Unpassende Rezitationen: Episode Eins

 

 

Die kleine Bar lag an der Strandpromenade. Sie gehörte zu irgendeinem Hotel. Ich saß am Klavier. Auf dem Klavier stand ein alter Leuchter. Es war der Abend eines Tages, an dessen Morgen ich aus verschiedenen Gründen eine Flasche zähflüssigen Likörs getrunken hatte. Danach war ich lange Zug gefahren. In der Bar saßen sechs oder sieben Gäste. Ein Hotelmanager redete mit dem Barkeeper. Ich hatte zwei Stücke gespielt. Draußen wurde es dunkel.

„Ich möchte mich vorstellen“, sagte ich zu den Gästen. „Das geht am besten mit einem Gedicht, das ich geschrieben habe.“

Der Hotelmanager sah herüber. Ich holte einen zusammengefalteten Zettel aus der Sakkotasche

 

Der Pianist, begann ich.

 

Ich spiele Rumben, Chachen, Walzen und Tangoten

für Dicke, Dünne, Schlaue und Idioten.

Ich spiele langsam, schnell und ab und zu verkehrt,

was keinen stört,

weil‘s keiner hört.

 

Mein Repertoire ist fabulös wie Äsops Tante.

Egal, ich habe gar nichts gegen Verwandte.

Liegt ihre Großmama dereinst im letzten Koma:

Ich komm sofort und spiel „Arrividerci Oma“

 

Ich spiele Samben, Bossen, Bluesen und Foxtroten

für Arme, Reiche, Scheiche und Chaoten.

Da wo ich bin, verkehrt man manches Mal verkehrt,

was keinen stört,

weil’s keiner hört.

 

Ich spiele alles und bin schwer zu überbieten.

Ich spiele Hindemith für blinde Transvestiten.

Ich spiele Bartok, Boogie-Woogie, auch wenn’s roh ist.

Man spricht mich an: Denn ich weiß, wo das Klo ist.

 

Ich spiele Märsche, Polken, Ronden, Menuette.

Ich bin der Mann, den jeder Showpalast gern hätte.

Ich spiele Dixieland und neue deutsche Schlager,

Ich habe Korsakoff und Gangsta-Rap auf Lager.

 

Bin ich betrunken, spiel ich Clyderman.

Das war es dann,

das, was ich kann.

 

Der Barkeeper kam herüber und zündete mit einem Feuerzeug die Kerzen des Leuchters an.

„Du sollst dieses Lied noch spielen. Clyderman. Dann kannst du gehen. Hat der Manager gesagt. Das Fahrgeld bekommst du von mir.“

 

Ich ging hinunter zum Strand. Ein unbekleideter Mann stand bis zu den Knien im Wasser und blies auf einer Trompete Wonderland by night. Es war völlig dunkel geworden. Der Trompetenkoffer und die Klamotten lagen im Sand. Ich passte auf das Zeug auf, bis der nackte Trompeter zurückkam. Danach ging ich zum Bahnhof.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Gerd F. (Montag, 09 Januar 2023 19:44)

    Sehr schöner Text, formal wie inhaltlich und flapsig und realistisch.
    Hättest Du's gesungen, wärst Du nicht rausgeflogen, denn niemand hätte zugehört.
    Der Clyder... pur Anilin ... Also warst Du auch damals im Zenner besoffen und hast seitdem den Programmpunkt beibehalten? Etwas Stabiles steckt in jedem.
    Viele Grüße,
    GF