzte sich an den Computer und suchte nach irgendeiner Abrechnung. Douglas betrachtete die Auslagen im Laden.

„Thanks again“.

Er pochte mit dem leeren Kaffeebecher auf den Tisch. Siegfried ging zu ihm. Sie legten noch einmal die Hände übereinander.

Douglas ging. Die Umhängetasche war jetzt etwas leichter. Das Fotoalbum war auf dem Tresen geblieben.

 

Die Regelung mit der Frist für ein Lebenszeichen stammte von früher. Douglas hatte es fertig gebracht, seinen Herzschlag zu senden. Die Frequenzen wechselten, jetzt war es überall stumm. Dafür hatte Siegfried in dem Fotoalbum mehrere Funkadressen gefunden, versteckt zwischen Halloween, Christmas und Nancys Cheerleader-Ballett. Siegfried meldete sich als Tannhäuser. Er suchte den Eingang zum Venusberg. Douglas besaß mehr Humor, als Siegfried ihm und sich selbst zugetraut hätte. Stück für Stück erhielt Tannhäuser einen Code, mit dem er die Signale eines Satelliten dechiffrieren konnte, der für Langley arbeitete. Damit war Siegfried der Menschheit um einige Sekunden voraus. Es gab eine Reaktionszeit. Sie war nicht lang, aber es gab sie.

Siegfried verließ den Balkon. Er zog eine Jacke an und ging hinüber zum Mies-van-der-Rohe-Haus. Er stellte sich vor den Eingang und stand nun dort, wo sich früher die Posten langweilten. Nirgendwo brannte Licht. In den letzten Jahren hatte Siegfried begonnen, dieses unscheinbare Haus zu mögen. Es schien ihm schützenwert. Er schaute in den Nachthimmel und ergab sich für einen Moment der Illusion, dass irgendein Blinken von dem Satelliten stammte, dessen Signale er verstand. Er konnte nicht ständig auf Empfang sein. Selbst wenn: Wie sollte er denn reagieren angesichts eines bevorstehenden Desasters? In wenigen Sekunden?

Eines aber verstand er sehr gut. Er musste die Angelegenheit kühl und professionell  betrachten. Bis in die letzte Nervenfaser. Er musste versuchen, eine Lösung zu finden. So, wie Douglas es wohl von ihm erwartet hatte. Sein Freund Douglas, der immer ein unbequemer Gegner war.  

             

 

66. Orthmosers Glück

 

Die Sonne wärmte nicht. Sie blendete und ließ alles kalt. Wir bewegten uns im Stehen, zappelten herum hinter silbernem Besteck und  Schüsseln aus gehämmertem Messing. Orthmoser nahm zwei Löffel und begann, auf dem Metall zu trommeln. Er erzählte, dass sein Vater Lottogewinne ausgezahlt hatte. Die Gewinner kamen in das Büro, und Orthmosers Vater fragte, ob sie von ihrem Gewinn etwas spenden würden. Er fragte immer, bevor er den Scheck ausschrieb. Seine Geliebte hieß Brigitte. Orthmoser hatte ihren Wohnungsschlüssel von seinem Vater geerbt.

„Sie hat .gesagt: Hol dir aus der Wohnung, was du gebrauchen kannst.“

Das war Orthmosers Bericht gewesen nach dem letzten Besuch im Krankenhaus. Wir mussten uns dann beeilen, bevor die Wohnung versiegelt wurde. Es kam genug zusammen, um Orthmosers Kombi vollzustopfen. Heute Morgen waren wir zum Markt gefahren und hatten diesen Standplatz bekommen. Ohne Dach, ziemlich am Ende..Die Sachen lagen auf einem alten Tapeziertisch. Seitlich dahinter standen Bücherkartons. Im Rücken befand sich eine hüfthohe Mauer, die man zum Sitzen oder als Ablage nutzen konnte. Solange es nicht regnete, war der Platz okay. Nur kalt.

Die Touristen kamen über eine Brücke direkt auf uns zu.

Wir hatten keine Ahnung, was wir für das Messingzeug nehmen sollten. Orthmoser lief die Marktstände ab.

„Der da vorn will zehn Euro für so ‘ne Schüssel“, sagte er, das Stück in der Hand, auf dem er vorhin getrommelt hatte.

„Dann nehmen wir acht“, sagte ich.

Weit jenseits der Brücke stand ein altes Gebäude. Das einzige, das noch nicht restauriert war. Orthmoser zeigte hinüber.

„Siehst du den grauen Schuppen? War ’n Tanzladen damals. Ich hab unten die Toiletten gemacht, zwei Jahre oder so. Du glaubst gar nicht . . .“

„Doch“, sagte ich. „Wird gereicht haben. Warum hast du aufgehört?“

„Wegen ‘ner Braut. Die wollte, dass ich tagsüber arbeite. Da bin ich zur Müllabfuhr.“

Wir redeten über Ostberlin. Alte Zeiten.

„Habt ihr irgendwas gesammelt?“, fragte ich. Schließlich wusste ich, dass sich im Müll einiges finden lässt.

„Leere Büchsen, wegen dem Aluminium. Wir waren zu dritt auf ’m Wagen, und einer ist auf der Müllkippe geblieben. Der hat nur gesammelt. Die anderen haben die Tour gemacht. Zum Schluss kam das Aluminium weg. Das war ‘n fünfzig für jeden.“

„Du hast verdient wie ein Staatssekretär“, sagte ich.

„Kann sein“, sagte Orthmoser.

Touristen blieben stehen und spielten mit dem Besteck. Einer nahm ein Messingtablett und stellte eine Frage in einer Sprache, die wir nicht verstanden.

„Acht Euro“, sagte Orthmoser.

Der Mann gab ihm Hartgeld.

Sowas ist praktisch am Anfang. Wir brauchten Wechselgeld. Ab und zu ging einer von uns in das große Museum. Pinkeln und Aufwärmen. Ich nahm ein Buch aus der Kiste. Irgendeine Biografie mit einer geknickten Seite.

„Wieso hatte Brigitte so viele Bücher?“

„Keine Ahnung. Den Alten hat das nicht interessiert.“

Das Buch hatte doch keine geknickte Seite. Es war eine eingeklebte Urkunde.

Der Genossin Brigitte Wenzel. Erster Preis beim Sportfest. Ministerium für Staatssicherheit. Mielke, Minister

Die Unterschrift war von Hand, wie es aussah.

„Schau mal“, sagte ich zu Orthmoser.

Er schaute.

„Ja. Und was nehmen wir dafür?“

Ich legte die Revolutionsbiografie mit der Urkunde zwischen das Messingzeug. Brigitte besaß einen sehenswerten Bestand antiquarischer Bücher. Ich kramte herum.

“Achtzig Euro“, hörte ich Orthmoser hinter mir sagen.

Die Acht war heute nicht ohne Zauber. Ich fand einige Goethe-Bände von 1830. Da hatte er noch gelebt. Vielleicht hielt der alte Mann eines dieser Bücher in den Händen. Las die goldene Beschriftung auf dem Lederrücken. Ich brauchte Platz auf dem Tisch.

Orthmoser verkaufte eine Teekanne und schob zusammen. Zwei Meter entfernt stand eine alte Frau, das Buch mit der Urkunde in den Händen. Sie starrte bewegungslos auf das Papier, für das sie achtzig Euro bezahlt hatte. War sie eine Verehrerin des unbeliebten Ministers gewesen? Sein Namenszug blieb nun bewahrt vor schmählicher Entstellung. Ich war gespannt, ob sich für Goethe auch eine Liebhaberin finden würde. Erst einmal musste ich ins Museum. Warmes Wasser auf den Händen. Als ich zurückkam, stand jemand vor den ausgelegten Büchern. Von hinten sah man nur den Pelzmantel. Ich lief herum. Eine Dame schlug überall die Inhaltsverzeichnisse auf.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

„Die Farbenlehre.“

„Wenn Sie Glück haben“, sagte ich.

Sie hatte Glück.

„Dann bekommen Sie jetzt wohl acht Euro für das Buch“, sagte die Kundin. „So teilte mir das ihr Kollege mit. Jeder Band acht Euro.“

Das war nicht sehr clever von Orthmoser gewesen. Ich konnte ihm aber keinen Vorwurf machen. Wir hatten heute die Rollen getauscht. Die Ware stammte von Brigitte. Also von ihm.

Er kam mit zwei Kaffeebechern und erzählte noch ein paar Geschichten von der Müllabfuhr. Im nächsten Job fuhr er Bier aus und wurde von irgendeiner Kneipenwirtin vernascht.

„Ich komme in den Laden rein, und die schreit Frischfleisch und.hängt mir schon am Hals. Du glaubst gar nicht, wie. . . “

„Doch“, sagte ich.

„Auf der Kellertreppe“, sagte Orthmoser.

Mittlerweile trug er einen Herzschrittmacher. Er ging vorsichtig, in einem fremden Takt. Was mich betraf: Ich war ein mobiler Händler ohne Fahrerlaubnis, der niemals damit rechnete, dass der Schrittmacher seines Fahrers unterwegs den Dienst versagte.

Mir war klargeworden, dass ich die Goethe-Bände durchsuchen musste. Dunkel erinnerte ich mich, dass der zweite Teil vom „Faust“ erst nach Goethes Tod erschienen war. Wahrscheinlich in dieser Gesamtausgabe, von der noch einige Bände in den Kartons lagen. Es wäre bescheuert, den Erstdruck von Faust II für acht Euro zu verkaufen.

Orthmoser berichtete von einer Rockband, deren Mitglieder ungefähr so alt waren wir der verschnörkelte Tortenheber, den er gerade taxierte. Ich suchte und hörte mit halbem Ohr hin.

„Die haben diesen Song für die Brauerei gemacht. Hörst du immer in der Werbung. Jedenfalls bekam jeder Musiker pro Woche zehn Kästen Bier gratis. Wir haben die beliefert. Irgendwann hatten alle die Keller voll und haben uns ihr Deputat geschenkt. `Braucht nicht abzuladen`, sagte einer nach dem anderen. Du glaubst  gar nicht . . .“

„Doch“, sagte ich. „Du hast eine Menge Freunde gehabt.“

„Nicht nur Freunde. Die Frauen tranken auch.“

Orthmoser bekam dubiose Aufträge. Er fuhr einen Truck ohne Frachtpapiere von Berlin nach Budapest. Eisern befolgte er die Regel, vom Gewinn etwas abzugeben. Wenn er nicht mehr weiterwusste, ließ er sich in die Psychiatrie einweisen.

