Die Klavierlehrerin

 

Wir stehen hinter dem Vorhang. Unten läuft die Moderation. Ich trage einen schwarzen Smoking. Die Regieassistentin war erleichtert. Der dunkle Stoff bereitet den Kameras keine Probleme. Neben mir zupft Gabriel an seinem Kleid. Unter dem Kleid trägt er einen Bodysuit, der ihm die weibliche Figur verleiht. Das Kleid ist von Hand geschneidert. Gabriel ist schwul, aber er hat die Schneiderin geschwängert vor lauter Begeisterung. Er wollte aussehen wie eine Klavierlehrerin.

Bei seinen Auftritten verwandelt sich Gabriel mal in diese und mal in jene Frau. Ich schrieb das Lied, das Gabriel wünschte. Es braucht kein großes Orchester zur Begleitung. Nur Bass, Schlagzeug, Gitarre und natürlich das Klavier. Deswegen stehe ich jetzt neben ihm. Der Pianist des Orchesters wird mir gleich seinen Platz überlassen. Der Klavierpart ist nicht auskomponiert. An einigen Stellen soll das Piano stümperhaft klingen und an anderen virtuos. Ich hatte nicht geglaubt, das jemals in einer Fernsehshow demonstrieren zu müssen.

Gestern bei der Generalprobe stellte ich Gabriel an diesem Punkt eine Frage. Er reagierte nicht darauf. Der Vorhang öffnete sich und wir gingen nebeneinander die Treppe hinunter. Das erfordert eine gewisse Aufmerksamkeit, die der Zuschauer nicht ahnt. Unten trennten wir uns. Gabriel ging einige Schritte nach links. Dort stand sein Mikrofon. Ich ging nach rechts, nickte den Kollegen vom Orchester zu und setzte mich an den Flügel. Am Anfang war das Piano solo, sechzehn Takte Einleitung a la Mozart. Über meiner Schulter filmte die Kamera die Hände.

Gabriel braucht Sicherheit am Anfang. Ich schaue zu ihm hinüber. Sein Kleid ist hoch geschlossen, ein samtiges Blau mit Rüschen und Besätzen. So sahen Frauen auf Photographien von 1890 aus. Die Perücke wirkt natürlich, die Schminke ist professionell. In der Maske hatten sie viel Freude an ihm.

So war die Generalprobe. Jetzt sind wir live auf dem Sender, es ist Sonnabend, 22:25 h. Der Vorhang beginnt, sich zu bewegen. Gabriel schaut kurz zu mir, es ist, als ob er sich an die Frage von gestern erinnert. Er hakt sich bei mir ein. Auf diese nicht geübte Weise schreiten wir die Treppe hinunter. Meine Mutter sagt später, dass wir ein schönes Paar gewesen wären. Ich spiele Klavier. Madame Gabrielle beginnt zu singen:

 

Ich bin die Dame, die Piano unterrichtet

und meine Schüler sind begabte junge Herrn.

Ob wer Talent hat, hab ich schnell gesichtet,

und wenn er’s hat, dann nehme ich ihn gern.

 

Das komplette Lied könnt ihr bei Videos/Audio hören.

 

Gesang: Raimund Woschnik.

 

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