„Das ist einfach. Erzähl in der Kneipe, dass du dich umbringen willst. Die Wirtin ruft die Polizei. Schon bist du in der Klapsmühle.“

Ich hielt das Buch in den Händen. Der erste der Nachlassbände, 1832 bei Cotta in Stuttgart.

Der Tragödie zweyter Theil.

Faust auf blumigen Rasen gebettet.

Man konnte sich dort auch Johann Wolfgang Goethe vorstellen, mit vorsichtigen Bewegungen nach seinem irdischen Ableben. So wie Orthmoser mit dem Schrittmacher. Was hatte dieses Buch bei Brigitte zu suchen? Das gab es damals in keinem Antiquariat. Ich vermutete, die Bücher standen bei Brigitte, bis sich ein Käufer im Ausland fand. Das Ministerium organisierte nicht nur Sportfeste. Die Schrankwand einer Privatwohnung war ein besseres Versteck gewesen als irgendein Tresor. Vor allem, nachdem sich alles aufgelöst hatte.

Orthmoser setzte sich auf die Steinmauer. Er sah müde aus.

„Dieses Buch“, sagte ich, „ist zu gut für den Markt. Besser, wenn wir es versteigern lassen.“

Er nickte: „Fifty-fifty.“

Die Augen blieben müde dabei. Orthmoser war der Anti-Faust. Seine Welt im Innersten zusammengehalten hatten Scheiße, Müll und Flaschenbier. Die Gretchen waren alles andere als unschuldig. Im Grunde gab es nicht viel zu erklären im Leben.

Orthmoser ging zum Museum, nachdem er sich erholt hatte. Er schmiss dem Musiker eine Münze in den Gitarrenkoffer. Dann verschwand er hinter der großen eisernen Tür.

Ich las die ersten Seiten vom Faust II und war sehr ergriffen. Blumiger Rasen. Ich hatte das Buch, wie es auf die Welt gekommen war. Die Ermahnungen meiner Mutter fielen mir ein: Ein Blick ins Buch und zwei ins Leben. Wind kam auf. Beinahe wäre ich mit einer großen Schüssel aus Messing davongeflogen.

 

 

67. Die Regentschaft

 

Aus den nachgelassenen Papieren des Kristian Ambrosius Franck, der Stadtschreiber gewesen war zu Prenzlau, Schwerin und Neustrelitz in den Jahren des Konradischen Friedens.

 

Der alte König stand in der Galerie. Er betrachtete die Bildnisse seiner Ahnen. Ausnahmslos hatten sie sich im Herbst ihrer Herrschaft porträtieren lassen, als betagte Männer in den  maßgeschneiderten Uniformen der Staatsgarde. Einmal waren sie junge Könige gewesen. Sie erfüllten das ihnen bestimmte Amt, bis es Zeit war, den Maler zu rufen. Wer sollte es dieses Mal sein?

Der alte König, in seinem 22. Lebensjahr gekrönt als Konrad Immanuel der Dritte von Pommern und Strelitz, dachte an die Professoren seiner Akademie. Er würde sich gern in mäßig bewegter Pose dargestellt sehen. Napoleon mit der Hand im Uniformrock war ihm immer zuwider gewesen. Ein Schlachtenmaler kam nicht in Frage. Es würde sich finden.

 

Konrad Immanuel der Dritte hielt sich für einen traditionsbewussten Menschen. Nun allerdings wagte er, an einen Bruch alter Gewohnheit zu denken. Zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses sollte in der gemalten Ahnenreihe ein Porträt der Gemahlin des Königs seinen Platz finden. Das war er ihr schuldig aus hohem Respekt. Konrad blickte aufmerksam in die Gesichter seiner Ahnen. Waren sie je in einer ähnlichen Situation gewesen wie Konrad als junger Kronprinz? Er sollte heiraten. Er musste heiraten. Verschiedene Kandidatinnen wurden ihm vorgestellt. Sie alle konnten nicht wissen, dass Frauen für Konrad keinerlei erotische Faszination besaßen. So erreichten die Damen, wenn sie auf dezente Art und Weise ihre weiblichen Reize betonten, bei Konrad das Gegenteil der erhofften Aufmerksamkeit. Einzig Ingrid Charlotte blieb ihm im Gedächtnis. Sie war von schlankem, knabenhaftem Körperbau, trug die Haare kurz und zeigte keine Neigung zur Koketterie. Er holte nähere Auskünfte ein und beauftragte den Hofmarschall, einen formellen Antrag zu übermitteln. Gleichzeitig zog er den Marschall, der damals in dem Alter war wie der König heute, ins Vertrauen.

 

So wurden sie getraut, Ingrid Charlotte und er, in der großen Residenzkirche unter Anteilnahme des Volkes. Ingrid Charlotte war in Kenntnis gesetzt worden. Nachts löschte sie das Licht und legte sich auf den Bauch. Während ihrer ersten Schwangerschaft trug sich Konrad mit dem schweren Gedanken, dass der schmale Körper seiner  Frau den Belastungen der Entbindung nicht gewachsen sein könnte. Der Arzt beruhigte ihn mit dem Hinweis, dass sich Ingrid in hohem Maße der Bedeutung ihrer Mutterschaft bewusst sei. Es ist eine Frage des Willens. Ingrid wollte und schenkte dem Gatten drei Söhne.

Hatte sie an ein Märchen gedacht, fragte sich der König.

Die Jungen wuchsen heran. Arrangements wurden gefunden, die es sowohl dem König als auch der Königin gestatteten, ihren bevorzugten Neigungen nicht gänzlich entsagen zu müssen. Ingrid nahm ihre Freiheit wahr, ohne jemals den geringsten Skandal zu verursachen.

 

Es war dieser Ehe geschuldet, dass sich in Konrad eine Neigung zum Ausgleich entwickelte. Seinem Volk hatte er einen milden Protestantismus verordnet. Er wusste, dass Männer wie Martin Luther in großem Ansehen standen. Ebenso wie Luther wollte er, dass die Pastoren in gesunder Ehe lebten. In diesem wie auch in anderen Punkten gelang es Konrad Immanuel, Haltungen zu formulieren, die durchaus nicht seinem privaten Geschmack entsprachen. Das war, sinnierte der Regent in der Galerie, auch den diplomatischen Beziehungen seines Hauses dienlich. Mit einem feindlich gesinnten Nachbarn ließ sich bei einigem Geschick  eine Übereinkunft finden, die das Leben der jungen Leute schonte. Sie dankten es ihm mit naivem Patriotismus.

 

Einzig Jacob, den ältesten Sohn,  zog es zum Militär. Man ließ ihn zum Offizier ausbilden, gewiss. Der Vater lebte allerdings mit dem bedrückenden Gefühl, dass der designierte Thronfolger, sollte er einmal im Amte sein, seine militärischen Fähigkeiten auch anzuwenden gedachte.

Ingrid Charlotte teilte seinen Kummer.

Nun geschah etwas, das wir hier, gemäß den höfischen Verlautbarungen, als vollkommenen Zufall betrachten wollen. Das königliche Theater engagierte für eine Spielzeit (und eine exorbitante Gage) die junge Sofia Bernardi. Die Schauspielerin war zweifellos schön und talentiert. Außerhalb der Theatersphäre beeindruckte sie mit sinnesfroher Natürlichkeit, gelegentlich veredelt durch klug kalkulierte Geistesblitze. Es war nicht überraschend, dass sich Jacob heftig in sie verliebte. Seine Eltern kritisierten Jacobs Bemühungen um Sofia keinesfalls: Allerdings machten sie ihrem Ältesten auch klar, dass mit einer offiziellen Beziehung zur berühmten Schauspielerin seine Stellung in der Thronfolge hinfällig würde.

In Jacob siegte die Liebe. Nach Ablauf der Spielzeit schiffte er sich mit der ihm nunmehr angetrauten Sofia Bernardi nach Amerika ein.

 

„Der Zweite wird es machen“, erklärte der König den Bildnissen seiner Ahnen.

 „Er wird Konrad Immanuel der Vierte sein.“

 Seit Jacobs Heirat hatte er den Zweitgeborenen in zunehmendem Maße mit den Staatsgeschäften vertraut gemacht. Dieser Junge, dachte der Vater, ist nicht der Älteste, dem man Verantwortung zuweist; er ist auch nicht der Jüngste, dem man die Verantwortung nicht zutraut. Wer in der Mitte ist, hält die Dinge am besten zusammen. Er hat es verstanden. Er wird es auch am rechten Umgang mit seinem jüngeren Bruder nicht fehlen lassen.

Dieser dritte der Söhne hieß Albert Fabricius. Albert hatte sich als Kind auf geradezu närrische Weise seinem Hauslehrer angeschlossen. Das war Leibschütz gewesen, ein promovierter Dozent der Naturwissenschaften. Ingrid hatte ihn ausgesucht. Vielleicht war sie ein klein wenig verstimmt, dass Albert den Mann so vehement okkupierte.

Nun ja, dachte der König.

Zu seinem sechzehnten  Geburtstag wünschte sich Albert ein Observatorium. Er lud berühmte Wissenschaftler ein. Der König fand, dass es dem Land gut anstand, einen respektablen Ruf bei den Gelehrten zu haben. Albert sagte, dass die Wissenschaft auch der Wirtschaft von Nutzen sein könnte. Das war eine von Leibschützens Lieblingsideen. Ob  sie auf lange Sicht etwas taugte, würde der nächste König entscheiden müssen. Immerhin hatte Leibschütz ein Verfahren ersonnen, mit dem man aus Kartoffeln Spiritus destillieren konnte. Der König erließ eine Schnapssteuer. Die Einnahmen waren beträchtlich.

 

Die Uniform würde er tragen für das Gemälde. Das machte er sonst nur an zwei Tagen im Jahr. Der eine war sein Geburtstag, der im ganzen Land gefeiert wurde. Der andere, ein nationaler Gedenktag, sollte daran erinnern, dass in grauer Vorzeit an eben diesem Tag fremde Eindringlinge aus dem Land gejagt wurden. Besser gesagt: Sie wurden besiegt in einer infernalischen Schlacht, die jeden getöteten Eindringling mit zwei Söhnen des Landes verrechnete. Dieses Blutopfer sollte nicht gefeiert werden, dachte der König im Stillen. Während er an den Gedenktagen in goldbetresster Uniform die wenigen Befehle gab, die er zu geben hatte, richtete er gleichermaßen eine Botschaft an sich selbst, die scheinbar dem Sinn dieser Tage widersprach: Es ist feige, jemanden zu töten, um seine Überlegenheit zu beweisen.

Der König behielt diese Auffassung für sich. Er ließ niemanden spüren, wie wenig er gewillt war, die Staatsgarde zu anderen Zwecken einzusetzen als dem pompösen Empfang ausländischer Gäste. In keiner offiziellen Verlautbarung gab es einen Hinweis auf seine Staatsphilosophie. Nur in Ingrid Charlotte fand er seine schweigende Bestätigung.

 

Wenn diese Zeilen geschrieben werden, ist das Bildnis längst gemalt. Ebenso wie das zarte Porträt von Ingrid Charlotte. Sie starb einige Wochen vor ihrem Gemahl.

Hierin lag wohl auch der Grund, warum der König den amtierenden Stadtschreiber in meiner Person an sein Sterbebett rief, um ihn für die Abfassung des vorliegenden Berichtes zu autorisieren.

 

Kristian Ambrosius Franck, Stadtschreiber in Pommern und Strelitz

 

 

68. Aurora oder Die Flucht

 

Wir wurden einem Fourageleutnant zugeteilt, sollten Listen führen über die Beute, und die Versorgung der Pferde und der Truppe bewerkstelligen. Die Armee lebte von dem, was sie eroberte. In der Nähe des explodierten Pulverturms lagen Leichen.

„Wenn es richtig knallt“, erklärte mein Kamerad Gottfried, „ersticken die Leute. Die Explosion zieht den Sauerstoff aus der Luft.“

Das hatte er im Bergbau gelernt. Einige mit Musketen bewaffnete Patrouillen achteten darauf, dass keine Zivilisten die Läden plünderten. Es sollte genug für den König übrigbleiben.

„Geht in die Kneipen“, schrie der Leutnant. „Wir müssen Inventur machen.“

 

Fahle Dämmerung. Ein missglückter Übergang vom Tag zur Nacht. Seitdem der Pulverturm in die Luft geflogen war, lag eine Dunstglocke über der Stadt. Wir hatten lange nicht geschlafen. Ein Feldscher untersuchte in einem Schuppen am Hafen die hilflosen Körper, die zu ihm gebracht wurden. Wir hörten schlimmes Jammern. Der Feldscher war kein Landsknecht, der mitunter den Gnadentod schenkte. So, wie er es für sich selbst wünschen würde.

Stundenlang waren wir mit den aufgefundenen Kanonen beschäftigt gewesen.  Ein Protokoll wurde angefertigt. Wir bekamen Branntwein und setzten uns auf die Mole. Morgen sollte ein Tross unter Bewachung zurück ins Vaterland. Der größte Teil der beweglichen Beute kam in die Lager und Zeughäuser des Königs.

„Wir stehen auf der Liste für den Tross“, sagte Gottfried.

Das wusste ich bereits.

„Wenn sie merken, dass wir nicht mehr da sind, sind wir schon auf hoher See.“

Dieser Satz durchfuhr mich. Strafbar war das. Sträflich konnte es auch sein.

Auf Reede in Sichtweite lag ein größerer Zweimaster. An die Mole angebunden waren kleine Fischerboote, teilweise ramponiert durch Kanonenkugeln, die mehrmals aufschlugen und überall landen konnten.

„Klappt das?“, fragte ich. „Sie prügeln uns tot sonst.“

„Ja.“

Gottfried nickte, trank und schüttelte den Kopf.

„Ich will nach Amerika. Der Schoner bringt uns bis Hamburg. Da sind wir erst mal in Sicherheit.“

 

Nachdem der Kapitän die Tür geschlossen und von außen irgendwas davorgeschoben hatte, waren wir gleichermaßen frei und gefangen. Ein Licht sollten wir nur im Notfall anzünden. Wir saßen im Dunkeln, konnten aber alles ertasten, was sich in dem kleinen Verschlag befand. Eine leere Heringstonne als Latrine. Wir hofften sehr, sie nicht benutzen zu müssen. Auf dem Fußboden lag grober Stoff, der konnte einmal als Segel gedient haben. Zwei Decken waren von gleichem Zeug.  Keiner von uns beiden hätte sich zu voller Größe erheben können.

„Es geht schon“, sagte Gottfried. „Eine Silbermine ist enger.“

Ich hoffte, dass durch einen unsichtbaren Spalt etwas Luft hereinkam. Zu spüren war nichts. Wir saßen und lehnten mit den Rücken an der Holzwand. Proviant hatten wir am Mann. Wasser, Branntwein, Brot und Speck. Zwei Tage sollte die Reise dauern, die Nächte dazu. Wir würden Tag und Nacht nicht unterscheiden können.

„Ruhe“, flüsterte Gottfried. „Endlich.“

Als wir spürten, dass das Schiff auf See war, kam eine große Erleichterung über uns. Bis dahin hatten wir die Angst im Schnaps ertränkt. Beim Auf und Ab der Wellen holte uns der Schlaf. Ein riesiger Fisch war das, der uns verschluckt hatte. Ein Fieber, aus dem wir mit schmerzenden Gelenken erwachten. Die Münder waren trocken. Die Füße stießen gegen das Latrinenfass. Nach und nach floss Blut in taubes Gewebe und den Kopf und schien uns über das Meer zu treiben. In der Dunkelheit kribbelte ein Gran des salzigen Wassers zwischen den Stoppeln unter der Nase. Es roch nicht mehr nach den Leichen, die dem Tross im Wege gelegen hatten.

Uns war aufgetragen, den Wagen freie Fahrt zu verschaffen. Trümmer und tote Körper mussten weggeräumt werden. Wir waren nicht die einzigen, die sich mühten. Eine halbe Kompanie war vor dem Tross. In dem Getümmel griffen Gottfried und ich den Körper einer toten Frau, deren Haare bis auf die Erde fielen. Es schien, dass sie sich schlafend stellte, um geschaukelt zu werden. Langsam gingen wir mit ihr zur Seite. Wir schaukelten, als ob sie davon lebendig werden könnte. So zog der Tross an uns vorbei. 

Niemand stellte uns zur Rede, während wir mit der toten Frau durch die Stadt gingen. Die Spitzen ihrer Haare bekamen die Farbe des Straßendrecks. Der Rock war blutig und zerrissen. Wir hatten die Ausrede, sie zum Feldscher bringen zu wollen. In der Nähe des Hafens lehnten wir die Frau an ein Boot, das kieloben auf dem Trockenen lag. Dort saß sie und träumte. Gottfried warf Zweige über den Rock. Unterhalb der Mole pochte ein unglaublich kräftiger Matrose auf die Ruder. Verfolger hätten uns nicht einholen können. Über eine Strickleiter kamen wir an Bord des Schoners. Das war es.

 

„Hast du ihn schon bezahlt?“, fragte ich Gottfried.

„Hälfte Vorschuss, die andere in Hamburg.“

Das klang wie ein vernünftiger Handel. Allerdings brauchte der Kapitän uns hier unten nur verrecken zu lassen, um sich die zweite Hälfte abzuholen.

Gottfried redete weiter.

„Der Kapitän muss in Hamburg zum Seefahrtsamt. Mit seinen Frachtbüchern.“

„Was gehr das uns an?“

„Es gibt keine Frachtbücher. Er sagt, er hat alles im Kopf. Der kann genauso wenig schreiben wie ich. Glaub mir das.“

„Soll ich ihm helfen?“

„So ist das abgemacht. Das ist die zweite Hälfte der Bezahlung.“

Vor unserem Verschlag begann ein großes Rumoren. Die Tür ging auf. Es konnte nur wenig Licht gewesen sein, das herein drang, aber es schmerzte heftig in den Augen. Wir saßen blind und hörten die Stimme des hünenhaften Matrosen:

„Die Luft ist rein oben. Saubere Seeluft. Wird euch guttun. Kippt die Latrine über Bord. Nachher beim Käpt’n.“

Wir hatten Zeit, uns an das Licht und das Gehen zu gewöhnen. Auf dem Deck sah ich zum ersten Mal einen Hafen von der Seeseite aus. Kleine Ruderjollen pendelten zwischen dem Ufer und den großen ankernden Schiffen. Die gemauerten Türme am Kai waren sicher Lager der Handelsleute, die hier das Sagen hatten. Der Kapitän war in Eile.

„Hinrich rudert uns rüber. Es gibt einen Buchbinder neben den Bureaus. Kaufen wir leere Bücher. Suchen eine Wirtschaft mit einem ruhigen Raum.“

Er musterte uns und zuckte mit den Nasenflügeln.

 

„So geht das ja nicht. Ihr bekommt Wasser und etwas Seife. Macht hin.“

Hinrich kümmerte sich. Er besaß einen Kamm aus Haifischzähnen und ein winziges Fläschchen mit kölnischem Wasser.

„Wegen der Mädchen“, sagte er und grinste. „Lasst euch bloß nicht einfangen nachher. Sie sind wie Kletten. Es wird billiger, wenn ihr eine nehmt, solange ihr nüchtern seid.“.

„Wir haben zu tun“, sagte Gottfried.

„So viel bestimmt nicht.“ 

Hinrich behielt seinen Gesichtsausdruck, während er uns ans Ufer ruderte. Der Kapitän gab ihm Anweisungen für den Landgang. Einige Erledigungen.

Es waren wohl Konsultationen, bei denen starke Oberarme weiter halfen als geschliffene Sätze.  

 

Im Nebenzimmer einer Schenke stellte ich ein kleines Tintenfass auf den Tisch, legte Federn daneben und schlug das nagelneue Buch auf. Der Buchbinder hatte es mit einem Einband aus Leder versehen, der sich von salziger Luft nicht so schnell zerfressen ließ. Wir hatten gebratene Heringe und Kartoffeln gegessen und tranken das helle Bier, das tagsüber ausgeschenkt wurde. Das Wasser in der Stadt machte krank. Alle wussten das und tranken Bier, selbst die Kinder der Wirtsleute.

„Die Tour ging im letzten Jahr los“, sagte der Kapitän. „Im März, gleich nachdem das Eis weg war. Ich brachte Getreide nach Helsinki. Dann hatte ich Felle und Holz für Königsberg.“ 

Das schrieb ich auf und wartete, bis er sich an die genauen Mengen erinnern konnte. Bis in die Nacht segelten wir über das baltische Meer, von einem Hafen zum anderen. Wir brachten Marmor nach Sankt Petersburg und einen Zirkus nach Stockholm. Einige Passagiere fuhren immer mit. So kam es, dass der Kapitän von vielen Menschen erzählen konnte. Wir wurden nicht fertig in dieser Nacht. Für Gottfried und mich fand sich eine Dachkammer, nachdem der Kapitän bezahlt hatte. Er gab uns auch noch ein Taschengeld mit den Münzen, die hier angenommen wurden. Wir teilten uns die Kammer wohl mit einigen Tieren, die unter dem Dach wohnten. Sie kam uns trotzdem vor wie ein Palast. Nach den schlimmen Dingen sind die weniger schlimmen Dinge ein großer Gewinn. Ich dachte an die tote Frau in Stettin. Mir war, als ob ihre langen Haare über mein Gesicht fielen. Der blutige Rock bedeckte meinen Körper. So früh und unglücklich war die Frau zu Tode gekommen, dass ihre Seele noch nicht gehen wollte. Sie hatte den toten Körper verlassen und war ein Teil meiner Psyche geworden, diesem seltsamen Geist, der in jedem von uns wohnt und immer eine andere Gestalt hat.   

      

69. Das Herzkissen

 

In der Nacht hatte Bergwald etwas geträumt, aber es war kein richtiger Traum. Beim Aufwachen erschien ihm  das Geträumte Wirklichkeit gewesen zu sein. Eine Erinnerung oder die Lösung eines Rätsels. Worin aber bestand das Rätsel? Bergwald lehnte auch die Existenz von Erinnerungen ab. Geschehnisse sind zu vielfältig, um später reproduziert werden zu können. Im Traum aber kommt manchmal das Gefühl zurück, das man einmal jemandem entgegenbrachte.

Am oberen Ende des Bettes lag das Herzkissen. Es lag auf Bergwalds Seite, er musste in der Nacht danach gegriffen haben. Seit Wochen war der Platz des Kissens auf der anderen Seite. Dort, wo niemand mehr schlief. Silke hatte es aus dem Krankenhaus mitgebracht, als Geschenk einer Schwester. Das Kissen, obgleich unglaublich kitschig, verschaffte dem Kopf eine angenehmere Lage. Es mag diesen eigenartigen Traum verursacht haben.

Bergwald hatte den Inhalt des Traumes bereits vergessen. Nur das Gefühl war geblieben. Er spürte Silkes Anwesenheit. Sie lag auf ihrer Seite des Bettes, durch eine zusätzliche Matratze erhöht. Die Prinzessin auf der Erbse. Silke betäubte ihre Schmerzen mit einem Morphinpräparat. Sie las in einem Buch oder schlief oder betrachtete Bergwald. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Rotwein.

„Was machst du gerade?“

„Ich spiele Meyer-Lansky“, sagte Bergwald und erledigte am Laptop eine Transaktion an der Börse. Der Rechner stand auf einem kleinen Tisch im Schlafzimmer. Silke liebte die Anspielung auf den Mafia-Buchhalter, dem man nie etwas nachweisen konnte.

„Kein Suff, keine Affären“, erklärte Bergwald. „Er hat gelebt wie ein Postbeamter.“

Ihre Freunde waren anders gewesen. Es hatte höchstens für Drogen gereicht. Seit einem Vierteljahr bekam Silke die Drogen umsonst. Das war das Eingeständnis der Medizin, ihr nicht mehr helfen zu können. Sie bekam jetzt alles Mögliche. Eine Gehhilfe, einen Toilettenstuhl, einen orthopädischen Büstenhalter und die nervenden Besuche eines Palliativarztes. Der Arzt übermittelte seine Rezepte telefonisch an den Lieferservice einer ihm nahestehenden Apotheke. Später klingelte ein Junge, der auf dem Fahrrad durch die Stadt fuhr und in seinem Rucksack ein Vermögen mit sich herumtrug. Er drückte Bergwald an der Tür lächelnd die Morphinpackungen in die Hand. Der einzige sympathische Mensch weit und breit, konnte man meinen.

Einmal blieb Bergwald stehen im Korridor und schrieb ein paar Zeilen.

Die Frage nach dem Regen ist die Frage nach dem Schicksal. Ich mag beides. Es gibt keine Antwort, aber es gibt den Regen und das Schicksal. Sie bestehen aus Tropfen, die sich um einen schmutzigen Punkt bilden und schwer werden und herunterfallen.

„Bist du noch da?“ fragte Silke.

Er ging ins Schlafzimmer und las ihr die Sätze vor.

„Geh wieder vor und schreib weiter“, sagte Silke. „Vorher machst du das Licht aus. Ich schlafe. Oder? Gib mir von dem Morphin. Nachher liest du mir noch etwas vor. Machst du das?“

„Ja“, sagte Bergwald.

Sie machte ihm Mut. Ihre Krankheit machte ihm Mut. Das klingt merkwürdig.

Sie war ehrlich. Es gab nichts mehr zu heilen. Es gab nur noch Morphin für das Herzkissen.

Dieses Kissen ertrug keine Schmerzen. Es war ein Kind, das weint, wenn jemand anderem etwas weh tut. Silke drückte das Kissen an die Brust, dorthin, wo nach der Operation mehr Platz war.

„Schon wieder gut“, tröstete Silke das Kissen.

Sie schlief ein. Bergwald blieb wach. Er war gerne wach, seit Silke gekommen war. Diese Krankenschwester, von der das Kissen stammte, musste über eine Menge Erfahrung verfügen. Auf einem Regal im Korridor lagen einige Bücher und Schreibzeug. Dort stand Bergwald unter der Lampe und machte sich Notizen.

Sokrates blieb stehen. Er stand im Regen, bis man ihn zum Tode verurteilte. Die Richter ließen ihn reden. Er wollte nicht fliehen. Der Regen fiel in den Becher, aus dem Sokrates trank. Seine Schüler hörten ihm aufmerksam zu.

Silke wollte an keinen anderen Ort. Der Palliativarzt quasselte. Es ging um einen Hospizplatz. Schließlich hörte er auf und nahm Bergwald mit zu seinem Auto. Er gab ihm Tabletten, die sich im Mund auflösen und durch die Schleimhaut absorbiert werden.

Diese Tabletten legte er Silke unter die Zunge, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte.  Sie schien keine Schmerzen zu spüren. Er holte eine Schüssel mit warmem Wasser und begann, ihren gequälten Körper zu waschen. So hatten die Amazonen ausgesehen, die kriegerischen Frauen. Wie mochte es jetzt für sie am bequemsten sein? Bergwald legte sie auf die Seite. Solange sie atmete, war das wohl das Beste. Das dachte er, aber ihr Körper hatte auch ohne Bewusstsein einen eigenen Willen. Als Bergwald  wieder am Laptop saß und laut über seine Transaktionen sprach, drehte sie sich auf den Rücken. Der Körper schob sich zur Bettkante, so dass ein Bein von der Matratze rutschte und der Fuß beinahe den Boden berührte. Wollte sie aufstehen? Er ging zu ihr, fragte und erhielt keine Antwort. Er kitzelte ihren Fuß. Sie reagierte nicht. Wenn er ihr Bein auf das Bett legte, rutschte es wieder zurück in die alte Position. Die Bewegung erinnerte ihn an ein Kind, das sich in einer heißen Nacht Kühlung verschaffen will.

„Du bist jetzt einigermaßen wohlhabend“, sagte Bergwald.

„Eine  Ganovenbraut, die nicht aufs Geld gucken muss. Du fliegst aus keiner Wohnung mehr. Du bekommst keine böse Post. Ein Anwalt kümmert sich um ein paar Kleinigkeiten.“

Bergwald sprach seine Sätze deutlich, aber nicht laut. Er hoffte, dass in seiner Stimme ein wenig von der Ruhe mitklang, die er verspürte. Silke hatte ein Zuhause. Er nahm etwas von dem Morphin. Das war auch gut zum Leben. Draußen spielten Kinder, das Fenster war angeklappt. Die Geräusche des warmen Abends mischten sich mit Silkes rasselndem Atem, der nichts mehr zu versorgen hatte. Ihre Hände hoben sich in einer unwillkürlichen Bewegung. Danach war es still. Bergwald lauschte erstaunt. Er hörte nur die Kinder, legte eine Hand nacheinander auf Silkes Augen und küsste ihre Stirn. Er öffnete das Fenster weit, man weiß nicht, wie viel Platz eine Seele braucht.

Am nächsten Tag kam Bergwald auf die Idee, das Herzkissen dem Jungen mit dem Morphin zu schenken. Er hatte noch nicht verstanden, dass der Junge nicht mehr kommen würde. Das Herzkissen blieb also bei Bergwald. Er berichtete nunmehr dem Kissen von seinen Gewinnen und Verlusten. Es war nicht dasselbe, aber jetzt hatte er mit dem Kissen zusammen geträumt. Im Nachhinein erschien ihm das zwangsläufig. Er hatte das Herzkissen nicht zur Erinnerung aufbewahrt.               

 

 

70. Ein Oberschüler

 

Die Internatsschüler nahmen jeden Sonnabend den Regionalzug, der am frühen Nachmittag aus Angersburg abfuhr. Der Zug fuhr bis zum letzten Dorf vor der Grenze, dann fuhr er wieder zurück. Die Ortsnamen in dieser Gegend endeten auf „–ow“, die Nachnamen der Schüler manchmal auch.

Carmen Pritzkow kontrollierte die Fahrscheine. Sie machte eine Lehre bei der Reichsbahn und traf alte Klassenkameraden, die in der Kreisstadt weiterhin zur Schule gingen. Die meisten drängten sich im Raucherabteil zusammen. Das kurze Wochenende hatte sie in Aufregung versetzt. Carmen trug eine Uniform und prüfte die Gültigkeit der Schülerfahrkarten. Sie kannte ihre Passagiere beim Vornamen, aber sie prüfte trotzdem.

„Ist sie nicht nett- und flach wie’n Brett“ reimte jemand laut hinter ihrem Rücken.

Carmen blieb unbeeindruckt.

 

Thomas saß im nächsten Abteil und hatte den Spruch gehört. Er lachte nicht darüber. Die johlende Meute weckte in ihm eine ungute Erinnerung. Der Zug hielt in Dumerow und Carmen musste kurz auf den Bahnsteig. Sie pfiff auf ihrer Trillerpfeife und kam gleich in das Abteil, in dem Thomas saß.

„Was ist los? Hast du kein Geld mehr für Zigaretten?“

Es kann sein, dass in ihrer Stimme ein verhaltener Stolz mitschwang. Sie war schon in der Lehre und bekam eigenes Geld. Nicht viel, aber sie könnte sich Zigaretten kaufen. Wenn sie rauchen würde.

„Ich hab damit aufgehört“, sagte Thomas.

„Das wird nicht lange gehen“, sagte Carmen und betrachtete die Fahrkarte. Thomas betrachtete Carmen und versuchte herauszufinden, ob der Spruch vorhin stimmte. Die Uniform machte es schwer, zu einem Urteil zu kommen. Wäre sie eine Internatsschülerin, hätte er es schon lange gewusst. Die Tür des Duschraums hatte ein Loch, das nur mit Zahnpasta verschmiert war. Die Mädchen vergaßen gelegentlich, die bröcklige Abdichtung zu erneuern. Jemand vermutete, dass das Absicht war, aber darüber wollte sich Thomas kein Urteil erlauben- und fragen konnte er schlecht.

 

Nebenan johlten sie wieder. Ein Name war gerufen worden. Es war der Name der Band, die am Abend in Caselow zum Tanz spielen sollte. Sie alle bewunderten die Musiker, die sich trotz gelegentlicher Auftrittsverbote ihr Programm nicht vorschreiben ließen.

„Kommst du auch?“ fragte Thomas.

„Soll ich mich ärgern lassen?“ fragte Carmen zurück. „Habe ich nicht nötig.“

Sie gab ihm die Fahrkarte.

„Ich fahre hin“, sagte Thomas. „Bei irgendwem hinten auf dem Moped.“

„Schön für dich“, sagte Carmen.

Schon beinahe draußen: „Fall nicht runter beim Rückweg.“

Thomas stand auf. Im Gang zwischen den Sitzen nahm er Grundstellung ein. Der linke Fuß war vorn, der rechte eine Fußlänge seitlich dahinter.  Der rechte Ellbogen deckte die Leber, der linke Arm schlug Geraden aus der Distanz. Thomas versuchte, die Schläge mit einer Schulterdrehung zu verbinden. Seine dünnen Arme allein erzeugten nur wenig Schlagwirkung. Er ging zwei Schritte vor und schlug in die Luft. Links-links-rechts. Gleich wieder zurück. Deckung. Im Kreis gehen, aber hier war das nicht möglich. Also von vorn: Links-links-rechts.

„Sollen sie nur kommen“ dachte Thomas. „Sollen sie nur kommen.“

 

Vor drei Wochen hatten sie vor ihm gestanden, das war auch in Caselow gewesen.

Zunächst verstand Thomas die Situation nicht.  Er kam von den Toiletten, jemand versperrte ihm plötzlich den Weg. Einer aus dem Dorf, nur wenig älter. Thomas hatte das Gesicht seines Gegenübers schon im Saal gesehen, flüchtig und zwischen Freunden, die jetzt ungefähr zwei Meter hinter ihm einen Pulk bildeten. Das sah nicht gut aus. Thomas schaute sich um, suchte im Dunkel nach seinen Mitschülern. Einige waren draußen, blieben aber im sicheren Abstand. Sie warteten ab. Alle warteten. Aber worauf?

Der Junge gegenüber griff in Thomas Jacke. Er griff in den Stoff wie bei einem Judokampf. Thomas hatte kaum Spielraum. Er konnte den Griff nicht wegschieben oder abschütteln. Der andere hatte die Kontrolle. Als er zuschlug, musste er wenigstens loslassen. Thomas wedelte mit den Armen. Das war keine gute Verteidigung. Trotzdem hörte sein Gegner irgendwann auf.  Die aus dem Pulk sagten irgendwas. Die Oberschüler blieben still.

Den nächsten Schlag sah Thomas nicht. Er kam von der Seite aufs Ohr. Das wusste Thomas erst am nächsten Morgen, als er den blutigen Schorf im Spiegel bemerkte. Ein übles Foul, aber bei solchen Kämpfen gibt es keine Disqualifikation.

Thomas ging zu Boden, er war wohl einen Moment bewusstlos. Alle gingen weg, bis auf den Freund, mit dem er hergefahren war. Als Thomas wieder stand, spürte er seine nasse Hose. Dreck oder Pisse oder beides. Sie fuhren gleich nach Hause. Es war kalt auf dem Moped.

 

Die Geschichte drang durch zum Direktor der Oberschule. Einer der Schüler hatte berichtet. Der Direktor erstattete Anzeige und änderte den Plan des Sportunterrichts. Die Mädchen blieben auf dem Sportplatz, die Jungen gingen zum Training in den Boxverein von Angersburg. Thomas und sein Zimmerkamerad Hansi borgten sich Boxhandschuhe und übten auf dem Flur des Internats. Die anderen schauten manchmal zu und schlossen Wetten ab. Das Internat befand sich im obersten Stockwerk des Schulgebäudes. Die Handschuhe klatschten gegeneinander. Man hörte das noch unten vor den Waschräumen. Thomas versuchte, nicht wegzulaufen. Nur seitlich rausgehen und dann: Links-links-rechts. Es richtete nicht viel aus, aber es hielt den Gegner auf Abstand. Wenigstens das.

 

Am frühen Abend verabschiedete sich Thomas von den Eltern. Er bekam einen Wohnungsschlüssel und ging zu  Wölfi, der eine Elektrikerlehre bei seinem Vater machte. Wölfi war klein und dick und besaß ein Moped. Sie fuhren so zeitig los, damit Wölfi der Band beim Aufbau zugucken konnte. Das war sein Teil des Abends. Einmal durfte er ein kaputtes Kabel löten. Die Musiker lobten ihn. Wölfi hatte inzwischen ein Hallgerät gebastelt. Das musste sich Thomas unter den Arm klemmen, während sie über Feldwege nach Caselow zuckelten.

„Die werden sich wundern“, schrie Wölfi gegen den Wind.

Thomas versuchte, diesen Spruch auf seine Lage zu übertragen. Selbst der kleine dicke Wölfi brachte es irgendwie fertig, sich Respekt zu verschaffen.  Sie fuhren mit dem Moped an Erntemaschinen vorbei, die am Rand der Felder abgestellt waren. Zurzeit waren die Maschinen jeden Tag im Einsatz. Die Natur bestimmte, wann etwas getan werden musste.

 

Links-links-rechts. Mit dem Hallgerät unterm Arm konnte Thomas nicht in die Luft boxen. Er machte die Bewegungen im Kopf. Automatisch sollte das geschehen und vor allem, bevor sich jemand in seiner Jacke festkrallen konnte. Einfach schlagen, wie auf dem Internatsflur. Diesmal ohne Handschuhe. Warum waren sie auf mich gekommen? Thomas überlegte. Vielleicht wollten sie herausfinden, ob ihm jemand helfen würde. Was ist los mit den Oberschülern? Jetzt wussten sie es.

Wölfi fuhr auf den Hof des Caselower Dorfkrugs. Er stellte das Moped neben den Kleinbus, mit dem die Band gekommen war. Sie gingen durch den Hintereingang, Wölfi mit dem Hallgerät vorweg. Ein paar Stufen hoch und vorbei an einem alten Klavier, das die Musiker nicht brauchten. Der Bandleader entwirrte ein Kabelknäuel.

„Ich habe ein Hallgerät gebaut“, sagte Wölfi. „Nach einem originalen Schaltplan. Sollte funktionieren, das Ding.“

„Stell hin“, sagte der Bandleader. „Können wir das überhaupt anschließen?“

„Geht alles“, verkündete Wölfi aufgeregt. „Ihr habt die richtigen Strippen im Kabelkoffer.“

Er stellte das Gerät auf das Klavier und blieb dort. Mit seinen kleinen Augen verfolgte er, wie die Musiker ihr Zeug verkabelten. Thomas ging durch den leeren Saal zum Gastraum. Der Wirt hatte noch niemanden nach hinten gelassen.

Am Tresen kaufte Thomas zwei Gläser Bier und schaute zu den besetzten Tischen. Dort saßen Leute aus dem Dorf. Die Alten machten Feierabend und die Jungen bereiteten sich auf den Tanzabend vor. Durch den Zigarettenrauch konnte man die Gesichter nicht gut erkennen. Sie redeten laut, ohne ein Thema zu haben. Ob sie sich absprachen, wer nachher den Streit anfängt? Thomas  trank einen Schluck, bevor er mit den Gläsern nach hinten ging. Betont aufrecht bewegte er sich, die Füße mit viel Kontakt zum Boden.

„Sollen sie nur kommen“, flüsterte er einige Male. „Sollen sie nur kommen.“ 

Der Saal hatte sich schnell gefüllt. Die Band begann mit „Smoke on the water“, und die Mädchen aus der landwirtschaftlichen Berufsschule stürzten auf die Tanzfläche. Ihnen schien das wirklich Spaß zu machen. Die Jungen tranken erst Bier. Danach sickerten sie ein in den zappelnden Haufen. Die Lichtanlage der Band funktionierte. Sie spielten ab und zu einen ruhigen Titel zum Kennenlernen. Rote und blaue Punkte huschten über die beieinander stehenden Pärchen.

Thomas saß an keinem der Tische. Er stand am großen unbeheizten Kachelofen in der Nähe der Bühne. Neben ihm waren Lautsprecherboxen aufgetürmt. Er sah jetzt auch einen Tisch mit Gesichtern, die er aus der Oberschule kannte. Manchmal schaute jemand herüber, ohne zu reagieren. Ab und zu ging Thomas in den Gastraum. Einmal winkte Wölfi von der Bühne. Thomas achtete auf den Effekt. Es war der Hall eines großen leeren Gebäudes. So war es im Schulhaus, wenn die Boxhandschuhe zusammenklatschten.

Im Lauf des Abends wurde alles dunkler, enger und fleckiger. Thomas stand nicht mehr allein am Ofen, aber es hatte gedauert, bis er das bemerkte. Er wartete, bis das wandernde Licht auf das Gesicht viel. Es war Carmen Pritzkow.

Unwillkürlich verspürte Thomas Erleichterung.

„Du wolltest doch gar nicht kommen“, sagte er.

Sie konnte nichts verstehen neben den Boxen, sah ihn aber an. Mit dem Rücken am Ofen rutschte Thomas näher zu ihr. Jetzt war sein Kopf neben ihrem Kopf und die Band begann „Samba pa ti“ zu spielen. Carmen löste sich vom Ofen. Mag sein, dass sie seine Annäherung als Aufforderung zum Tanz verstand. Ihre Hand schwebte in der Luft, so dass man sie neben konnte oder sollte. Thomas nahm sie. Einen Meter vom Ofen entfernt standen sie nun umschlungen wie die anderen Pärchen.

Carmen trug keinen Büstenhalter unter der Bluse. Thomas fühlte den mageren Rücken. Seine Hände rutschten tiefer. Sie blieben ungefähr dort, wo die Jeans begann. Carmen entzog sich nicht. Thomas spürte ihre Haare am Hals und einmal auch ihre Lippen. Sie drückte sich an ihn, mit weichem Gewebe unter der Bluse und aufgeregten Spitzen. Was die Aufregung betraf: Er hatte das mal gelesen und wollte jetzt daran glauben. Das Gewebe wurde bestimmt noch mehr.

Die Band setzte ihr Stroboskop ein. Thomas vermutete, dass sie Wölfi damit betraut hatten. Lichtblitze zuckten über die Tanzfläche. Die Pärchen sahen aus wie zusammengewachsen. Obwohl das Stück einen schnellen Teil hatte, ging niemand auseinander. Die Musiker hätten endlos weiterspielen können. Sie sagten aber eine Pause an.

Carmen und Thomas standen wieder am Ofen. Er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt. Warum sollte er nicht deutlich machen, was los war. Allerdings durfte er nicht an die Meute denken, die womöglich draußen auf ihn wartete. Thomas beschloss, Carmen davon zu erzählen

„Sie haben auf mich gewartet draußen. Vor drei Wochen.“

„Wer denn?

“Jungs aus dem Dorf. Einer wollte sich prügeln. Die andern hatten ihn wohl vorgeschickt.“

„Idioten“, sagte Carmen. „Da hast du kaum eine Chance. Die werden Maurer oder Schlosser oder Schmied. Sind in der Woche im Zug. Am Wochenende dann ihr.“.

„Kann sein, dass sie heute wieder da sind. Im Saal habe ich ein paar gesehen.“

„Na und?“, sagte Carmen. „Wir gehen zusammen raus.“

Das war keine schlechte Idee. So machten das die meisten, wenn sie allein sein wollten.

„Sie werden dich ärgern“, sagte Thomas.

„Nein“, sagte Carmen. „Mich nicht und dich nicht. Ich werd‘ s ihnen gleich sagen: Wer Zoff machen will, fliegt nächste Woche aus dem Zug. Kann eine Woche laufen.“

Carmen redete mit großer Überzeugung

„Ich bin heute besser vorbereitet“, sagte Thomas.

„Das wird nicht viel nutzen“, erklärte Carmen. „Aber eines sage ich dir: Keiner von denen will laufen morgens. Da haben die noch einen schweren Kopf. Ist ja zum Lachen. Sollen sie nur kommen.“

Sie drehte sich zu Thomas, ohne den Arm abzuschütteln.

Ihr Gesicht war sehr nahe vor seinem. Thomas sah die verlaufene Schminke, eingerahmt von schwarzen Haaren. Wie eine Kinderzeichnung.

„Sollen sie nur kommen“, flüsterte Carmen.

 

 

 

   

71. Endspiel

 

Liepold schaute in die Richtung, aus der die Straßenbahn kommen musste. Trotzdem sah er die Frau nicht. Sie stand am Rand der Schienen, zwischen ihm und einer (wann auch immer) sich nähernden Bahn. Sein Blick ging durch die Frau hindurch oder strudelte an ihr vorbei. Erst, nachdem er aufgeschreckt wurde durch ein quietschendes Ladenrollo, sah er die Person. Die nackten Füße der Frau steckten in flachen Stoffschuhen. Sie schaute kurz an sich herunter.

Liepold ging zu ihr.

Es ist gefährlich, hier stehen zu bleiben, sagte er.

Wo willst du hin? fragte die Frau.

Liepold war Jugendrichter. Er ließ die Frage zu.

Ich werde eine Partie Schach spielen, sagte er. Für meinen Verein. Gegen jemanden aus einem anderen Verein.

Cool, sagte die Frau. Wahrscheinlich ist heute Sonntag.

Sonntagmorgen.

Ich war lange im Klub. Seit Freitag. Nicht geschlafen. Warum auch. Schach?

Ja.

Kann ich mitkommen? Ich schlafe mit offenen Augen. Dort ist es leise, nicht wahr?

Absolut, sagte Liepold. Wer sein Telefon klingeln lässt, wird disqualifiziert.

Endlich Ruhe, sagte die Frau..

Liepold zog an ihr, als die Straßenbahn kam. Sie hätte sich von allein nicht bewegt. Im Wagen fiel sie auf eine freie Sitzbank. Liepold setzte sich gegenüber und betrachtete sie. Kurz und unauffällig, wie eine neu aufgerufene Zeugin.

Ihr Outfit war passend für einem warmen Tag. Viele Taschen und viel freie Haut. Sie brauchte keine Handtasche mitschleppen für Geld oder Make-up. Sie könnte sogar dealen. In den Klamotten ließen sich ein paar Pillen auch noch unterbringen.

 

Die Bahn hielt vor einer Villa, die sich der Schachverein mit einem Seniorentreff teilte. Bei einem Wettkampf wurden acht Tische für die Schachbretter benötigt. Die restlichen vier standen als Quadrat in einer hinteren Ecke des Raumes. Liepold stellte seine Begleiterin beiläufig vor: Eine Bekannte. Sie interessiert sich für das Spiel. Leise fragte er: Wie heißt du?

Lilo. Nach meiner Oma, die hieß Lieselotte.

Lilo setzte sich im Schneidersitz auf die leeren Tische. Sie verschränkte die Arme. Die Partien begannen und im Raum wurde nicht mehr gesprochen.  Lilo saß auf ihren Tischen wie eine Statue.

Liepold machte seine Züge und dachte daran, dass er Mitglied des Schachvereins geworden war, weil er gelegentlich mit Kollegen reden wollte.  Am heutigen Tag musste die Mannschaft gewinnen, um ihre Spielklasse zu halten. Die Juristen waren nicht frei von Eitelkeit. Nach dem Ende der anderen Partien stellte sich heraus, dass Liepold den Matchpunkt holen musste. Seine Kollegen waren rausgegangen. Rauchten Zigarren und handelten Vergleiche aus. Obwohl sie den Spieltisch nicht umlagerten, spürte Liepold den Druck. Es war ein Gruppendruck, den der Jugendrichter Liepold in seinem Gerichtssaal oft als Motiv für Straftaten unterstellte. Nun war er in eine ähnliche Lage geraten. Er fühlte sich überfordert von der doppelten Aufgabe, sich selbst und die Mannschaft zu retten. Die Augen und das Gehirn arbeiteten nicht mehr richtig zusammen. Auf dem Brett befanden sich nur noch wenige Figuren. Trotzdem bestand die Gefahr eines groben Fehlers infolge eines Phänomens, das die Spieler „Schachblindheit“ nannten. Diese Blindheit meinte das Übersehen ganz offensichtlicher Gefahren. So, wie Liepold am Morgen die Frau an den Gleisen übersehen hatte. Er erhob sich, wanderte zwischen den verwaisten Tischen umher und blieb neben Lilo stehen. Lilo ließ den rechten Arm hängen. Die Hand befand sich direkt über der linken Hand des Jugendrichters. Sie öffneten die Hände gleichzeitig. Liepold spürte zwei trockene Kugeln in der Handfläche und ging zur Toilette.

Als er wieder am Brett saß, dachte er nicht mehr an die Schachblindheit. Seine Züge erschienen ihm folgerichtig. Die Wirkung von Speed kannte er bis dahin nur aus Beschreibungen vor Gericht. Früher hatte man das Zeug Soldaten gegeben, damit sie angstfrei blieben. Die Auffassung, dass es für Schach kein geeignetes Doping gab, entsprach nicht der Wahrheit.

Ich sollte das gelegentlich korrigieren, dachte Liepold. Mit einem Aufsatz im Juristischen Fachblatt. Vermutlich wussten die ehrgeizigen Jugendspieler es ohnehin.

So entschied sich das Spiel. Der Gegner reichte Liepold die Hand. Die Mannschaftskameraden gratulierten.

Liepold fuhr mit Lilo zurück und brachte sie bis zu ihrer Wohnung. Sie würde in den nächsten zwei Tagen überwiegend schlafen und dann auf das Wochenende warten. Unter Umständen kamen vorher Kunden vorbei. Leute, die nicht schlafen wollten. Das hatte Lilo auf dem Rückweg erzählt.

Liepold fand, dass ihm Lilo eine große Hilfe war. Er hatte sich bei seinen Schachfreunden enorme Reputation erworben. Das waren Kollegen. Gestandene Juristen, denen das Recht über alles ging.

 

 

 

 

72. Umzug

 

Was man eigentlich nicht macht: Alkohol am Vormittag. Ich sehe vom Balkon, dass Tuncay Bänke vor seinen Laden stellt. Ich spüle mir das Gesicht ab. Geld brauche ich keines, solange ich nur zu Tuncay will. Gelegentlich rechnen wir ab. Tuncay nennt eine Summe. Ich mache ein zweifelndes Gesicht. Wir werden uns irgendwie einig.

Unten nehme ich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Die erste Flasche ist Medizin gegen den würgenden Husten. Die Hand wird ruhiger. Mit der Zeitung von gestern setze ich mich in die Sonne. Das Kreuzworträtsel ist nur halb ausgefüllt. Zur Mittagzeit erscheint Bruno. Er kommt aus einem Büro auf der anderen Straßenseite. Ein kleines Fläschchen Kräuterlikör will er sich holen, und dann stellt er zwei auf den Tisch. Er hat sein schlechtes Gewissen halbiert und tippt auf das Rätsel. Ich schaffe nie ein ganzes in der Mittagspause, sagt er.

Ein Bier trinkt Bruno noch. Das muss reichen bis zum Feierabend. Ich gebe ihm Pfefferminzpastillen. Bruno geht schräg über die Straße. Er bewertet städtische Immobilien. Villen mit Türmen und einer Skulptur im Garten. Die Leute in seinem Büro warten ab, bis er in den Ruhestand geht. Das ist ehrlich.

Manchmal schaut mich ein Fußgänger flüchtig an. Der Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht. Das schwankt zwischen Verachtung und Neid. Tuncay steht in der Tür und turnt. Feldaufschwung an einem Holm, der oben befestigt ist. Eine Pose für verlaufene Mädchen. Zum Laden gehört noch ein kleines Hinterzimmer. Die Familie ist woanders.

 

Zicke kommt von der Baustelle. Er hat ein längliches Gesicht mit großen Augen. Der dünne Bart flattert beim leisesten Windhauch. Durch den hellen Staub auf den Händen schimmern dunkel die Fingernägel. Er legt ein Tabakpäckchen auf den Tisch. Die Mörtelspuren auf der Hose sind echt. Mittlerweile kann man Sachen kaufen, die aussehen wie dreckige Arbeitsklamotten. Ortwin kommt damit an. Er schleppt in der rechten Beintasche Zollstock, Schraubenzieher und –schlüssel mit sich herum.  Einmal hat er Fliesen verlegt im Laden. Die Fliesen hielten nicht lange, weil alle zu früh darauf herum trampelten.

Im Moment trampelt Renate. Sie sucht Anton, der manchmal bei ihr wohnt. Seit dem frühen Morgen sucht sie ihn und ist betrunken. Eine andere Frau ist verantwortlich für Antons Wegbleiben. Diese Schlampe, schreit Renate. Tuncay will Zicke und Renate überreden, mit ihm Darts zu spielen. Ich habe weiter gemacht mit dem Kreuzworträtsel. Es fehlen noch zwei Buchstaben. Was will dieses Miststück von ihm, schreit Renate. Sie weiß nicht, wie sie den Pfeil anfassen soll. Sie schmeißt ihn quer an die Wand.

Zwei beliebige Buchstaben würden das Rätsel komplettieren. Ausgerechnet hier sträubt sich etwas in mir gegen die Schummelei. Ich will erst Bruno fragen. Alle halbe Stunde bin ich am Kühlschrank. Tuncay ist sehr geduldig mit Renate. Früher hat er Döner verkauft. Er begriff schnell, dass es leichter ist, zwei Dutzend regelmäßiger Gäste mit billigem Flaschenbier zu versorgen. Es ist eine Marke, die den Ruf hat, von denen getrunken zu werden, die das tatsächlich tun.

Regen fällt. Wasser bedeutet Reinigung. Schließlich holt mich Tuncay rein. Am nächsten Tisch sitzt Ortwin. Er spricht zu mir.

Wenn du jemanden kennst, der was zu tun hat. . .

Das trifft mich wie ein Schlag. Ortwin hat den Finger auf eine hässliche Wunde gelegt. Natürlich gibt es etwas zu tun. Für mich auf jeden Fall. Ich muss einen Umzug organisieren. Die Geschichte ist etwas umständlich. Ortwin spielt mit dem Zollstock.

Wann soll das sein?

Morgen.

Der Zollstock schlägt gegen die Bierflasche. Kling-Klong. Eine stockende Melodie.

Ich hätte ja Zeit, sagt Ortwin.

Wo können wir einen Wagen herbekommen?

Das weiß Ortwin auch nicht.  Er spielt eine Runde Darts mit Tuncay und Zicke. Dabei redet er. Das gehört zur Konzentration. Vom Bier inspirierte Logorrhoe. Danach kommt Zicke an den Tisch und ich erzähle die Geschichte noch einmal.

So kann das auch nicht weitergehen, sagt Zicke. Ihr würdet euch umbringen.

Damit meint er mich und den Vermieter des Balkonzimmers, in dem ich wohne. Eine Abmachung, die durch gegenseitige Fehleinschätzungen zustande kam. Ich höre in Zickes Worten so etwas wie Anteilnahme. Mein Vermieter ist ein Steinbildhauer mit schwacher Aggressionshemmung. Er neigt dazu, die Leute vom Bau für dämlich zu halten. Das kommt nicht gut an hier unten.

Morgen ist Sonnabend. Ich kann dir helfen. Den Transporter könnte man mieten. Aber zeig mir einen, der noch seine Fahrerlaubnis hat.

Sterne-Micha, ruft Tuncay.

Sterne-Micha ist Astronom. Momentan freischaffend, könnte man sagen.

Kommt der heute noch, frage ich.

Ganz spät, sagt Tuncay. Wenn dunkel, wird er wach.

Woher weißt du, dass er fahren kann?

Er hat mal ein Mädchen von mir nach Hause gebracht.

Wie kam denn das zustande?

Es war noch ein anderes Mädchen da.

Diese Schlampe, schreit Renate.

Ich überschlage meine Finanzen. Es reicht für die Miete des Transporters. Ortwin und Zicke entwickeln einen Plan. Vorausgesetzt, Sterne-Micha holt morgen früh den Wagen ab.

Sie haben alle schon Umzüge gemacht. Ich nicht. Mein Zeug passt in einen Koffer und eine Reisetasche. Wir müssen eine Wohnung ausräumen. Den Kohlenkeller auch. Das Zeug auf zwei Wohnungen verteilen. Von einer habe ich die Schlüssel und klappere damit rum

Es kommen noch Stammgäste. Der lange Ludwig stößt nit dem Kopf gegen die Turnstange. Er war einmal ein bedeutender Basketballspieler. Der dünnste von allen ist Albrecht, ein Faden, der sich hinter Ludwig wie ein Spermium durch die feindliche Umgebung schlängelt. Er fühlt sich so traurig, wie er aussieht. Von Eckhard weiß ich, dass er tagsüber mit einer Motorsäge die Landschaft vereinfacht. Sollte er seine Ohrenschützer abnehmen, muss ich ihn fragen, ob er morgen einen Stapel Holzkloben zersägen kann. Das ist mir noch eingefallen. Ich überlege, ob das alles war. Mein Teil der Abmachung.

 

Bei manchen Menschen sammeln sich Wohnungen an. Friederike war eine frühe Liebe von mir. Sie verwaltet eine Wohnung aus ledigen Zeiten, die Wohnung ihrer gestorbenen Eltern und eine Eigentumswohnung. Der Mann ist ausgezogen. Sie bezahlt Mieten und Raten und weiß immer noch nicht, wohin mit dem Geld. Deswegen rief sie mich an. Ich soll ein Konto eröffnen, damit sie an der Börse zocken kann. Dafür gibt es eine Wohnung. Nach dem Umzug.

Die Freundin vom langen Ludwig taucht auf und setzt sich zu Renate. Die beiden hecken irgendwas aus. Renate wird ruhiger oder ist auf Grund des gestiegenen Geräuschpegels nicht mehr zu hören. Irgendwann kommt sie rüber und umarmt mich.

Du bist nicht so ein Mistkerl, sagt sie und schluchzt. Wir machen morgen Frühstück in Evelyns Hof. Bevor es losgeht mit deinem Umzug.

Mein Hals ist nass von Renates Tränen. Ludwig geht zu Evelyn und nimmt ihre Hand. Ortwin klopft mit dem Zollstock.

Was für ein Frühstück?

Evelyn geht Brötchen holen, sagt Renate sehr langsam.

Ortwin murmelt: Hoffentlich.

Ich denke das auch, soweit es die übrigen betrifft.

 

Als Sterne-Micha auftaucht, wundert er sich, dass man hier seinen nächsten Tag verplant hat. Er geht mit seinem Bier vor die Tür und schaut nach oben. Das ist eine Berufskrankheit, denken die meisten. Tatsächlich starren Astronomen auf das Display eines Computers wie andere auch. Wirklich in die Sterne gucken kann man nur hier. Das hat Sterne-Micha herausgefunden.

Jetzt rede ich mit ihm. Er hat die Zumutung bereits durchschaut.

Morgen früh? Wach und halbwegs nüchtern?

Ich nicke ernst und versuche, Hoffnung in meinen Blick zu legen.

Wie lange wohnst du schon da oben?

Fast zwei Jahre, sage ich.

Mit dem Verrückten?

Ja.

Gestern hat er sich mit Eckhard geprügelt.

Da war ich nicht da, sage ich. Worum ging es denn?

Der Verrückte hatte nicht geschnallt, dass Eckhard ohne Ohrenschützer dasaß.

Wir schauen zusammen in die Sterne. Nach einer Weile werde ich philosophisch und sage: Ich habe bestimmt viele Fehler gemacht im Leben. Der Verrückte war meine Bestrafung. Aber jetzt ist die Zeit um, glaube ich.

Ein Auto fährt vorbei und das Regenwasser spritzt von der Straße herüber.

Da oben explodiert eine Super-Nova, erklärt Sterne-Micha. Hast du Geld für die Automiete?

Muss ich holen.

Dann mach das.

Unterwegs treffe ich Bruno.

Zwei Buchstaben fehlen, erkläre ich ihm. Trag die bitte noch ein.

 

Sie kommen alle aus ihren Löchern. Ich kann es nicht fassen. An diesem unausgeschlafenen Morgen stolpert einer nach dem anderen in den Hinterhof. Evelyn hat ihre Wohnung im Seitenflügel und läuft mit einem Tablett hin und her. Ich frage jeden, ob er ein Bier braucht, aber allen scheint es besser zu gehen als mir. Ich trinke aus einer PET-Flasche mit Schraubverschluss und hoffe, dass die Übelkeit nachlässt. Tauben sitzen auf einer Steinmauer. Der Baum im Hof hat feuchte Blätter, mit denen ich mir die Stirn abwische.

Friederike, die uns in der ersten Wohnung erwartet, hat jetzt irgendeinen Dienstgrad bei der Polizei. Als Psychologin. Sie ist es gewohnt, Männer herumzukommandieren. Das macht sie mit einer leisen, herablassenden Stimme. Diese Art zu reden muss sie sich bei der Betreuung ihrer jüngeren Brüder angewöhnt haben. Immer leise, das ist ein gemeiner Trick. Sie flüstert sich durchs Leben und man glaubt ständig, dass man etwas Wichtiges überhört. Ich weiß nicht, ob das auf unsere Vereinbarung zutrifft. Sie wird mich darauf aufmerksam machen, mit einem ekligen „Das habe ich dir doch gesagt“ am Ende.

Tuncay schickt seinen halbwüchsigen Sohn Tolgar, der gelegentlich im Laden aushilft. Tolgar hat leichtes Übergewicht und soll sich bewegen. Evelyn sucht Wurst ohne Schweinefleisch. Ab und zu hören wir Renates Schluchzen. Sie macht aber die Brötchen und legt überall noch was drauf, Tomate oder Zwiebel oder Petersilie. Die große Kaffeekanne steht auf einem wackligen Gartentisch. Sterne-Micha ist im Wagen geblieben, um noch eine halbe Stunde zu schlafen.

„Zeig nochmal die Schlüssel“, sagt der lange Ludwig.

Ich hole das Schlüsselbund aus der Hosentasche und schwenke es in der Luft.

Sie trommeln und klatschen. Albrecht, blass und krank und Eckhard mit der Motorsäge. Ortwin, Zicke und Tolgar. Ein merkwürdiger Sieg ist das. Wir gehen vor zur Straße und wecken Sterne-Micha.

 

Ich erkläre ihm den Weg. Die Jungs sitzen hinten auf der mit Plane überspannten Ladefläche und rutschen schimpfend über den glatten Boden, wenn Sterne-Micha scharf einschlägt. Er wird munter dabei. Hinten kann auch keiner schlafen. Wir erreichen die erste Wohnung und ich versuche, den Trupp auf Friederike vorzubereiten. „Psychologin“ und „Polizei“ sind hier zwei ausgesprochene Reizwörter, die ich vermeide. Also: Sie ist merkwürdig und wenn sie jemanden beschimpft, dann meint sie ihren Ex-Mann. Sie ist nicht in der Lage, irgendetwas laut zu sagen. Es kann losgehen.

Ich staune, wie gut der lange Ludwig, Eckhard, Zicke und Ortwin mit den schweren Schränken im schmalen Treppenhaus klarkommen.

Schöne Einrichtung, sagt der lange Ludwig. Außerdem hat deine Prinzessin „Blödmann“ zu mir gesagt, als ich mit dem Kopf gegen einen Türrahmen geknallt bin.

Ich gehe hoch zu Friederike, die anderen machen Rauchpause.

Lass die Jungs in Ruhe, sage ich zu Friederike. Wenn du jemanden beschimpfen willst, dann nimm mich.

Sie sagt nichts. Sie wechselt ihr T-Shirt. Einen BH hat sie niemals getragen. Das ist auch eine Art, so zu tun, als ob ich gar nicht vorhanden bin. Eine beschissene Provokation. Sie beginnt, irgendwelche Papiere zu ordnen. Ich gehe wieder runter.

Eckhart muss in den Keller, um die Holzkloben zu zersägen.

Tolgar versucht, einen Witz zu erzählen.

Also: Mohamed will in Afghanistan ein Sex-Hotel eröffnen. Nein, das ging anders.

Denk an Salman Rushdie, warnt Sterne-Micha.

Ich mach nachher weiter, sagt Tolgar.

Wir müssen uns aufteilen, sage ich.

Das haben wir besprochen, erklärt Zicke. Tolgar bleibt hier und hilft Eckhard. Die anderen fahren zur Wohnung und laden ab, was hoch soll. Albrecht, der Lange, Ortwin und ich bleiben da. Du fährst mit Sterne-Micha zurück. Dann seid ihr auch zu viert und kümmert euch um die Kohlen und das Holz und was sonst noch woanders hin soll. Danach kommt ihr rüber und holt uns ab.

Ich überschlage die Zeit.  Aus dem Keller dröhnt Eckhards Motorsäge. Irgendein Nachbar reißt das Fenster auf und beschwert sich. Ich zeige mit dem Finger nach oben.

Wenden Sie sich an die Mieterin!

Ich gönne Friederike den Zank von Herzen. Bis der Nachbar alles verstanden hat, was sie flüstert, ist Eckhard unten fertig.

Ich greife nach meiner PET-Flasche. Sterne Micha hat Wasser im Fahrerhaus. Sie trinken alle nur Wasser.

Ich staune, sage ich zu Sterne-Micha.

Er startet den Wagen.

Worüber?

Sie scheinen klar zu kommen. Keiner auf Entzug, oder?

Nicht so schlimm wie du, sagt Sterne-Micha. Die anderen werden sich wundern, dass du überhaupt mitmachst.

So rum hatte ich das noch nicht betrachtet. Alle kümmern sich. Warum? Es ist wohl eine Instinkthandlung. Sie lassen mich nicht aus dem Nest fallen.

Sterne-Micha muss bremsen. Es poltert auf der Ladefläche.

Albrecht jammert.

Sind die Möbel heil geblieben? ruft Sterne-Micha nach hinten.

Ich bin querschnittsgelähmt, schreit Albrecht.

Dann sei froh, dass du nicht laufen musst!

Sterne-Micha grinst. Er hat sich an die Helligkeit gewöhnt. Wir fahren hinter einen Wohnblock und suchen die Hausnummer. Eine Frau lehnt aus einem Fenster im dritten Stock.

Wollen sie hier einziehen?

Ja, sage ich. 38 c.

Das ist unter mir.

Mir ist klar, dass ihr kaum etwas entgehen wird. Also sage ich zu der Frau:

Es ist schön, aufmerksame Nachbarn zu haben.

Es passiert ja so viel.

Sie hat Recht. Albrecht humpelt mit einer Stehlampe auf dem Rasen umher.

Stell hin, sagt Ortwin. Alles vom Wagen erst mal.

Ich gehe nach oben und schließe die Wohnung auf. Drei Minuten allein in meiner neuen Bleibe. Zwei Zimmer, Küche, Bad. In meinem ganzen Leben habe ich nicht so komfortabel logiert. Fußboden und Wände werden mich bis auf Weiteres an Friederike erinnern. Das ist nicht so irritierend wie ihre nackten Möpse vorhin. Viel Platz ist da. Mehr, als man für einen Koffer und eine Reisetasche braucht.

Ich fahre mit Sterne-Micha zurück. Wir schmeißen die gebündelte Kohle und das Holz auf den Wagen. Der Keller ist noch halbvoll mit Krempel. Friederike sagt: Das Zeug muss zum Müllhof.

Das ist mir neu, erkläre ich.

Ich habe es dir aber gesagt, flüstert Friederike.

Dann gleich, sagt Sterne Micha. Heute ist Sonnabend. Die haben nicht ewig auf.

Jetzt weiß ich es! Tolgar holt tief Luft.

Irgendwer, also ganz egal wer, macht in Afghanistan ein Sex-Hotel auf. Jetzt will er Werbung machen und stellt ein Schild.

Sterne-Micha unterbricht ihn. Wir müssen uns beeilen. Das Gerümpel auf den Wagen.

Zuerst müssen die Kohlen weg, fordert Friederike sehr leise. Ich bringe euch zur Adresse. Danach habe ich Termine.

Ach so. Sterne-Micha spricht jetzt auch sehr leise, langsam und deutlich. Er geht sogar in die Knie, um mit Friederike auf Augenhöhe zu sein.

Das Gerümpel soll ich dann bei der Autovermietung abgeben, oder?

In Afghanistan, sagt Tolgar, meint aber etwas anderes.

Ich muss telefonieren. Friederike verschwindet.

Wir sehen zu, dass wir mit dem Zeug zum Müllhof kommen.

 

Die ist doch gar nicht so übel, sagt Sterne-Micha auf dem Rückweg.

Wer?

Diese Friederike. Man muss ihr tief in die Augen sehen. Die Stimme. . . Das sind Radiowellen, verstehst du? Die kommen von ganz weit weg.

Du spinnst.

Er fährt mit einem verklärten Lächeln und ich frage mich, was ich damals übersehen habe.  Ab irgendeinem Punkt ist Friederike in ihrem Kleinwagen vor uns.

Sterne-Micha freut sich.

Das klappt wie vereinbart.

Wann habt ihr was vereinbart?

Du musst nicht alles wissen.

Das stimmt. Wir halten vor irgendeiner Kellertreppe und schleppen die Kohlen wieder runter. Unsere T-Shirts sind dreckig und nass und ich nehme eine Wasserflasche aus dem Auto und kippe mir das Zeug über den Kopf. Für das Holz gibt es geflochtene Körbe. Müssen tolle Leute sein. Kommt noch etwas? Eckhart nimmt seinen Gehörschutz ab. Jetzt hat er weiße Ohren und ein schwarzes Gesicht. Zu viert fahren wir zu meiner Wohnung.

 

Albrecht macht eine Führung. Extra für mich. Zicke und Ortwin sitzen in blauen Ledersesseln. Der lange Ludwig liegt schräg auf dem Sofa. Mit einer Fernbedienung schaltet er die Fernsehprogramme durch. Von der Decke pendelt eine Lampe. Sie brennt.

Kannst du dimmen, erklärt Albrecht. Ludwig hat überall die Lampen angeschlossen. Zu dem Schrank hier haben wir einen Schlüssel gefunden. Komm mal mit.

Im Nebenzimmer steht ein flaches Bett. Vor den Fenstern ist ein Arbeitsplatz eingerichtet. Computer und Drucker. Ein Karton daneben mit weißem Papier.

Ist nicht neu.

Als ob Albrecht sich entschuldigen will.

Ich hab den Rechner zum Laufen gebracht. Kannste alles mit machen.

Das war auf dem Wagen?

Wo denn sonst. Sie wird schon was Besseres haben.

Davon bin ich überzeugt.

In der Küche steht eine Anrichte aus braunem Holz. Über dem Waschbecken im Bad hängt ein Spiegelschrank. Es scheint mir unbegreiflich, diese Dinge zu besitzen.

Bist du zufrieden, fragt Ortwin.

Ihr könnt euch das nicht vorstellen. Fahren wir zu Tuncay.

Ein dreckiger Haufen, den Tag in den Knochen. Es gab nie einen besseren Grund zum Feiern. Außer für Renate, die mit Anton am Tresen sitzt. Nur Sterne-Micha muss gleich weiter. Den Wagen abgeben. Dann hat er noch eine Verabredung.

Ab ins Bett mit Mohamed, sagt Tolgar.

Ich frage nicht nach. Auf dem Tisch liegt eine aufgeschlagene Zeitung. Bruno war da, auch am Sonnabend. Trotzdem hat er mir das halbe Rätsel übrig gelassen.